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Nachts schlafen die Ratten doch

9. Abschnitt, Zeile 95-106

Zusammenfassung

Als der ältere Mann bereits im Weggehen noch einmal betont, dass die Ratten wirklich nachts schlafen, kommt wieder Leben in Jürgen und er bittet um ein weißes Kaninchen. Nach dem Hinweis, auf seine Rückkehr zu warten, schlägt ihm der alte Mann auch vor, ihn dann nach Hause zu begleiten, um seinem Vater den Bau eines Kaninchenstalls zu zeigen. Jürgen verspricht ihm zu warten und berichtet von den Kistenbrettern, die sie für diesen Zweck zu Hause nutzen können.

Analyse

Mit diesem Abschnitt kommt nun auch äußere Bewegung in die Geschichte und bildet so einen Kontrast zu der fast die ganze Handlung über andauernden Lähmung und Bewegungslosigkeit sowohl der Figuren als auch der unbelebten Umgebung. Der ältere Mann wendet sich nun tatsächlich zum Gehen und nachdem er noch einmal die Glaubwürdigkeit seiner Aussage über die Ratten unterstrichen hat, steht auch Jürgen das erste Mal auf und ändert so seine Perspektive. Er stellt auch selbst eine Frage, nachdem bisher nur sein Gesprächspartner alle Fragen gestellt hatte. Seine Frage und Bitte ist weiterhin umgangssprachlich formuliert und auch weiterhin als unvollständiger, elliptischer Satz, dennoch kann man nun tatsächlich von einem Gespräch und einer richtigen Kommunikation zwischen den beiden Protagonisten sprechen.

Hier taucht auch der Wunsch nach einem weißen Kaninchen auf, das Hoffnung, Lebendigkeit und Lebensfreude in das Leben des Jungen zurückbringt. (vgl. S. 219, Z. 100) Das weiße Kaninchen steht symbolisch für einen neuen Sinn in seinem Dasein, der es ihm ermöglicht, sich von der selbstgewählten Aufgabe, dem aussichtslosen Kampf gegen die Ratten als Totenwache für den Bruder, zu lösen. Er hat nun die Möglichkeit, sich um ein lebendiges Wesen zu kümmern und kann daher buchstäblich ins Leben zurückkehren.

    Sinnbildlich drückt Borchert darin die Sehnsucht des Kindes aus, sich aus der grauen Ruinenwüste zu lösen. Und die Aussicht, etwas zu tun, handeln zu dürfen, führt den Jungen hinaus aus seiner einsamen Verirrung, in die das Elend und der Schrecken des Krieges ihn stürzten. (Brinkmann, S. 73)

So ändert sich nun auch seine Sprechweise; wurde sie in den letzten Abschnitten zunehmend als »traurig«, »zaghaft«, »leise« und »unsicher« charakterisiert, geht er nun sogar zum Rufen über (vgl. S. 219, Z. 105). So zeigt er sich auch in seiner zurückgekehrten Lebendigkeit wieder als Kind.

Mit dem Angebot, ihn nach Hause zu begleiten, um seinem Vater zu zeigen, wie ein Kaninchenstall gebaut wird, bekommt die noch ferne Vorstellung eines eigenen weißen Kaninchens nun auf einmal eine realistische und beinahe praktische Dimension in der Geschichte. Ob es den Vater zu Hause tatsächlich gibt (was in Kriegszeiten nicht allzu wahrscheinlich ist), wird nicht ausgeführt, aber dieser Vorschlag gibt dem Jungen ein konkretes Ziel, einen Handlungsbedarf, der ihn vom toten, grauen Trümmerfeld zurück nach Hause, zu den Menschen und auch zurück in eine, wenn auch beschädigte Kindheit führt. Nun ist es eine sinnvolle und positiv in die Zukunft gerichtete Aufgabe, wenn er sich um ein lebendiges Kaninchen kümmern darf und etwas aufbauen kann, statt das Zerstörte und Tote zu bewachen.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.