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Transit

Zitate und Textstellen

  • »Ich stieß auf Worte, die meine arme Mutter gebraucht hatte, um mich zu besänftigen, wenn ich wütend und grausam geworden war, auf Worte, mit denen sie mich ermahnt hatte, wenn ich gelogen oder gerauft hatte.«
    – Ich-Erzähler, S. 27

    Beim Lesen des unvollendeten Romanmanuskripts wird dem Ich-Erzähler zum ersten Mal bewusst, welche Bedeutung die Muttersprache hat, denn er spürt das Existenzielle in ihr: die Verbindung zur Heimat, zu seiner Kindheit, die in Zusammenhang mit der Vertrautheit der Mutter Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Insbesondere für die schriftstellerisch Tätigen hatte die Muttersprache im Exil ein bedeutendes Gewicht. Viele von ihnen konnten ihre Werke nicht mehr in ihrer Sprache veröffentlichen, so auch Weidel, dessen Verlag ihm mitteilt, dass sein Roman nicht mehr publiziert werden kann. Anderen wiederum war es unmöglich, in einer fremden Sprache weiterzuschreiben, da sie sie nicht beherrschten oder auch ihren persönlichen Ausdruck darin nicht wiederfanden.

  • »Er hatte schon einmal einen Kontrakt besessen, auf den Kontrakt ein Visum, auf das Visum das Transit. Die Gewährung des Visa de sortie habe aber so lange gedauert, dass ihm inzwischen das Transit erloschen sei, darauf das Visum, darauf der Kontrakt.«
    – Ich-Erzähler, S. 49

    Die Geflüchteten verlieren sich, so wie hier im Falle des Kapellmeisters, im Absurden und finden sich im Dschungel der bürokratischen Hürden der Einwanderungspolitik nicht mehr zurecht. Es scheint, als wären sie auf ewig in ihrem Schicksal gefangen, ohne dass sie eine Möglichkeit haben, sich durch eigenes selbstbestimmtes Handeln zu befreien. So lassen sich hier auch Parallelen zum französischen Existenzialismus ziehen, dessen Hauptvertreter, der französische Schriftsteller Sartre, den folgenden philosophischen Grundgedanken setzt: Der Mensch wurde nur durch Zufall in ein absurdes Dasein geworfen, und es existiert kein Gott, der ihm zur Seite steht und ihn daraus befreit. Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt und wird immer wieder auf seine eigene Existenz zurückgeworfen.

  • »Ich fürchtete mich beim Zusehen, ich könnte in diesen Strom hineingeraten, ich, der ich mich noch am Leben fühlte, durchaus zum Bleiben gewillt, als könnte ich in den Strom gerissen werden durch einen Gewaltstreich oder durch eine Verlockung.«
    – Ich-Erzähler, S. 121

    Den Ich-Erzähler treibt die große Angst um, in den Sog der Geflüchteten hineingezogen zu werden, denn alle sind vom Gedanken der Flucht nach Übersee besessen. Das Verlassen Europas und ihre Überfahrt setzt er mit dem Tode gleich, da sie ihr altes Leben zurücklassen müssen und ihre Zukunft in den fremden Ländern im Ungewissen liegt. Er hat einen starken Überlebenswillen und wehrt sich gleichsam gegen den Tod, indem er in Europa bleiben möchte.

  • »Seit meiner Kindheit hatte mich niemand ebenso aufmerksam angesehen. Dann fiel mir ein, dass er alles mit gleicher Aufmerksamkeit betrachtete.«
    – Ich-Erzähler, S. 153

    Heinz fungiert für den Ich-Erzähler über die freundschaftliche Beziehung hinaus auch als Mentor, denn er verkörpert für ihn den perfekten Menschen nach sozialistischem Vorbild. Dazu gehört auch, dass er jeden Menschen gleich behandelt und ihm damit Wertschätzung zukommen lässt. Es zählt dabei nicht, welchen gesellschaftlichen Status eine Person einnimmt. Wichtig ist allein, dass es im reinen Menschsein keine Unterschiede gibt. Nur darüber entsteht die Solidarität, mit der die kapitalistische Klassengesellschaft überwunden werden kann, was schlussendlich im Marxschen Sinne zu einem neuen sozialistischen Gesellschaftssystem führt.

  • »Du vergisst, dass ich hierhergekommen bin, um zu bleiben. Für euch ist die Stadt zum Abfahren da, für mich war die Stadt zum Ankommen.«
    – Claudine, S. 163

    Hier wird von Anna Seghers durch die Figur Claudines die Motivation zur Flucht nochmals aus einer anderen Perspektive betrachtet. Für sie und ihren Sohn, die aus Afrika nach Europa geflohen sind, bedeutet die Stadt Marseille jetzt Zuflucht und Heimat. Ihre starke Entschlusskraft zu bleiben, ergibt sich aus der einfachen Tatsache, dass sie in das Land, aus dem sie geflohen ist, nie mehr zurückgehen kann. So verschwendet sie auch keinen weiteren Gedanken daran, sondern nimmt ihr Schicksal ohne Wenn und Aber an.

  • »Ich meine aber, ein Volk, das so viel hinter sich hat an Verrat und Imstichlasserei und versautem Blut und verdrecktem Glauben, das muss erst noch wieder zu sich kommen.«
    – Ich-Erzähler, S. 182

    Hier wird durch den Ich-Erzähler indirekt eine Kritik an der Rolle Frankreichs im Zweiten Weltkrieg geäußert. Frankreich hat sein Volk verraten, indem es mit der deutschen Besatzungsmacht kooperierte. Die französischen Behörden zeigten sich durchaus bereit, insbesondere bei der Registrierung und Internierung von Jüdinnen und Juden, mit den Deutschen zusammenzuarbeiten. So kam es regelmäßig zu Razzien und Verhaftungen, an denen auch die französische Bevölkerung durch Denunziation und Verrat einen großen Anteil hatte.

    Des Weiteren kann angenommen werden, dass sich diese Aussage darüber hinaus auch auf Frankreich als Kolonialmacht bezieht. Durch ihr imperialistisches Bestreben, das eigene Territorium auszuweiten, wurden im 19. Jahrhundert viele afrikanische Länder erobert und kolonisiert. In diesem Zusammenhang hat Frankreich als zweitgrößte Kolonialmacht Schuld auf sich geladen, die von der Bevölkerung erst verarbeitet werden muss.

  • »Und während er fortfuhr, betrachtete ich Maries Gesicht, so still im Abendlicht. Sie musste schon tausend Jahre an diesem Fenster gesessen haben, in kretischen und phönizischen Tagen, ein Mädchen, das vergebens nach seinem Geliebten späht unter den Herren der Völkerschaften, doch diese tausend Jahre waren vergangen wie ein Tag.«
    – Ich-Erzähler, S. 229

    Indem der Ich-Erzähler die gegenwärtige Realität in einen höheren Sinnzusammenhang stellt, nämlich in den ewigen Strom der menschlichen Geschichte, dem Zeitlosigkeit anhaftet, wird zum einen das Schicksal Maries dadurch relativiert, dass vor ihr schon Tausende andere Frauen dasselbe durchmachen mussten. Zum anderen steht aber auch ein Urvertrauen in die menschliche Existenz dahinter, die ewig und immer gleich fortbestehen wird, was auch geschieht.

  • »Ich hatte als Kind meine Mutter vergessen, wenn ich angeln gegangen war. War ich beim Angeln, dann brauchte mir nur ein Flößer zu pfeifen und ich kletterte zu ihm hinauf und vergaß mein Angelzeug. Er brauchte mich nur ein kleines Stück auf dem Floß mitnehmen, und ich vergaß meine Heimatstadt.«
    – Ich-Erzähler, S. 254

    Hier reflektiert der Ich-Erzähler zum ersten Mal seine eigene Kindheit und versteht, dass er schon als Kind keine Bindung spürte und die Welt als sein Zuhause begriff. Seine Abenteuerlust trieb ihn fort, ohne dass er an die Menschen, die er zurückließ, hier seine Mutter, einen Gedanken verschwendete. Durch die Liebesgeschichte mit Marie begreift er jedoch, was es heißt, sich zugehörig zu fühlen: zu den Menschen, zu einem Land, sodass er jetzt fähig ist, ein Heimatgefühl zu entwickeln und zu bleiben.

  • »Ich habe gleichzeitig die Ehre, Ihnen ein Manuskript zu schicken, mit der Bitte, es seinen Freunden zu geben, die es sicher bewahren werden.«
    – Ich-Erzähler, S. 297

    Nachdem der Ich-Erzähler beschlossen hat, in Frankreich zu bleiben, schickt er den Jungen mit dieser Botschaft ins mexikanische Konsulat. Nach der abenteuerlichen Flucht, auf der das Manuskript beinahe verloren gegangen wäre, gerät es doch noch an seinen Bestimmungsort. Das geschriebene Wort wird gerettet und in die Welt hinausgetragen. Es überlebt damit seinen Autor. Hier bekommt das unvollendete Werk Weidels von der Autorin nochmals eine Art Würdigung. Sie setzt hier ein klares Zeichen, dass Literatur die Macht hat, im Fluss der Zeit zu bestehen. Damit ist ihre Aussagekraft sogar stärker als ein Menschenleben.

  • »Für dich ist es richtig, zu bleiben. Was sollst denn du da drüben? Du gehörst zu uns. Was uns geschieht, geschieht dir.«
    – Georg, S. 298

    Georg symbolisiert wie Heinz die Arbeiterklasse, die sich dem gemeinsamen Kampf gegen das faschistische Deutschland verschrieben hat. Dabei hat jeder seine Aufgabe zu erfüllen. Heinz ist jetzt »drüben«, das heißt, ihm ist die Flucht nach Mexiko gelungen, denn er war als aktiver Kommunist gezwungen, aus Deutschland zu fliehen. Der Ich-Erzähler hat sich mit seiner Entscheidung zu bleiben, nach Georgs Empfinden auch für Frankreich entschieden, sodass er jetzt einer der ihren ist und nach dem solidarischen Prinzip der kommunistischen Partei nun das Schicksal der Franzosen mitträgt.

Veröffentlicht am 9. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 9. Mai 2023.