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Nachts schlafen die Ratten doch

7. Abschnitt, Zeile 76-84

Zusammenfassung

Nun reagiert der ältere Mann mit einer Notlüge und erzählt Jürgen, dass die Ratten schon bei Anbruch der Dunkelheit und nachts schlafen würden. Daher könne er nachts beruhigt nach Hause gehen. Auf die Erwiderung hin, dass der Lehrer ihnen dies nicht gesagt habe, kritisiert der Mann den Lehrer dafür, dass er dies wohl nicht wisse.
Erst jetzt wird Jürgens Müdigkeit offenbar.

Analyse

Die Erzählperspektive schwenkt in diesem Abschnitt wieder von Jürgen zu seinem älteren Gesprächspartner. Dieser sieht nun wieder von oben auf den Jungen herab, der dabei erneut und mit der rhetorischen Figur der Synekdoche als »Haargestrüpp« (S. 218, Z. 76) bezeichnet wird, was darauf hinweist, wie vernachlässigt der einsame Junge ist.

Mit dem Hinweis »plötzlich« (S. 218, Z. 77) wird die letzte Phase des Dialogs eingeleitet. Die nun folgende Notlüge des Mannes ist gleichzeitig auch der Wendepunkt in der formalen und inhaltlichen Struktur der Kurzgeschichte. Das Wort »aber«, mit dem dieser für die Geschichte wie für Jürgens Leben entscheidende Satz eingeleitet wird, verweist schon auf diese Wende, hinter der eine bewusste Entscheidung des alten Mannes steht. Er möchte dem Jungen helfen und ihn aus seiner ausweglosen Lage retten. Da er nun das Geheimnis des Jungen kennt, entscheidet er sich, dass dies nur durch eine Lüge möglich ist.

Auffällig ist, dass er nach der Geschichte über den Verlust des Bruders kein Wort des Trostes für den Jungen hat, was auf den zeittypischen Hintergrund des Krieges verweist, wo es nichts Tröstliches mehr gibt in dem täglichen Leid. Verluste sind somit alltäglich geworden und lassen die Menschen abstumpfen. Auch versucht er nicht, den Jungen von seiner Aufgabe abzubringen, ihn zu überreden, nach Hause zu gehen oder ihm die Wahrheit über die Sinnlosigkeit seines Tuns zu offenbaren.

Mit der Notlüge, dass die Ratten nachts schlafen würden, gibt der alte Mann dem Jungen die Möglichkeit, von seiner Aufgabe zu lassen, ohne sein Gesicht zu verlieren oder sich sein Scheitern aufgrund ihrer Sinnlosigkeit einzugestehen. Er kann nachts nach Hause gehen, ohne den kleinen Bruder zu verraten und im Stich zu lassen, er muss sich den Verlust des Bruders noch nicht vollkommen eingestehen, indem er ihn aufgibt und den Ratten überlässt. Mit dieser Notlüge gelingt es dem Mann schließlich auch, den Jungen selbst zu retten. Es ist damit der Anfang von dessen Rückkehr in eine Geborgenheit, in der er wieder Kind sein kann, schlafen, essen und bei seiner Familie sein kann. Der Mann wiederholt seine Notlüge noch mehrmals, wobei sprachlich die Anapher »Nachts« auffällt, die dreimal am Satzanfang wiederholt wird (S. 218. Z. 82/83): »Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer« (ebd.). Dies macht die Aussage des Mannes um so zwingender und überzeugender, der symmetrische Satzbau der parataktischen Satzgefüge unterstreicht diese Wirkung noch. »Es ist freilich eine Lüge, aber eben eine Lüge, die dem Jungen ermöglicht, den Ort des Traumas zu verlassen. Die Lüge schenkt dem Jungen in diesem Sinne Freiheit« (Blume/Fianke, S. 25).

Die Beschreibung Jürgens, der nun auf einmal »ganz müde« aussieht und »flüstert« (S. 218, Z. 79) zeigt bereits die ersten Folgen dieser Notlüge auf. Erst jetzt, wo ihm ein Ausweg aufgezeigt wird, kann er sich die Erschöpfung der durchwachten Nächte anmerken lassen, die auch aus der Überforderung durch die Rolle des Erwachsenen resultiert, die er in der Kriegswelt zu spielen gezwungen ist. Die Tatsache, dass er die falsche Behauptung, die eigentlich nachtaktiven Ratten würden nachts schlafen, nicht infrage stellt, sondern dem Mann glaubt, zeigt, wie viel kindliche Naivität dennoch noch in ihm vorhanden ist.

Zweimal in diesem Abschnitt spricht der Mann den Lehrer des Jungen an und kritisiert ihn dafür, dass er ihm nicht gesagt habe, dass die Ratten nachts schlafen würden. Er steigert diese Kritik sogar noch mit der Aussage, »das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß« (S. 218). Seine eigene Notlüge wird durch die Autorität, die der Alte sich damit gibt, um so glaubwürdiger, während er die Glaubwürdigkeit und Autorität des Lehrers und damit der Institution Schule deutlich infrage stellt. Dahinter steht auch die kritische Einstellung des Autors Wolfgang Borchert selbst zur Schule und den Lehrern, die er dort in seiner Schulzeit erlebt hat. Das zeigt sich beispielsweise in einem Satz aus seinem noch kurz vor seinem Tod vollendeten »Manifest«, wo es heißt, »daß dieselben Studienräte ihre Kinder nun benäseln, die schon die Väter so brav für den Krieg präparierten. (Zwischen Langemarck und Stalingrad lag nur eine Mathematikstunde.)« (Borchert, Das ist unser Manifest, Das Gesamtwerk, S. 313).

Tatsächlich erscheint die erwähnte Figur des Lehrers in dieser Kurzgeschichte als Vertreter einer zweifelhaften Pädagogik, hinter der auch die NS-Ideologie steht, unter der Borchert selbst aufgewachsen ist. Statt den Kindern über die Schrecken der Kriegszeit hinwegzuhelfen, herrscht das Prinzip der Abhärtung. Der Lehrer erzählt den Schülern in der Phase der ständigen Luftangriffe und Bombardierungen von den Ratten, die die Leichen unter den Trümmern fressen. Dadurch erst motiviert er den Jungen zu seiner ihn völlig überfordernden, sinnlosen Rettungstat für den toten kleinen Bruder. Der alte Mann dagegen wird als feinfühlige Figur gezeichnet, die sich dem verlassenen, leidenden Kind mit großem Einfühlungsvermögen nähert, ihn mit den richtigen Worten aus seiner schweigsamen Erstarrung und damit auch aus den Trümmern holt und ihm im Weiteren einen Rückweg ins Leben und in die verlorene Kindheit ermöglicht. Er ist damit eine positive Gegenfigur zum kritisierten Lehrer und ein Hinweis Borcherts, dass Lebensweisheit und Lebenswissen nicht in der Schule, sondern eher von vom Leben gezeichneten, einfachen, aber herzensguten Menschen und Mentoren zu erwerben ist.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.