Skip to main content

Nachts schlafen die Ratten doch

Interpretation

Historisch-biografische Ansätze

Die Menschlichkeit siegt über den Krieg

Da die Werke von Wolfgang Borchert häufig von den Themen Krieg und Zerstörung, Tod und Heimatlosigkeit bestimmt sind, werden sie oft als düster oder deprimierend wahrgenommen. Unübersehbar ist jedoch ein zutiefst tröstlicher, positiver und auf die Zukunft gerichteter Zug in seinem Werk, der dem entgegensteht. Die Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« ist dafür ein deutliches Beispiel und wurde von vielen Kritikern in diese Richtung interpretiert. So konstatiert Gordon Burgess sogar, dass »die Entwicklung von einer anfänglich negativen Situation zu einer positiven ein Kennzeichen seines gesamten Werkes« (Burgess, S. 128) sei.
Die Grunderfahrung der Liebe war für Borchert das, was schließlich bleibt, was sich allem Grausamen, Zerstörerischen und Dunklen entgegenstellt und die Kraft hat, zu widerstehen. Sein Freund, erster Lektor und Verleger, Bernhard Meyer-Marwitz, schrieb über ihn: »Borchert war immer ein Mitleidender« (Meyer-Marwitz, Nachwort zu Borchert, Gesamtwerk, S. 346).

In »Nachts schlafen die Ratten doch« findet inmitten einer Ruinenlandschaft, die von Tod und Zerstörung bestimmt wird, eine Begegnung statt, die zu einem entscheidenden Wendepunkt im versehrten Leben eines kleinen Jungen führt. Durch die einfühlsame Gesprächstaktik des alten Mannes gelingt ein Gespräch und der kleine Junge kann wieder Vertrauen aufbauen. Die Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft des alten Mannes sind es schließlich, die wieder Licht und Hoffnung in das Leben des Jungen bringen. Seine Humanität, hier in Form der Notlüge, widersteht der Zerstörungskraft, die Nacht wird dadurch wieder zum Ort der Ruhe und Geborgenheit. »Aus Angst und Trümmern, aus Aneinander-vorbei-Sprechen und Isolation erschafft [Borchert] Verstehen und Mitleid, Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit« (Gullvåg, S. 91).

Die Kurzgeschichte wurde daher als herausragendes Beispiel gedeutet für die Kraft, die die Menschen in sich tragen und die auch in der völligen Zerstörung und dem Elend des Krieges nicht verlorengeht; ihre innere Menschlichkeit und Liebe, das Mitgefühl und tiefe Verständnis für ihre Mitmenschen. Sie triumphieren schließlich über Grausamkeit und Leid
und sie sind es, die ein Weiterleben und einen äußeren wie inneren Neuanfang ermöglichen.
Die Betonung der Mitmenschlichkeit und zwischenmenschlichen Nähe als höchstes menschliches Gut am Beispiel der Rettung des kleinen Jungen ist auch eine Wendung gegen das im NS-Staat propagierte Ideal der Härte und Unmenschlichkeit. »So ist diese Erzählung, so trostlos und düster ihr Hintergrund ist, doch eine der tröstlichsten, die Borchert geschrieben hat« (Brinkmann, S. 74). Denn sie beschreibt »die Rückkehr eines Kindes, das gewaltsam aus allen Bindungen gerissen wurde, in die Welt des Kindes, [...] in ein sinnerfülltes Dasein« (ebd, S. 71).

Ein Mahnmal für Lebensbejahung und Zukunftshoffnung

Vor dem Hintergrund seiner eigenen tragischen Lebensgeschichte, die von Krieg, Gefangenschaft und schwerer Krankheit überschattet war, fällt es auf den ersten Blick nicht einfach, einen positiven Ausblick in die Zukunft und ein positives, lebensbejahendes Figurenbild im Werk Wolfgang Borcherts zu konstatieren. »Nachts schlafen die Ratten doch« ist jedoch genau für diese positive Lebenshaltung ein eindringliches Beispiel. Der kleine Junge hat trotz seiner traumatischen Erlebnisse der Luftangriffe, des zerstörten Wohnhauses, des Todes seines Bruders und der Welt, die um ihn herum in Trümmern liegt, noch immer einen »ausgeprägten Lebenswillen« (Winter in Bellmann, S. 50). Er glaubt dem alten Mann seine Lüge über die nachts schlafenden Ratten und er lässt sich inmitten der Trümmerwüste von der Aussicht auf ein weißes Kaninchen begeistern. Laut Hans-Gerd Winter ist dieser Lebenswille des kleinen Jungen ein »Kennzeichen vieler Figuren Borcherts, der als todkranker Autor im Krankenbett der elterlichen Wohnung seine Geschichten geschrieben und den eigenen Wunsch nach Zukunft in seinen Figuren gestaltet hat« (ebd.).

Diesen positiven Ausblick auf die Zukunft hat der Autor auch in seinem »Manifest« beschrieben. Dort kennzeichnet er seine Generation zwar als »Neinsager«, als »Nihilisten«, jedoch sind sie Neinsager aus Protest, nicht aus Verzweiflung, deren Aufgabe es ist »in das Nichts hinein wieder ein Ja [zu] bauen« (Borchert, Manifest, in Gesamtwerk, S. 313).
Figuren wie die des kleinen Jürgen sind also immer auch als Projektionen der eigenen Sehnsucht Borcherts nach einer lebenswerten Zukunft zu verstehen, die ihn auch dann noch erfüllte, als seine Hoffnung auf Heilung und auf ein Weiterleben mit fortschreitender Krankheit immer kleiner wurde. In seinem Werk überdauert diese Zukunftshoffnung, hier hat der Autor sie bis in sein letztes Lebensjahr gestaltet und ihr auch mit der Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« in einem weiterwirkenden Appell Ausdruck verliehen. So lässt sich trotz all der in seinen Werken thematisierten Schrecken von Krieg und innerer wie äußerer Zerstörung von einem existenz- und lebensbejahenden Welt- und Menschenbild Wolfgang Borcherts sprechen (vgl. Poppe S. 38).

Ein Manifest für den Frieden

Aufgrund seiner Eindrücklichkeit und des im Mittelpunkt stehenden kindlichen Protagonisten wurde »Nachts schlafen die Ratten doch« auch als eine der stärksten Anti-Kriegsgeschichten Wolfgang Borcherts interpretiert. Die Grausamkeit des Krieges und seine Verheerungen für die Zivilbevölkerung, die Härten des Überlebens in der zerstörten Stadt, die der Krieg übrig gelassen hat, werden besonders spürbar, da sie auf ein Kind treffen, das sich in dieser veränderten Welt alleine zurechtfinden muss.

Das Aufeinanderprallen dieser offensichtlichen Gegensätze wird in der Kurzgeschichte beispielsweise an dem stockenden Bericht des Jungen deutlich, mit dem er vom Bombenangriff auf das Wohnhaus der Familie und dem Tod seines Bruders berichtet (vgl. S. 218). Gerade durch die Einfachheit und Gebrochenheit der Sprache und Ausdrucksweise des Kindes wird die Tragik besonders eindrücklich. Der kleine Junge wurde aus seiner gewohnten Umgebung, aus seinem Zuhause herausgerissen und findet sich in einer apokalyptischen Landschaft wieder. Gegen die feindliche Umwelt und auch als Zeichen seiner Traumatisierung durch den Verlust des Bruders stattet er sich mit Requisiten der Stärke und des Erwachsenseins aus, wie beispielsweise dem großen Stock zur Verteidigung und der Blechdose mit Tabak.

Auch an den antithetischen Symbolen der Geschichte, den friedlichen Kaninchen auf der einen und den bedrohlichen Ratten auf der anderen Seite, zeigt sich der Kontrast zwischen der Geborgenheit einer verlorenen Kindheitswelt und der grausamen Realität des Krieges besonders deutlich. Manfred Durzak bezeichnet die Kurzgeschichte daher als eine »Initiationsgeschichte« (Durzak, S. 322), in der der Protagonist plötzlich in eine kriegsversehrte Erwachsenenwelt hineingestoßen wird: »Gerade hier, in der Konfrontation mit den kindlichen Opfern, zeigt sich das brutale Gesicht des Krieges besonders kraß« (Durzak, S. 322).

Daher lässt sich die Intention des Autors und die erschütternde Kraft und Wirkungsweise seines Textes vergleichen mit dem letzten Werk, das Wolfgang Borchert in seinem Leben verfasste, dem Anti-Kriegs-Manifest »Dann gibt es nur eins!«.

Beispiel für die Grundstruktur des Borchertschen Prosawerkes

Viele der Kurzgeschichten Wolfgang Borcherts folgen einem Muster, einer ihnen zugrundeliegenden narrativen Struktur, die der ungarische Literaturwissenschaftler Károly Csúri herausgearbeitet hat. Dieser Grundstruktur entspricht auch die Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch«, sowohl in dem Prozeß, dem die Geschichte folgt, als auch in der Figurenkonstellation. Laut Csúri gibt es in Borcherts Erzählungen oft den Anfangszustand, in dem sich die Protagonisten noch in einem »harmonischen Stadium virtuell-zeitloser Geborgenheit (oder Schein-Geborgenheit)« befinden. Diesem folgt ein Übergangszustand, ein »disharmonische[s] Stadium zeitlich-historischen Ausgestoßenseins«. Durch die Hilfe »ambivalenter Vermittlungsfiguren« erreichen sie dann einen Endzustand, der »die unmögliche (oder nur scheinbar mögliche) Rückkehr [...] in das [...] harmonische Stadium virtuell-zeitloser Geborgenheit« (Csúry in Burgess/Winter, S. 157) aufweist.

In diese Grundstruktur lässt sich auch die Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« einordnen. Hier allerdings ist der Anfangszustand der Geborgenheit bereits Vergangenheit; das Wohnhaus, die Familie und der Bruder des Jungen wurden durch den Krieg zerstört. Der Junge befindet sich daher bereits zu Beginn der Geschichte in einem Zustand des Ausgestoßenseins, in dem er einsam und in der Totenwache für seinen Bruder in der verlassenen Ruine ausharrt. Dieses Ausgestoßensein verdeutlicht sich auch an seiner großen Ängstlichkeit und Unsicherheit, die er versucht, hinter der Fassade des vermeintlich unabhängigen, abgeklärten Erwachsenen zu verbergen (vgl. Winter in Bellmann, S. 46/47). Durch die Begegnung mit dem älteren Mann gelingt dem Jungen eine Rückkehr in eine – wenn auch beschädigte und gefährdete – Kindheit, die ihm wieder eine Zukunftsperspektive und eine sinnvolle Aufgabe eröffnet. Der alte Mann ist somit die »ambivalente Vermittlungsfigur«, die mittels einfühlsamer zwischenmenschlicher Kommunikation wieder Vertrauen schaffen kann und der die Überführung in einen, wenn auch wegen des offenen Schlusses ungewissen (oder nur scheinbar möglichen) Endzustand »virtuell-zeitloser Geborgenheit« gelingt. Der kleine Junge kann die Ruine verlassen, kann in die Geborgenheit der übrig gebliebenen Familie und damit auch ins Leben zurückkehren: »Die Kurzgeschichte verdeutlicht, dass die Sprache als Bindeglied zwischen den Menschen in der Lage ist, Hoffnungslosigkeit auch da zu überwinden, wo die Hoffnung gänzlich verloren scheint« (Blume/Fianke, S. 25).

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.