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Nachts schlafen die Ratten doch

Prüfungsfragen

  • Das Motiv der Sonne durchzieht die gesamte Kurzgeschichte. Beschreiben Sie, wie das Motiv eingesetzt wird, ob und wie es sich verändert und was das Motiv der Sonne in der Entwicklung der Figuren symbolisiert.

    Die Sonne ist eines der positiven Motive der Erzählung, die antithetisch den negativen Motiven gegenüberstehen und so zu der auf inhaltlichen und formalen Gegensätzen beruhenden Struktur beitragen. Bereits zu Beginn (1. Absatz) ist es die Abendsonne, die die leblose, scheinbar unbewohnte und von Zerstörung geprägte Landschaft belebt. Hier ist die Sonne noch »blaurot«, was auf die Einflüsse der expressionistischen Farbsymbolik verweist und eine eher apokalyptische Atmosphäre entstehen lässt.
    Einen direkten Bezug gibt es zwischen der unvermittelt auftauchenden Figur des älteren Mannes und dem Motiv der Sonne: »Jürgen blinzelte zwische den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne« (S. 216), dieser Hinweis findet sich an verschiedenen Stellen des Textes (vgl. S. 216/217/219). In der Abschlussszene der Kurzgeschichte, die mit dem Beginn einen Rahmen bildet, läuft der alte Mann schließlich »auf die Sonne zu« (S. 219), sie scheint nun durch seine krummen Beine hindurch zu Jürgen (vgl. ebd.). Der ältere Mann tritt tatsächlich wie ein »Lichtbringer« in das Leben des kleinen Jungen, das durch die Begegnung wieder mit neuer Hoffnung erfüllt ist.
    Im letzten Abschnitt ist die Sonne dann auch »rot vom Abend« (ebd.), sie strahlt nun wärmer, was auf das Vertrauen und die zwischenmenschliche Nähe hinweist, die sich durch das Gespräch zwischen dem alten Mann und dem Jungen entwickelt haben.

  • Untersuchen Sie die beiden Protagonisten der Kurzgeschichte: Wie werden Jürgen und der alte Mann beschrieben, was erfährt man über sie?

    Von beiden Protagonisten erfährt der/die Leser*in nicht viel; es gibt keine direkte Charakterisierung durch einen Erzähler. Über ihr Äußeres, ihre Herkunft und weitere persönliche Details gibt es nur Andeutungen. Ihr innerer Zustand sowie ihre innere Entwicklung im Laufe der Erzählung lassen sich nur indirekt an ihren Gesten, ihren Antworten im Gespräch sowie ihren Verhaltensweisen ablesen. Der ältere Mann bleibt sogar die ganze Geschichte über namenlos, vom kleinen Jungen erfährt man erst im dritten Abschnitt seinen Namen und noch später, dass es sich um einen erst neunjährigen Jungen handelt.
    Äußere Details des alten Mannes sind seine krummen, »etwas ärmlich behoste[n] Beine« (S. 216), die einzige Beschreibung Jürgens ist das »Haargestrüpp« (ebd.), auf das der alte Mann mehrfach hinunterblickt, wenn er mit dem Jungen spricht.
    Beide Figuren bleiben so eher Typen als genau definierte Charaktere, was typisch für das Genre der Kurzgeschichte der Trümmerliteratur ist. Die hier auftretenden Figuren sollen allgemeingültig für existenzielle menschliche Erfahrungen und Schicksale stehen, mit denen sich die Leser*innen leicht identifizieren können.

  • Wie ist das Verhältnis der beiden Figuren zueinander und wie verändert es sich im Laufe der Geschichte? Wie schafft es der ältere Mann, Jürgens Vertrauen zu gewinnen und ihn schließlich dazu zu bringen, nach Hause zu gehen?

    Zu Beginn erschrickt Jürgen, als der ältere Mann unvermittelt vor ihm steht: »Mit einmal wurde es noch dunkler« (S. 216). »Jetzt haben sie mich!« (ebd.) ist seine Befürchtung. Sein Verhalten gegenüber dem Unbekannten bleibt lange Zeit über verschlossen und von Misstrauen geprägt, er beantwortet die an ihn gerichteten Fragen nur widerwillig und bruchstückhaft, auch dann noch, als er erkennt, dass es sich um einen älteren, vom Krieg ebenso mitgenommenen Mann handelt, der ihm offensichtlich freundlich gesonnen ist.
    Die Absichten des Mannes bleiben zwar noch längere Zeit im Dunkeln, jedoch begegnet er dem Jungen freundlich und mitfühlend. Er geht auf ihn ein, nimmt ihn ernst, lobt ihn und beginnt schmeichlerisch, seinen Ehrgeiz zu wecken.
    Durch seine kluge Gesprächsstrategie, die den Jungen nie von oben herab behandelt und ihn nicht versucht zu überzeugen, schafft er es, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. Das zunächst abweisende, von vermeintlich »erwachsener« Unabhängigkeit geprägte Verhalten Jürgens wandelt sich. Er zeigt immer mehr von dem in ihm verborgenen ängstlichen und unsicheren Kind, das sich in einer furchtbaren Lebenssituation befindet.
    Durch die Erwähnung der Kaninchen weckt der alte Mann schließlich die kindliche Neugier des Jungen. Seine Notlüge eröffnet dem Jungen eine Lösung aus seiner Zwangslage, zeigt ihm einen Ausweg, bei dem er wieder Kind sein darf. Gleichzeitig lässt er ihm den Glauben an die Sinnhaftigkeit seiner selbst auferlegten Aufgabe. Zum Schluss ist das Verhältnis der beiden ein völlig gewandeltes, von Vertrauen geprägtes, das Hoffnung macht auf eine positive Wendung im Leben des Jungen.

  • Was symbolisieren die Motive der Kaninchen und Ratten im Text und wie stehen diese beiden Motive zueinander?

    Das Motiv der Kaninchen wird noch vor dem titelgebenden Motiv der Ratten in die Kurzgeschichte eingeführt. Ihre Erwähnung durch den alten Mann (»Stimmt, sagte der Mann, genau soviel Kaninchen habe ich«, S. 217, Z. 41) ist der erste Höhepunkt der Geschichte. An diesem Punkt bricht der Panzer, mit dem sich der Junge umgeben hat, das erste Mal auf, seine kindliche Neugier kommt zum Vorschein: »Jürgen machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig?« (ebd.) Die Kaninchen treten wie Hoffnungsträger in seine zerstörte Welt ein, sie symbolisieren das Reine und Helle, mit ihnen kommt auch das erste Mal die Farbe Weiß in das trostlose Grau der Kriegslandschaft (vgl. S. 218, Z. 92). Sie stehen für das Leben und eröffnen mit der Möglichkeit einer sinnvollen Aufgabe, der Verantwortung für ein lebendiges Wesen, auch eine positive Zukunftsperspektive für Jürgen.
    Ihnen gegenüber stehen antithetisch die Ratten als Symbol für Tod, Verwesung, für das Dunkel und die ständige Bedrohung. Sie sind Begleiter des Krieges und der Zerstörung alles Liebgewonnenen, hausen in den grauen Trümmern. Jürgen versucht, sie mit seinem großen Stock in einem sinnlosen Kampf abzuwehren und den toten Bruder vor ihnen zu beschützen. Die Notlüge, der titelgebende Satz »Nachts schlafen die Ratten doch«, nimmt ihnen den bedrohlichen Charakter und eröffnet Jürgen einen Ausweg.

  • Welche literarischen Mittel werden im ersten Abschnitt (S. 216, Z. 1-3) der Kurzgeschichte eingesetzt und welchen Effekt haben sie?

    Der erste Abschnitt ist Teil des Rahmens der Kurzgeschichte und hebt sich vom Rest des Textes auch sprachlich und stilistisch ab. Die Motivik und der bewusste Einsatz der Farbsymbolik erinnern an die Literatur des Expressionismus. Im Vergleich zur restlichen Kurzgeschichte finden sich im ersten Abschnitte recht viele sprachliche Mittel, die zu einem sehr dichten und intensiven Leseerlebnis führen.
    Am auffälligsten sind die Personifikationen der Dinge, die die Zerstörungen des Krieges übrig gelassen haben: »Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte [...]. Die Schuttwüste döste« (S. 216). Nur in ihnen zeigt sich noch das Leben, das einst in diesem Haus und in der Stadt herrschte. Sie verstärken den Eindruck der Leblosigkeit und Verlassenheit der Szene. Auch die zahlreichen in diesem Abschnitt verwendeten Alliterationen tragen zu einer Intensivierung bei: »Staubgewölke [...] steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste« (ebd.). Insgesamt entsteht durch den dichten Text der Eindruck einer apokalyptischen Atmosphäre, die den Hintergrund der Kurzgeschichte bildet.

  • Wie verhalten sich die Eingangsszene (S. 216, Z. 1-3) und die Schlussszene der Erzählung (S. 219, Z. 107-112) zueinander? Was hat sich am Ende in Bezug auf den Anfang verändert?

    Die Kurzgeschichte beginnt in einem Zustand der Leblosigkeit und des Stillstands; statt der Menschen gähnen hier die hohlen Fenster und döst die Schuttwüste (vgl. S. 216). Die einzige Bewegung ist das Flimmern der »Staubgewölke«. Zwar illuminiert die Abendsonne die Szenerie, doch ihr Licht ist »blaurot« und erzeugt daher eher den Eindruck von Kälte und einer apokalyptisch verlassenen Landschaft der Zerstörung.
    Die Kurzgeschichte endet mit einer fast identischen Szene; die zerstörte Stadtlandschaft hat sich äußerlich kaum verändert. Der erste und letzte Abschnitt bilden daher zusammen einen Rahmen für die Erzählung, in der der Raum der Handlung vorgestellt wird und sich der allwissende Erzähler zu Wort meldet. Dennoch gibt es einige auffällige Veränderungen zwischen Anfang und Ende: Die Abendsonne leuchtet am Ende nun warm und rot und ermöglicht daher einen positiven Ausblick. Zudem ist der Junge nun nicht mehr allein und verlassen in der Trümmerlandschaft. Der alte Mann, mit dem er ein Gespräch geführt hat und zu dem er Vertrauen gefasst hat, läuft »auf die Sonne zu« (S. 219). Durch ihn ist Bewegung in die bisherige Statik der Szenerie gekommen. Vor allem hat er Bewegung in die Zwangslage des kleinen Jungen gebracht und wieder Hoffnung und neuen Lebenswillen in ihm entstehen lassen.
    Sehr auffällig ist auch die veränderte Farbsymbolik: Neben dem Rot der Sonne bildet das Grün des Kaninchenfutters ein leuchtendes Signal der Hoffnung und des Lebens, wenn es auch noch »etwas grau vom Schutt« (ebd.) ist.

  • Welche typischen Merkmale des Genres Kurzgeschichte finden sich im Text wieder?

    Mit dreieinhalb Seiten Textlänge weist die Geschichte die erforderliche Kürze der Gattung auf, in deren Mittelpunkt ein Konflikt steht, der zu einem Wendepunkt führt. Dies ist der einsam in der Ruine ausharrende kleine Junge, dem der alte Mann helfen möchte, was er schließlich erst durch eine Notlüge schafft.
    Ein weiteres typisches Merkmal ist die Reduktion auf einen Ort und eine sehr kurze Zeitspanne der Erzählung. Charakteristisch ist darüber hinaus die Konzentration auf nur zwei handelnde Personen, die zudem noch typisiert dargestellt werden und nicht individuell gezeichnet sind, sowie einen Handlungsstrang, der sich hier fast gänzlich im Dialog der beiden Protagonisten abspielt.
    Die Geschichte zeichnet sich durch eine sehr einfache, karge Sprache aus, die hauptsächlich aus kurzen Sätzen, teilweise auch aus unvollständigen, elliptischen Sätzen besteht. Die beschreibende Eingangsszene, die den Ort der Handlung vorstellt und in die Szenerie einführt, weicht von dem häufig sehr abrupten Einstieg typischer Kurzgeschichten ab, doch erweist sich das offene Ende als klassisches Merkmal der Gattung Kurzgeschichte.

  • An welchen Elementen im Text zeigt sich, dass die Geschichte am Ende des Zweiten Weltkriegs spielt? Warum werden Ort und Zeit nicht genauer bestimmt?

    Es wird im Text an keiner Stelle explizit erwähnt, dass der zeitliche Hintergrund der Zweite Weltkrieg ist. Dies ergibt sich erst durch Kenntnis der Biografie und der literaturgeschichtlichen Einordnung des Autors Wolfgang Borchert. Das gilt ebenso für die geografische Verortung; lediglich das Wort »Sonnabend« (S. 217) verweist auf einen norddeutschen Bezug der Geschichte. Auch hier lässt sich nur durch Kenntnis der Biografie des Autors folgern, dass es sich um die Stadt Hamburg nach den großflächigen Zerstörungen durch Luftangriffe im Juli 1943 handelt.

    Hinweise auf einen Krieg als Hintergrund der Handlung finden sich aber schon im ersten Abschnitt durch Beschreibungen wie »das hohle Fenster«, »steilgereckte Schornsteinreste« und »Schuttwüste« (S. 216). Die Tatsache, dass der alte Mann »ärmlich behoste Beine« (S. 216) hat und auf der Suche nach Kaninchenfutter ist, weist zumindest auf eine allgemeine Notsituation hin. Auch, dass der Junge ein Stück Brot und eine Blechschachtel mit Tabak versteckt hat, sind typische Motive der Kriegszeit.
    Der stärkste Hinweis auf den Kriegshintergrund ist der Bericht des kleinen Jungen über den Bombenangriff auf sein Elternhaus. Sie zeigt die traumatischen Erinnerungen der Kinder, die zur Zeit der Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg in den Städten aufgewachsen waren. Ein Hinweis darauf, dass die zeitliche Einordnung noch immer im Zweiten Weltkrieg und nicht in der unmittelbaren Nachkriegszeit anzusetzen ist, ist die Angabe des Jungen, er halte schon seit Sonnabend Wache (vgl. S. 217). Das verweist darauf, dass der Luftangriff, bei dem sein Wohnhaus zerstört wurde, noch nicht allzu lange zurückliegt.

    Das Fehlen einer genauen Orts- und Zeitangabe ist ein typisches Element des Genres Kurzgeschichte, vor allem auch jener Kurzgeschichten, die der Trümmerliteratur zugeordnet werden. Sie erhalten so einen allgemeingültigen, weit über die konkrete Literaturepoche der Trümmerliteratur hinausreichende Bedeutung. Die Erlebnisse der Menschen sind als existenzielle Erfahrungen zu verstehen, mit denen sich Leser*innen aller Zeiten identifizieren können.

  • Welche sprachlichen Mittel werden im Absatz Z. 81-84 (S. 218) eingesetzt und welche Wirkung haben sie auf den Jungen bzw. den/die Leser*in?

    Bei der ausgewählten Passage handelt es sich um den Wendepunkt der Kurzgeschichte. Die Notlüge des alten Mannes, die er auch sprachlich auf eindrückliche Weise untermauert, wird zu dem Ereignis, das nicht nur der Geschichte, sondern auch dem Leben des kleinen Jungen die entscheidende Wende gibt.

    Die drei entscheidenden Sätze, mit denen der alte Mann den Jungen überzeugt, sind alle parallel gebaute Parataxen: »Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer« (S. 218). Die wiederholte Anapher »Nachts« gibt den Sätzen zusätzlich einen einhämmernden Rhythmus, der in seiner Dichte an Lyrik erinnert. Der Absatz schließt mit dem elliptischen Abschlusssatz, der auch eine Inversion aufweist: »Wenn es dunkel wird, schon« (ebd.), der dem Jungen den Ausweg aufweist, zu Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurückkehren zu können.

  • Welche Wirkung hinterlässt die Lektüre der Kurzgeschichte und welche Intention könnte der Autor damit verfolgt haben?

    Durch den apokalyptischen Hintergrund der Kriegszerstörung, in dessen Mitte sich ein einsamer kleiner Junge befindet, scheint es sich bei »Nachts schlafen die Ratten doch« zunächst um eine eher negative und deprimierende Kriegsgeschichte aus der Epoche der Trümmerliteratur zu handeln. Dies steigert sich noch, wenn der Junge seinen Vorrat, ein Stück Brot und eine Blechschachtel mit Tabak vorzeigt, und vor allem, wenn er den Grund für sein Ausharren in der Ruine seines zerstörten Wohnhauses offenbart: die Totenwache für seinen kleinen Bruder unter den Trümmern, um ihn vor den gefräßigen Ratten zu beschützen.
    Dennoch lässt der, wenn auch offene, Schluss der Geschichte den/die Leser*in schließlich getröstet und voller Hoffnung zurück. Es scheint sich ein Ausweg aufzutun, der es dem kleinen Jungen ermöglicht, weiterzuleben, nach Hause zurückzukehren, ohne jedoch seinen kleinen Bruder verraten und seine Aufgabe als sinnlos erkennen zu müssen. Dies ist vor allem durch die gelingende Kommunikation zwischen den beiden Protagonisten bedingt. Wolfgang Borchert zeigt uns durch die Figur des alten Mannes und sein sensibel und geschickt geführtes Gespräch mit dem kleinen Jungen, dass es mitfühlende Menschlichkeit und das einander Nahesein sind, die auch in Kriegs- und Krisenzeiten Rettung für den Einzelnen bringen. Solange wir uns diese menschliche Kraft bewahren, können wir die schlimmsten traumatischen Erfahrungen überstehen und Hoffnung für eine gemeinsame Zukunft wiederfinden.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.