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Transit

Interpretation

Beim Roman »Transit« handelt es sich um ein vielschichtiges Werk, denn über die dargestellte Liebesgeschichte hinaus hat Anna Seghers eine beeindruckende gesellschaftspolitische Studie über die Zeit von Flucht und Emigration während des Zweiten Weltkriegs entworfen. So lässt der Roman auch verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu.

Erzählen als Therapie und Überlebensstrategie

Auf der Motivation des Ich-Erzählers, seine Geschichte erzählen zu müssen, beruht die Entstehung des Romans »Transit«, in der er als Hauptprotagonist fungiert. Das Erzählen kann hier als therapeutische Maßnahme verstanden werden, denn er möchte sich endlich von dem Erlebten befreien (S. 7). Der Tatsache, dass ausgerechnet er dann in den Besitz eines unvollendeten Romans des Schriftstellers Weidel kommt, haftet eine gewisse Ironie an. Denn der Ich-Erzähler betont, dass er mit Büchern und dem Lesen noch nie viel zu tun hatte (S. 27).  Er hat einen »alten Unwillen« aus der »Knabenzeit gegen Bücher« (S. 117), doch er vertieft sich in dieses Manuskript und erkennt sich sogar darin wieder: »Ich fand auch, dass einer darunter mir selbst glich.« (S. 27) 

Anzunehmen ist, dass er durch das Erzählen seiner Geschichte nun diesen unvollendeten Roman Weidels zu Ende bringt. Denn der Ich-Erzähler äußert, nachdem er den Erlebnissen des Legionärs zugehört hat, den Gedanken: »Ich wusste, dass er erst jetzt, in dieser Minute, an diesem Tisch, sein vergangenes Leben abschloss. Denn abgeschlossen ist, was erzählt wird.« (S. 230) So verarbeitet er auch selbst durch das Erzählen seine Geschichte und vollendet damit den Roman. 

Die mündliche Erzählung ist dabei für den Hauptprotagonisten ebenso wie eine literarische Verarbeitung des Erlebten eine legitime Ausdrucksform: »Wenn etwas erfunden werden musste, wenn dieses zusammengeschusterte Leben gar zu dürftig war, dann wollte ich selbst der Erfinder sein, doch nicht auf Papier.« (S. 117) So sind in diesem Sinne auch die Geschichten der Exilsuchenden, die von ihm wiedergegeben werden, unmittelbar und authentisch. 

Aus der Position ihres Ich-Erzählers heraus bezieht Anna Seghers Stellung gegen die Künstlergruppe um Strobel, die von ihm als arrogant und überheblich empfunden wird. Sie betrachten das Geschehen schon im Vorhinein nur unter dem Aspekt, wie sie es am besten literarisch verwerten können, während der Ich-Erzähler erst im Prozess des Erzählens das Erlebte verarbeitet. Hier spiegelt sich die kritische Haltung der Autorin in der Expressionismusdebatte wider. 

In der Szene auf dem amerikanischen Konsulat spitzt sich dieser Gegensatz noch einmal zu, denn der Ich-Erzähler alias Weidel berichtet, dass er in Zukunft nicht mehr schreiben möchte, sondern lieber ein Handwerk ausübt. Seine Kritik an den schriftstellerisch Tätigen äußert er lautstark: »Und all diese Schreibenden, die mit mir in einem Lager steckten, die mit mir flohen, für die sind plötzlich die furchtbarsten und die seltsamsten Strecken unseres Lebens bloß durchlebt, um darüber zu schreiben: das Lager, der Krieg, die Flucht.« (S.256)

Diese negative Haltung ändert sich jedoch im Verlauf der Geschichte, indem der Ich-Erzähler wahrnimmt, dass unter den Schriftstellerinnen und Schriftstellern unterschiedliche Positionen bestehen. Die Figur Weidel, die im Kreis der Literaturschaffenden kein hohes Ansehen genießt, weil er eben deren Position nicht teilt, wird von der Autorin als Außenseiter beschrieben. Der Schriftsteller hat eine eigene Art des Erzählens entwickelt, was ihm nicht viel Ruhm bei Seinesgleichen einbringt (S. 76). Der Ich-Erzähler schätzt jedoch sein Werk, denn er »hat seine Kunst verstanden« (S. 26). Schlussendlich erkennt er sogar, dass bei Weidel der Akt des Schreibens, »ein paar Zeilen in einem Anfall von Eingreifenmüssen« (S. 225) als Widerstand gegen das NS-Regime zu werten ist, der hohen Respekt verdient: Er hat mit seinen »kleinen, manchmal ein wenig verrückten Geschichten« (S. 295) etwas für das Volk getan. Es kann angenommen werden, dass die Autorin ihr persönliches Verständnis zur literarischen Produktion in die Figur Weidel ein Stück weit hineingelegt hat, denn sie sah als Kommunistin ihr literarisches Schaffen auch als politische Aufgabe, Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. Jedoch ließ sie sich dabei ihre »eigene« Erzähltechnik von einer marxistischen Doktrin nicht vorschreiben.

Transit als Übergang vom Leben zum Tod

Im religiösen Sinne bedeutet Transit das Vorübergehende, denn für jeden Menschen führt das Leben von Geburt an unweigerlich zum Tod. So sind für den Ich-Erzähler die Exilsuchenden transitäre Existenzen, die schon vom Tode gezeichnet sind, denn sie sind gezwungen, mit einem Schiff in ein fremdes Land überzusetzen. Eine Schiffsüberfahrt ins Unbekannte hinein ist für ihn jedoch anfänglich unvorstellbar, fast gleichbedeutend mit dem Tod, denn niemand weiß, was in einem fremden Land auf sie wartet: »Sie mochten sich noch so lebendig stellen mit ihren verwegenen Plänen, mit ihren bunten Drapierungen, mit ihren Visa auf seltsame Länder, mit ihren Transitstempeln. Mich konnte nichts täuschen über die Art ihrer Überfahrt.« (S. 120 f.)

Aus diesem Grund distanziert er sich immer wieder entschieden von diesem »Zug abgeschiedener Seelen« (S. 120), denn er möchte leben. Er will sich vom Leben leiten lassen und sich nicht von einem Transit abhängig machen wollen, denn dies bedeutet womöglich den Tod. 

So trifft er ihn auch gleich in der Figur des alten Kapellmeisters, als er in Marseille ankommt. Er nimmt ihn als »Gerippe« (S. 49) mit »Totenkopf-Augenhöhlen« (S. 74) wahr und fühlt sich in seiner Gegenwart unwohl. Der Ich-Erzähler kann ihm nicht entkommen und begegnet ihm immer wieder. Letztendlich stirbt er auf dem Konsulat, als er in einer Schlange auf sein Visum wartet (S. 144 f.).

Auch bei Marie überfällt den Ich-Erzähler oft ein Gefühl der Kälte, wenn er sie trifft, und in den dunklen Gassen Marseilles, in die er ihr folgt, lauert überall der Tod in den Häusern (S. 116, S. 180). Marie steht als eine Art Grenzgängerin in Verbindung zum Tod. Sie bewegt sich mit ihrer Suche nach ihrem bereits verstorbenen Ehemann schon nicht mehr unter den Lebenden, sondern ist mittlerweile in einer Art Zwischenwelt des Schattens zu Hause. Auch ihre Kleidung wirkt gespenstisch, denn sie trägt eine Kapuze, sodass ihr Gesicht nicht zu sehen ist. Sie läuft sozusagen immer dem Tod hinterher, und schließlich folgt sie ihrem Mann auch in den Tod, denn sie stirbt vermutlich beim Untergang des Schiffes. Der Ich-Erzähler hat sie schon im Leben an einen Toten, nämlich ihren Ehemann, verloren und durch seine Liebe kann er sie nicht mehr zurückholen. Dies erinnert stark an Orpheus, dem es auch nicht gelingt, durch Liebe seine Eurydike aus der Unterwelt zurückzuholen. Er überlebt, indem er sie aufgibt. 

Die Hafenstadt Marseille steht als Symbol für die alte Welt Europas, die gerade im Chaos versinkt. Für die Geflüchteten ist es die letzte Rettung, durch ein Schiff nach Übersee zu kommen: »Sie waren so bleich und durchgefegt, als sei das erwartete Schiff nun die letzte Fähre über den dunklen Strom.« (S. 81) Hier bedient sich Anna Seghers wieder der griechischen Mythologie, in der ein düsterer Fährmann mit Namen Charon für eine Münze die Toten mit einem Boot in das Reich des Herrschers der Unterwelt (Hades) bringt.

Solidarität als Waffe im Kampf gegen den Faschismus

Der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Russland ist historisch sehr von Bedeutung, denn viele Kommunistinnen und Kommunisten fühlten sich dadurch verraten und im Stich gelassen. Des Weiteren sorgte die Haltung Russlands unter den Parteimitgliedern für eine große Verunsicherung. 

Der Roman »Transit« ist von dieser historischen Begebenheit stark geprägt. In der Diskussion der Familie Binnet wird dies kurz thematisiert: »Die Hälfte der Binnets behauptete, Russland denke bloß an sich selbst, es habe uns im Stich gelassen.« (S.15) Hier handelt es sich um ein politisches System, das seine Anhänger im Stich gelassen hat, doch die Thematik zieht sich durch die gesamte Geschichte und betrifft fast jede einzelne Existenz. Denn in einer Welt, in der Krieg, Flucht und Vertreibung herrschen, sind auch die menschlichen Beziehungen brüchig, flüchtig und zufällig.

Untreue und Verrat sind der Lebenssituation der Geflüchteten geschuldet, die von Heimatlosigkeit und Unsicherheit geprägt ist, denn der alltägliche Kampf ums Überleben setzt hier ein egoistisches Verhalten frei, was mit der Redewendung »Jeder ist sich selbst der Nächste« beschrieben werden kann. Das Individuum wird in der Ausnahmesituation von Flucht und Vertreibung sämtlicher Sicherheiten beraubt, die für ein menschliches Leben notwendig sind, um sich geborgen zu fühlen. Die Tragik ist, dass ein egoistisches, auf sich selbst bezogenes Verhalten nicht hilft, um die katastrophalen Zustände für die Menschen zu ändern.   

Die Welt besteht im Roman »Transit« also aus zahlreichen »Imstichlassern« (S. 267). Hier ist insbesondere Achselroth zu nennen, der seinen Freund Strobel, dann Weidel und den Musiker im Stich lässt, immer um einen eigenen Vorteil für sich daraus zu ziehen. Aber auch der Ich-Erzähler geht nicht zum vereinbarten Treffen mit seinem Freund Heinz, und Marie lässt ihren Mann wegen eines Arztes im Stich. 

Diesem Konzept des egoistischen Einzelkämpfertums setzt die Autorin im Roman die Utopie des neuen, besseren Menschen entgegen, die durch die Figur Heinz verkörpert wird. Er nimmt für den Kampf gegen den Faschismus alles auf sich, damit eine gerechtere Gesellschaft nach sozialistischen Grundprinzipien entstehen kann.

Die menschliche Solidarität, wie Heinz sie vorlebt, steht hier an erster Stelle. Denn nur wenn das Individuum über sich selbst hinauswächst, sein Ego ablegt und sich in den Dienst der gemeinsamen Sache stellt, ist es möglich, gegen die Ausbeutung und Unterdrückung ein sozialistisches, gerechtes Gesellschaftssystem zu schaffen. Die Botschaft lautet: Nur wenn alle Menschen solidarisch sind, kann der Kampf gegen das faschistische Regime gewonnen werden. 

Für Anna Seghers hat jedes Individuum darin eine spezielle Aufgabe zu erfüllen. Die Pflicht der Schriftstellerinnen und Schriftsteller besteht darin, mit ihrer Literatur einen politischen Beitrag zu leisten, um im Kampf gegen das faschistische Regime Stellung zu nehmen. So hat auch Weidel als überzeugter Antifaschist mit seinem literarischen Schaffen gegen den Faschismus gekämpft, indem er es als seine Aufgabe ansah, über die Gräueltaten an den Kommunistinnen und Kommunisten im Spanischen Bürgerkrieg zu berichten. 

Zudem entwickelt sich auch ihr Hauptprotagonist, der anfangs als ruheloser, abenteuerlustiger Lebenskünstler ohne Plan und Ziel nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht  handelt, zu einem mit Frankreich verbundenen Antifaschisten, der sogar bereit ist, mit der Waffe Widerstand zu leisten. Er ist, ganz im Sinne des marxistischen Menschenbildes, über sich selbst hinausgewachsen, hat sein Ego abgestreift und ist nun bereit, wie Heinz, sein Mentor und großes Vorbild, für die gemeinsame Sache zu kämpfen. 

Veröffentlicht am 9. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 9. Mai 2023.