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Nachts schlafen die Ratten doch

Aufbau des Werkes

Der Handlung der etwas mehr als drei Seiten umfassenden Kurzgeschichte geht eine dreizeilige Einführung voraus. Diese schildert bildreich und stilistisch sehr dicht Ort und Zeit der Handlung, beschreibt den Schauplatz und die Atmosphäre, in der die Kurzgeschichte verankert ist. Dabei fällt die von literarischen Stilmitteln durchsetzte Sprache auf, die an die Lyrik des Expressionismus erinnert und auch eine expressionistische Farbsymbolik aufweist. Sowohl stilistisch als auch sprachlich setzt sich dieser erste Abschnitt damit vom Rest des Textes ab. Da sich die Motivik der Eingangsszene im letzten Abschnitt der Erzählung noch einmal wiederholt, lässt sich von einem Rahmen sprechen, in den die Handlung der Kurzgeschichte eingebettet ist.

Der dann folgende Hauptteil steht auch sprachlich in Kontrast zu dem des Rahmens. Die Sprache wird karg und ist auf das Wesentliche beschränkt, der Stil ist parataktisch und weist nur noch sparsame rhetorische Stilmittel auf. Die Handlung besteht hauptsächlich aus dem Dialog zwischen der Hauptfigur, dem neunjährigen Jürgen, und einem älteren Mann, dem er zufällig zwischen den Trümmern der zerstörten Häuser begegnet. Dabei wird oft auf Anführungszeichen oder einleitende Verben verzichtet, so dass sich das Gespräch der dramatischen Form eines Theaterstücks annähert.

Ort und Zeit der Handlung werden nicht näher bestimmt, außer der Tatsache, dass es sich um eine Szene zur Abendstunde handelt, die in der »Schuttwüste« (S. 216) einer zerstörten Stadt spielt. Ebenso bleiben die Figuren Typen ohne individuelle Charakterisierung. Zusammen mit der Konzentration auf einen chronologischen Handlungsstrang und ein zentrales Thema sowie dem offenen Schluss lassen sich an »Nachts schlafen die Ratten doch« alle formalen Merkmale der klassischen Kurzgeschichte wiedererkennen. Einzig die kurze Einführung zu Beginn anstelle eines abrupten Einstiegs entspricht diesen von der amerikanischen short story vorgegebenen Kriterien nicht.

Es gibt einen auktorialen Erzähler, der vor allem im einleitenden Rahmenteil das Geschehen schildert, im Hauptteil der Geschichte jedoch zunehmend hinter den Figuren zurücktritt und nicht mehr in seiner beschreibenden oder kommentierenden Funktion erkennbar ist. Die vorherrschende Perspektive ist die des kleinen Jungen, der den Großteil des Gesprächs aus seiner sitzenden Position, von unten nach oben, an den Hosenbeinen des alten Mannes hinauf (vgl. S. 216), verfolgt. Es ist auch seine Perspektive, die von Angst, Misstrauen und Unsicherheit geprägt ist. Einige Male findet ein Perspektivwechsel statt, wenn der alte Mann »von oben auf das Haargestrüpp« herabsieht (vgl. S. 216/218).

Der Aufbau der Kurzgeschichte ist von einem inneren Spannungsbogen durchzogen, da die Motive der Figuren über lange Zeit hinweg unklar bleiben. »Die Leerstelle erzeugt Spannung, da der Leser weder weiß, worauf der Junge aufpasst, noch, inwieweit der Mann eine Intention hat, die er verbirgt« (Blume/Fianke, S. 25). So ist bis zu seinem Bericht auch nicht klar, warum der kleine Junge in den Abendstunden alleine zwischen den verlassenen Ruinen in der »Schuttwüste« ausharrt und »aufpassen muss« (vgl. S. 216). Genauso wenig klar ist aber auch, warum der ältere Mann den ihm unbekannten Jungen anspricht und beginnt, ihn auszufragen. Da er ein Messer in der Hand hält und zudem vermutet, dass der Junge auf Geld aufpasse (vgl. S. 216), wird der/die Leser*in leicht auf eine falsche Fährte gelenkt und der Spannungsbogen erhöht sich noch. Erst nach und nach wird klar, dass der alte Mann dem Jungen helfen will, dass Mitgefühl seine Motivation ist und er versucht, ihn aus der Ruine wegzubringen und ihm eine neue Perspektive zu eröffnen. Dennoch bleibt die der Struktur der Kurzgeschichte zugrunde liegende Spannung bis zum Schluss und darüber hinaus erhalten, da der Schluss, typisch für die Kurzgeschichten der Trümmerliteratur, offen bleibt. Daher bleibt dem/der Leser*in zwar die Hoffnung, der alte Mann möge tatsächlich mit einem Kaninchen für den Jungen zurückkehren und ihn nach Hause begleiten, doch gewiss ist das nicht.

Ein erster Höhepunkt in der Struktur der Kurzgeschichte ist die Erwähnung der 27 Kaninchen und das Angebot des Mannes an Jürgen, sie sich anzusehen. Dies eröffnet Jürgen einen ersten Ausblick und Hoffnungsschimmer, nach dem er aber noch einmal zurückfällt und alle weiteren Überzeugungsversuche des Mannes erst einmal abwehrt.
Den Wendepunkt in der Struktur der Geschichte bringt dann die Notlüge des alten Mannes über die nachts schlafenden Ratten. Dies stößt die entscheidende Veränderung im Leben des Jungen an, was sich im Aufbau der Kurzgeschichte widerspiegelt. Der Wendepunkt zeigt sich auch sprachlich und wird mit den nun auftauchenden Farben Weiß und Grün symbolisiert, die die inneren Emotionen der Figuren repräsentieren. Die nun einsetzende Bewegung und Lebendigkeit der Figuren löst die vorherige Erstarrung und Statik ab.

Da der größte Teil der Erzählung von der Dialogform geprägt ist, handelt es sich um ein zeitdeckendes Erzählen; die erzählte Zeit und die Erzählzeit stimmen also überein. Davon weicht nur der kurze Bericht Jürgens über den Bombenangriff auf das Wohnhaus seiner Familie ab. Hier ist die Zeitgestaltung von einer Zeitraffung bestimmt. Sonst kann man von chronologischem Erzählen sprechen. Dies trifft zumindest für die äußere Handlung zu. Die innere Entwicklung der Protagonisten dagegen lässt sich nur in indirekter Charakterisierung an Andeutungen ablesen. So lässt sich unterscheiden

    zwischen einer äußeren Handlung, die sichtbar in den Zeit-Raum-Koordinaten abläuft, und einer inneren Handlung, die sich im Bewusstsein des Protagonisten abbildet. [...] Die eigentliche Dramatik [wird] in den Innenraum des Protagonisten verlegt. (Durzak, S. 305)
Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.