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Nachts schlafen die Ratten doch

4. Abschnitt, Zeile 19-40

Zusammenfassung

Die Nachfrage, worauf er denn aufpasse, weist Jürgen zurück, da er darüber nicht sprechen könne. Der Unbekannte vermutet daher, dass es sich nur um Geld handeln könne, was der Junge aber sogleich empört von sich weist. Der Mann möchte Jürgen nun seinerseits auch nichts über den Inhalt seines noch geschlossenen Korbes verraten. Doch Jürgen hat bereits erraten, dass es sich bei dem Korbinhalt um Kaninchenfutter handelt. Jürgens Gesprächspartner ist verwundert über die schnelle Auffassungsgabe des Jungen und fragt ihn nach seinem Alter. Auf die Antwort des Jungen, er sei neun Jahre alt, stellt ihm der Mann die Frage, wie viel denn drei mal neun seien. Nach kurzem Zögern, dass er aber überspielt, kontert Jürgen auch schon mit der richtigen Lösung, Siebenundzwanzig.

Analyse

Im weiteren Verlauf des Gesprächs zeigt sich immer deutlicher, dass Jürgen auf die Fragen des Fremden sehr abweisend und verschlossen reagiert; er antwortet einsilbig und will offensichtlich nichts von dem Geheimnis, das ihn an diese Hausruine bindet, verraten. Seine anfängliche Angst ist zwar aufgrund des alten und ärmlichen Äußeren des Mannes verflogen, sein Misstrauen aber besteht weiterhin. Ausdruck dafür ist auch die Wiederholung »er hielt die Hände fest um den Stock« (S. 216, Z. 17/19). Dahinter verbergen sich auch eine große Unsicherheit und ein großer Schrecken vor der ihn umgebenden feindlichen Welt, gegen die er sich mit dem Stock bewaffnet. Das Misstrauen und die Feindseligkeit sind auch als zeittypisches Merkmal zu verstehen, da in der Kriegs- und Nachkriegszeit die Unsicherheit darüber, wem man trauen kann, sehr groß ist.

Zunächst bleibt unklar, wie alt Jürgen ist, bis auf die Perspektive von unten nach oben, mit der er auf seinen Gesprächspartner blickt, gibt es dazu keinen weiteren äußeren Hinweis. Dennoch weisen die einfache Sprache von Jürgen, seine Satzstellung und die Wiederholungen eher auf einen jungen Menschen, ja ein Kind hin: »Nein, auf Geld überhaupt nicht [...]. Auf ganz etwas anderes.« Und dann als Erwiderung: »Was anderes eben« (S. 216, Z. 23/24 und Z. 26). Der ältere Mann passt sich dieser Ausdrucksweise an; auch er spricht sehr einfach und umgangssprachlich (»Wohl auf Geld, was?« und »Na, was denn?«, S. 216, Z. 21 und Z. 23/24). Aus der Art, wie er mit Jürgen spricht, wird dem Leser noch bevor der Junge sagt, dass er neun Jahre alt sei, ein Hinweis in diese Richtung gegeben.

An der Art, wie der Mann auf den Jungen eingeht, seine Fragen formuliert und sich von dessen abweisenden und widerwilligen Antworten nicht aus der Ruhe bringen lässt, wird seine fast psychologische Strategie erkennbar, den Jungen aus seinem Schweigen zu locken, sein Geheimnis, auf was er aufpasst, zu lüften.

    Der alte Mann tritt als ein talentierter Schauspieler und Vorspiegler auf – eine Figur, die dem Autor sehr nah ist, welchem das Imitieren und Vorspiegeln auch in unpassenden Situationen lange zu einer Art zweiter Natur geworden war. (Bellmann, S. 48)

Dahinter steckt seine sehr mitfühlende und zutiefst humane Absicht, dem Jungen zu helfen, ihn aus einer offensichtlich verzweifelten Lage zu befreien. Dafür wendet er einige Tricks an, die er immer an das Verhalten und die Antworten des Jungen anpasst. So beispielsweise mit dem Ausruf der Verwunderung und des Lobes, als Jürgen gleich darauf kommt, was im Korb versteckt ist: »Donnerwetter, ja! [...] bist ja ein fixer Kerl« (S. 217). Darauf folgt dann gleich die nächste Frage (»Dann weißt du ja auch, wieviel drei mal neun sind, wie?«), mit dem er den Ehrgeiz des Jungen wecken will, ihm die Gelegenheit gibt, eine Bestätigung seines Wissens zu erhalten und somit langsam Vertrauen zu ihm aufzubauen. »Der alte Mann [...] erlöst den Jungen durch diese Fähigkeit aus seiner Isolation, was einen Akt selbstverständlicher Menschlichkeit darstellt« (Bellmann, S. 49).
Eine weitere Strategie des Mannes die in diesem Abschnitt sichtbar wird, ist das »Einverständnis in die Verneinung« (Giachino, S. 4), wenn er auf die Ablehnung des Jungen, ihm zu sagen, auf was er aufpasst, antwortet: »Na, dann nicht. Dann sage ich dir natürlich auch nicht, was ich hier im Korb habe« (S. 216/217). Das wird sich später noch einmal wiederholen, wenn der Mann zu Jürgen sagt: »Vielleicht hättest du dir eines ausgesucht. Aber du kannst hier ja nicht weg« (S. 217).

Die Erzählerkommentare, die Jürgens kurze und knappe Antworten als »verächtlich« (S. 216) und »geringschätzig« (S. 217) bezeichnen, weisen den Jungen als Vertreter der jungen, verlorenen Generation aus, die Borchert als »Generation ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied« (Borchert, Gesamtwerk, S. 59) bezeichnete. Sie hat bereits früh so viel Leid durch den Krieg erlebt, dass sie vor den Erwachsenen und ihren Werten (beispielsweise Geld) keinen Respekt mehr hat. Auch kann man dieser jungen Kriegsgeneration nichts mehr vormachen, wie es der ältere Mann versucht, wenn er Jürgen raten lassen will, was er in seinem Korb versteckt. Als »Kind seiner Zeit« hat dieser längst erraten, dass sich darin Kaninchenfutter befindet, denn er kennt längst den existenziellen Überlebenskampf der Kriegsjahre, wo jeder damit beschäftigt ist, die tägliche Ernährung für Mensch und Tier zu sichern (vgl. S. 217). Mit diesen einfachen Tricks, mit denen der Mann sein Interesse wecken und ihn zum Reden bringen möchte, lässt sich dieses viel zu erfahrene Kind also nicht locken.

Offensichtlich ist, dass sich hinter der von Jürgen zur Schau gestellten Altklugheit eine große Unsicherheit und Ängstlichkeit verbirgt. Ein Zeichen dafür ist der schon erwähnte große Stock, den er immer ganz festhält (vgl. S. 216), aber auch bei der gestellten Rechenaufgabe, »wieviel drei mal neun sind« (S. 217) zögert er und versucht, Zeit zu gewinnen, auch wenn er dann sagt: »Das wußte ich gleich« (ebd.).

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.