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Nachts schlafen die Ratten doch

Rezeption und Kritik

Heute gilt Wolfgang Borchert trotz seines kurzen Lebens und des schmalen Werkes, das er hinterlassen hat, als einer der bekanntesten Vertreter der »Trümmerliteratur« und als Stimme einer verlorenen und um das Leben betrogenen jungen Nachkriegsgeneration. 

    Kein anderer deutscher Nachkriegsdichter hat kurz nach 1945 soviel Aufsehen erregt wie Wolfgang Borchert. Das schmale Werk, das dieser Autor hinterließ, der im Alter von nur 26 Jahren viel zu früh starb, wurde als mahnendes Vermächtnis an die Nachwelt begriffen. (Poppe, S. 65)

Wie andere Vertreter der jungen Autorengeneration der Trümmerliteratur forderte Wolfgang Borchert nach Kriegsende und dem Zusammenbruch des Dritten Reichs eine völlige »Stunde Null« auch in der Literatur, die Notwendigkeit einer neuen Ästhetik, einer neuen Sprache und Form, um den Erfahrungen von NS-Diktatur, Weltkrieg und völliger Zerstörung Ausdruck zu verleihen. Es war auch der Anspruch, bedingungslos und unmittelbar die ungeschönte Wahrheit darzustellen. Damit sollte der inhaltliche und formale literarische Neuanfang möglichst deutlich von der Sprache der NS-Ideologie abgegrenzt werden, in der sie vor allem als Instrument der Propaganda missbraucht worden war. 

Wolfgang Borchert war einer der ersten, der diese Forderungen in seinem Prosawerk und dem Drama »Draußen vor der Tür« umsetzte: »Es war die Sprache W. Borcherts, nicht so sehr sein thematisches Inventar oder seine im Ansatz erkennbare literar-theoretische Position, die ihm einen besonderen Platz in der deutschen Nachkriegs-Literatur zuwies.« (Poppe, S. 57)

Sein sofortiger und sich auch sogleich in ganz Deutschland wie international verbreitender Ruhm setzte bereits mit der Publikation der ersten Kurzgeschichte »Die Hundeblume« 1946, spätestens dann aber mit der Ausstrahlung des Hörspiels zu »Draußen vor der Tür« im Februar 1947 ein, die ihn über Nacht bekannt machte und der die Uraufführung des Theaterstücks im November 1947 folgte. 

Borchert hatte es geschafft, in seiner unverwechselbaren Sprache den großen Themen der Zeit, Krieg, Tod, Verlust, Heimkehr in die nicht wiederzuerkennende Heimat und desillusionierter Neuanfang, Ausdruck zu verleihen und seiner Generation eine Stimme zu geben, in der sich viele junge Menschen wiedererkannten:

    Borchert gab dieser Jugend ihre Stimme zurück, er fand sich mit ihr im gemeinsamen Schicksal und half ihr, diesem Schicksal zu begegnen. Dieses Verdienst wog in jenen Tagen schwerer als gefälligere literarische Leistungen. (Meyer-Marwitz in Borchert, Gesamtwerk, S.343)

So konstatierte der enge Freund und erste Lektor Wolfgang Borcherts, Bernhard Meyer-Marwitz, in seinem Nachwort zu Borcherts Gesamtwerk 1957. Auch sein viel zu früher Tod trug zum Kultstatus eines Autors bei, dessen Leben und Werk durch die Tragik seiner Zeit bestimmt wurden.

Im November 1947 erschien die Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« im Prosaband »An diesem Dienstag. Neunzehn Geschichten«. Er hat bis heute sehr hohe Verkaufszahlen erreicht. 1948 erschienen noch nachgelassene Erzählungen in den Prosasammlungen »Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck« und »Hundeblumengeschichten«. Bereits im Jahr 1949 publizierte der Rowohlt Verlag sein Gesamtwerk.

    Mit einem schmalen Werk – zwei Dutzend Kurzgeschichten, eine Handvoll Gedichte und das Stück >Draußen vor der Tür< –, das sich der todkranke Dichter abrang, wurde Wolfgang Borchert zur wichtigsten Stimme der deutschen Nachkriegsliteratur, die auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod noch gehört wird. (Borchert, Allein mit meinem Schatten, Vorwort von Gordon J.A. Burgess und Michael Töteberg, S. 9)

In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte Wolfgang Borcherts literarische Stimme eine sehr große Bedeutung. Das Hinausreichen seiner Botschaft und seiner Appelle über das eigene Leben und das eigene Leid hinaus, die weitreichende Bedeutung für seine Generation wurden sogleich erkannt. So konstatierte auch Alfred Andersch, der sich als einer der ersten mit dem Werk Borcherts auseinandersetzte, 1948:

    Borchert hat für uns alle endgültig und radikal gefragt. Es nützt nichts, seine Frage zu wiederholen. Wir müssen uns auf den Weg machen, einen Ausweg zu finden. [...] Aber es ist notwendig, an ihn [Borchert] zu denken, wenn wir uns auf die Suche begeben. (Andersch, Das Gras und der alte Mann, in Burgess/Winter, S. 19)

Zum Erscheinen wurden Wolfgang Borcherts Werke, vor allem sein Drama »Draußen vor der Tür« 1947, zum großen Teil begeistert aufgenommen. Doch empörte oder ablehnende Stimmen blieben nicht aus, und auch Kritik, vor allem auch an der ästhetischen Qualität seiner Werke, gab es bereits damals. So schrieb beispielsweise Fritz Erpenbeck 1948 über »Draußen vor der Tür«: »Borchert war ein Anfänger, er hatte nicht die geringste Ahnung von Dramaturgie« (Burgess/Winter, S. 14).

Auch der Einfluss Borcherts auf die das Literaturgeschehen der Nachkriegszeit bestimmende literarische Vereinigung Gruppe 47 ist unumstritten, auch wenn er selbst aufgrund seiner schweren Krankheit nicht mehr an den ersten Treffen teilnehmen konnte. Der bedeutende Vertreter der Trümmerliteratur, Alfred Andersch, sprach gar vom »Borchertismus« (Burgess/Winter, S. 11), der für den Stil der jungen Nachkriegsschriftsteller der Gruppe 47 prägend und maßgeblich war.

Noch 1969 konstatierte Wulf Köpke, Borcherts Werke hätten »von allem, was um 1946 und 1947 von der jungen Generation geschrieben worden ist, am besten die Zeit überdauert« (Köpke, In Sachen Wolfgang Borchert, in Wolff, S. 86).

Später, ungefähr ab den 1990er-Jahren, änderte sich die Rezeption des Werks von Wolfgang Borchert etwas. So rät etwa Jan Philipp Reemtsma in seinem Beitrag »Und auch Opas M.G.  – Wolfgang Borchert als Veteran«, Borchert eher als »Ausdruck der Mehrdeutigkeit seiner Generation zu lesen« und »endgültig Abschied zu nehmen von der ohnehin nicht probehaltigen Lamettagestalt« (Reemtsma in Burgess/Winter, S. 239). Ein Grund für das große Identifikationspotential, das Borchert und sein Werk für seine Generation bot, lag auch darin, dass er sich mit der deutschen Schuldfrage nicht tiefer auseinandersetzte:

    Draußen vor der Tür lieferte die Formeln und Bilder, mit deren Hilfe sich ein deutsches Publikum von der Vergangenheit lossagen konnte, ohne die Frage nach Verantwortung und Schuld zu stellen, geschweige denn beantworten zu müssen. (Reemtsma in Burgess/Winter, S. 239)

Dennoch ist die Bedeutung Wolfgang Borcherts für seine Zeit bis heute unumstritten. Er wird noch immer viel gelesen, in zahlreiche Sprachen übersetzt und auf den Bühnen gespielt. Vor allem wird er von immer neuen Generationen in seinem beeindruckenden Protest gegen den Krieg und seinem Eintreten für Menschlichkeit und Mitgefühl als Kontrapunkt gegen die Zerstörungen der Kriege aller Zeiten wiederentdeckt. Die Entstehungssituation der Werke Wolfgang Borcherts mag für heutige Leser*innen weit entfernt scheinen und das Pathos, das mit dem verzweifelt gesuchten Neuanfang in der existenziellen Situation der Nachkriegszeit verbunden war, teilweise auch befremdlich wirken. Dennoch bleiben der in Borcherts Werk tief begründete Pazifismus und sein Eintreten für den Einzelnen, sein Individualismus und seine aus Leid erwachsene Eindringlichkeit auch für heutige Leser*innen aktuell und anziehend (vgl. Burgess/Winter, S. 12).

»Nachts schlafen die Ratten doch« ist eine der bekanntesten und am häufigsten interpretierten Kurzgeschichten von Wolfgang Borchert. Neben anderen seiner Kurzgeschichten wie »An diesem Dienstag«, »Das Brot«, »Die Küchenuhr« und »Die Katze war im Schnee erfroren« ist auch sie eine klassische Schullektüre geworden. Sie gelten als typische Beispiele der frühen Trümmerliteratur und setzen die Merkmale der Gattung Kurzgeschichte, wie sie sich in Deutschland in der Nachkriegszeit etablierte, mustergültig um.

1980 stand für Manfred Durzak bei der Einordnung der Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« vor allem ihre mahnende Absicht über die tiefgreifenden Folgen eines Krieges selbst für die Kleinsten im Vordergrund: »Borchert hat hier in äußerster Verdichtung ein Situationsbild entworfen, das den grauenhaften Einbruch des Krieges in die kindliche Vorstellungswelt begreifbar macht.« (Durzak, S. 324)

In den 90er-Jahren bewertete Rainer Poppe die besondere Stellung, die Borchert in der Literaturgeschichte der Nachkriegszeit einnimmt, so: »Für den Leser nach 1945 bis zum Ende der 60er Jahre galt W. Borcherts Werk als das, was es heute wieder zu werden beginnt: als Abbild und Ausdruck einer Menschheit am Abgrund, die Heilung und Hoffnung, Besinnung und Erneuerung braucht.« (Poppe, S.59)

Auch heute noch wird die Erzählung als eine der tröstlichen Kurzgeschichten im Prosawerk Borcherts wahrgenommen, die es schafft, inmitten der Trümmerlandschaft aus zerstörten Leben und zerstörten Träumen einen positiven Ausblick zu geben: »Die Kurzgeschichte verdeutlicht, dass die Sprache als Bindeglied zwischen den Menschen in der Lage ist, Hoffnungslosigkeit auch da zu überwinden, wo die Hoffnung gänzlich verloren scheint« (Blume/Fianke, S. 25).

Es gibt diverse Verfilmungen der Kurzgeschichte als Kurzfilm, unter anderem einen Kurzspielfilm von 1982 unter der Regie von Michael Blume sowie einen siebenminütigen Kurzfilm von Sophie Bierend von 2014.

Neben seinen Kurzgeschichten ist Wolfgang Borchert heute vor allem durch sein Drama »Draußen vor der Tür« bekannt, das noch immer regelmäßig auf deutschsprachigen und internationalen Bühnen aufgeführt wird. Außerdem wird sein pazifistisches Manifest »Dann gibt es nur eins!« noch immer in der Friedensbewegung lebendig gehalten.

Die wissenschaftliche germanistische Forschung zum Werk Wolfgang Borcherts hat sich seit den 1950er- und 1960er-Jahren eher ins Ausland verlagert. Vielleicht ist ein Grund dafür, dass Borchert heute in Deutschland vor allem als »Schulbuchautor« gilt. So entstanden wichtige wissenschaftliche Publikationen zum Werk Borcherts von Germanist*innen außerhalb Deutschlands, beispielsweise in Ungarn, Polen, Italien, Bulgarien, Kanada und Schottland (vgl. Sammelband von Burgess/Winter). Seit 1987 gibt es die Internationale Wolfgang-Borchert-Gesellschaft, die sich in Jahresheften der wissenschaftlichen Erforschung und Verbreitung der Bekanntheit der Werke Wolfgang Borcherts widmet (vgl. Burgess/Winter, S. 11).

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.