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Nachts schlafen die Ratten doch

Zitate und Textstellen

  • »Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerte zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste«.
    – Jürgen - S. 216

    Die Eingangsszene bildet einen Rahmen für die Kurzgeschichte und hebt sich auch stilistisch und sprachlich vom Rest des Textes ab. Hier tritt der allwissende Erzähler auf, der den Hintergrund der Handlung beschreibt. Die Szene wird am Schluss der Erzählung noch einmal wiederholt, allerdings mit signifikanten Veränderungen, die die inneren Wandlungen der Figuren widerspiegeln.

    Beschrieben wird eine scheinbar leblose, verlassene Landschaft, die von Zerstörung und Stillstand geprägt ist: das hohle Fenster »gähnte«, die Schuttwüste »döste«. Von Haus und Stadt sind nur Trümmer und Schutt geblieben, statt menschlichem Leben werden die übrig gebliebenen Dinge personifiziert. »In der Personifikation leben die Überreste eines Lebens weiter, das sich jetzt bloß noch als leidende Verwüstung und zugleich als träge Duldsamkeit offenbart« (Giachino, S. 1).

    Auffällig ist außerdem die expressive Farbsymbolik: »Das Fenster [...] gähnte blaurot”, was in Verbindung mit dem Neologismus »Staubgewölke« und der Alliteration »steilgereckte Schornsteinreste«, »Schuttwüste« eine apokalyptische Landschaft entstehen lässt. Diese Szene zeigt Borcherts Prägung durch die Literatur des Expressionismus: »Kein literarisches Erlebnis hatte den jungen Dichter so ergriffen wie diese Epoche« (Poppe, S. 23).

  • »Jetzt haben sie mich! dachte er«
    – Jürgen - S. 216

    Dies ist der einzige innere Monolog der Kurzgeschichte, mit dem der Erzähler in die Innenperspektive Jürgens wechselt. Die Befürchtung entsteht in dem Jungen, als er trotz seiner geschlossenen Augen merkt, dass sich ihm jemand genähert hat und plötzlich in der Hausruine vor ihm steht. Der Schatten des Mannes verdunkelt die Abenddämmerung noch weiter.

    Im Text wird nicht weiter ausgeführt, was der Grund für diese Befürchtung ist, warum Jürgen sich bedroht fühlt und annimmt, erwischt worden zu sein und von wem. Es kann ein Hinweis darauf sein, dass Jürgen von zu Hause abgehauen ist, um seinen Wachdienst für den kleinen Bruder heimlich zu verrichten. Auf jeden Fall zeigt es das allgemeine Gefühl der Bedrohung und Anspannung, unter dem der Junge steht und das aus seiner Traumatisierung und seiner überschatteten Kindheit im Krieg resultiert.

  • »Jürgen blinzelte zwischen den Beinen des Mannes hindurch in die Sonne und sagte: Nein, ich schlafe nicht. Ich muß hier aufpassen.«
    – Jürgen - S. 216

    Durch das plötzliche Auftauchen des alten Mannes wird Jürgen aufgeschreckt, nachdem er zuvor ganz bewegungslos und mit geschlossenen Augen fast schon Teil der leblosen, statischen Trümmerlandschaft um ihn herum geworden war: »Die Stadt und der Mensch wurden durch den Krieg tief getroffen und befinden sich im Zustand einer lähmenden Ermattung« (Gehse, S. 80). Sein Blinzeln ist eine erste Bewegung und ein erstes Lebenszeichen.

    Die Beschreibung, dass Jürgen durch die krummen Beine des alten Mannes hindurchsieht, wird im Laufe der Kurzgeschichte mehrfach wiederholt. Sie verdeutlicht zum einen die Perspektive Jürgens, aus der heraus der/die Leser*in der Geschichte folgt, aber auch den Größen- und Altersunterschied zwischen dem Jungen und dem alten Mann, der ihn immer von unten nach oben auf seinen Gesprächspartner blicken lässt.
    Hier wird zum ersten Mal das Motiv der Sonne in Verbindung mit dem alten Mann gebracht; durch seine Beine hindurch sieht der Junge die Sonne. Die Sonne gehört zu der Gruppe der positiven Symbole der Kurzgeschichte, die der Gruppe der negativen Symbole von Tod und Verwüstung entgegenstehen. Durch die Figur des alten Mannes tritt die Sonne in Jürgens Leben, sie steht für »Wärme, Leben, Menschlichkeit« (vgl. Burger/Bange, S. 61). Der alte Mann hat damit sinnbildlich das Licht in Jürgens Leben zurückgebracht.

    Zudem kommt hier das erste Mal das Aufpassen und Wachehalten zur Sprache, das Jürgen sich auferlegt hat, um den kleinen Bruder zu schützen. In der Formulierung »Ich muß hier aufpassen« zeigt sich auch der Zwang, dem der Junge damit ausgesetzt ist und der auch aus seinem Schuldgefühl herrührt, den Bruder beim Bombenangriff nicht geschützt zu haben, obwohl er doch »viel kleiner« (S. 218) war, als er.

  • »Ich muß hier aufpassen. Der Mann nickte: So, dafür hast du wohl den großen Stock da? Ja, antwortete Jürgen mutig und hielt den Stock fest.«
    – Jürgen und älterer Mann - S. 216

    Die Textstelle zeigt, wie der alte Mann von Anfang an auf den Jungen eingeht, sensibel und einfühlsam, und sich auch sprachlich auf seine kindliche Ausdrucksweise einstellt. Er versucht nicht, ihn zu belehren, ihm etwas auszureden, sondern er nimmt ihn ernst und versteht es auf kluge und mitfühlende Weise, sein Vertrauen zu gewinnen.

    Der Stock ist eines der Attribute, mit denen Jürgen sich zum einen gegen seine feindliche Umwelt wappnet, zum anderen aber auch die Rolle des vermeintlich starken, unabhängigen Erwachsenen spielt. Das zeigt sich auch daran, dass er den Stock immer dann besonders fest umklammert, wenn er eigentlich unsicher oder ängstlich ist (vgl. »Jürgen faßte seinen Stock fest an und sagte zaghaft«, S. 217). Darauf verweist auch hier das Adverb »mutig«. Dahinter verbergen sich eigentlich das ganze Misstrauen und die Ängstlichkeit des Kindes, das versucht, mit dem großen Stock nicht nur die gefräßigen Ratten, sondern alle Gefährdungen abzuwehren, die in der Trümmerlandschaft lauern.

  • »Stimmt, sagte der Mann, genau soviel Kaninchen habe ich. Jürgen machte einen runden Mund: Siebenundzwanzig?«
    – Älterer Mann und Jürgen - S. 217

    Sprachlich ist auch diese Textstelle Teil der Umgangssprache, die die Dialoge in der gesamten Kurzgeschichte prägt: »soviel Kaninchen habe ich«. Sie ist ein Zeichen für die Wahrhaftigkeit, die die Sprache der Trümmerliteratur zu erreichen versucht und mit der nach Kriegsende ein literarischer Neuanfang gelingen soll. Überdies ist sie äußeres Kennzeichen für die Allgemeingültigkeit, für die die existenziellen, alltäglichen und für alle verständlichen Lebenssituationen und Figuren in den Kurzgeschichten Borcherts und der Trümmerliteratur stehen.

    Der Moment, in dem der ältere Mann Jürgen von seinen 27 Kaninchen erzählt, ist ein Höhepunkt in der Struktur der Kurzgeschichte und der Anfang der dynamischen Entwicklung, durch die es Jürgen möglich wird, wieder ins Leben und in eine Art kindlicher Geborgenheit zurückzukehren. Der »runde Mund«, den er bei der Erwähnung der Kaninchen macht, zeigt, dass in diesem Moment bereits das Kindliche durchbricht; die Neugier, das Erstaunen und im Weiteren dann auch Aufregung und Freude. »Diese Mitteilung weckt die kindlichen Interessen des Jungen, greift seine Abwehrmechanismen an. Seine zerrüttete Welt scheint für einen Augenblick außer Kraft gesetzt« (Giachino, S. 2).

  • »Du kannst sie sehen. Viele sind noch ganz jung. Willst du? Ich kann doch nicht. Ich muß doch aufpassen, sagte Jürgen unsicher. Immerzu? fragte der Mann, nachts auch? Nachts auch. Immerzu. Immer.«
    – Älterer Mann und Jürgen - S. 217

    Nachdem seine Strategie des Ausfragens nicht zum Erfolg geführt, sondern nur Jürgens Misstrauen und Widerwillen erhöht hat, versucht der alte Mann nun, seine Neugier und den kindlichen Spieltrieb durch die Aussicht auf die Kaninchen zu wecken. Dies gelingt ihm auch, Jürgen wird unsicher, beginnt, an seiner selbst gestellten Aufgabe zu zweifeln. Die Verlockung, etwas so Lebendiges, Frohes und Weiches wie die kleinen Kaninchen sehen zu können, zieht ihn langsam aus den leblosen Trümmern fort.

    Noch ruft er sich selbst zurück, versucht, sich an die Verantwortung für den Bruder und seine Aufgabe, ihn vor den Ratten zu beschützen, zu erinnern. Darauf verweist die parallele Satzstruktur mit den Parataxen seiner Antwort, die seinen inneren Zwang noch stärker verdeutlicht. In den beiden folgenden, elliptischen Sätzen wird die Verzweiflung seiner Lage auch sprachlich eindrücklich veranschaulicht. Jürgens Antwort »Nachts auch. Immerzu. Immer« weist mit der Form der Klimax eine Steigerung und Zuspitzung auf, zudem wird hier ein Chiasmus verwendet, mit dem Jürgen die Worte des alten Mannes aufnimmt und umstellt, so dass sie in »immer« gipfeln.

  • »Wegen den Ratten? Ja, die essen doch von Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von. Wer sagt das? Unser Lehrer.«
    – Älterer Mann und Jürgen - S. 218

    Jürgen spricht hier das erste Mal davon, welche Bedrohung er in der Ruine mit dem großen Stock abwehren will, wenn auch sein Gesprächspartner den genauen Grund seiner Wache dort noch nicht kennt. Die einfache kindliche Sprache, in der zudem die gebrochenen, elliptischen und dialektal gefärbten Sätze auffallen, macht den Kontrast zum grausamen Inhalt um so stärker.
    Hier tauchen zum ersten Mal die Ratten auf, die für Tod, Verwesung, Zerstörung und eine konstante Bedrohung stehen. Sie bilden damit eine starke Antithese zu den weißen, weichen Kaninchen, ein Symbol für alles Helle, Friedliche und Lebensfrohe. Das Gegensatzpaar Ratten – Kaninchen ist ein Beispiel für die zahlreichen »polaren Bildstrukturen« (Durzak, S. 324), auf denen die Geschichte aufgebaut ist. »Borchert hat hier in äußerster Verdichtung ein Situationsbild entworfen, das den grauenhaften Einbruch des Krieges in die kindliche Vorstellungswelt begreifbar macht« (Durzak, S. 324).

    Zudem wird mit dem Lehrer die Institution Schule angesprochen, die bei Borchert oft negativ konnotiert ist, so auch hier. Die Autorität des Lehrers wird entwertet, da er die Kinder in der aktuellen Situation des Bombenkrieges mit grausamen Wahrheiten konfrontiert, statt ihnen zu helfen, wie es dem älteren Mann gelingt, und sie einfühlsam durch die schwierige Kriegszeit zu begleiten.

  • »Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer.«
    – Älterer Mann - S. 218

    Dies ist der zentrale Kernsatz der Kurzgeschichte, der auch im Titel aufgegriffen wird. Es ist gleichzeitig auch der Wendepunkt in der Struktur der Geschichte. Die Notlüge der nachts schlafenden Ratten bringt Jürgen dazu, nach und nach von der selbst auferlegten Aufgabe zu lassen und ins Leben zurückzukehren. Er darf die Trümmerwüste und das zerstörte Haus verlassen, darf zu seiner Familie zurückkehren und wieder Kind sein. Die Aussicht auf ein Kaninchen gibt ihm zudem eine sinnvolle Aufgabe, bei der er sich um etwas Lebendiges kümmern kann, statt die Toten zu bewachen. Dies geschieht nicht, indem der alte Mann ihn überredet oder ihn von der Sinnlosigkeit seines Tuns überzeugen will, sondern mithilfe der Lüge. Sie gibt dem Jungen die Möglichkeit, den Bruder nicht aufgeben zu müssen und sich dennoch selbst retten zu können.

      So rettet er mit dieser Lüge paradoxerweise das Leben des Jungen, holt ihn in die Wirklichkeit zurück. [...] Der ältere Mann rettet den Jungen, indem er ihn wieder zum Kind werden läßt und aus jener Zwangslage erlöst, in die ihn die Bombendetonation und der Satz des Lehrers gebracht haben. (Durzak, S. 323)

    Die Bedeutung und Eindringlichkeit dieses Kernsatzes wird sprachlich durch die dreimalige Anapher »Nachts« ebenso unterstrichen wie durch die kurzen, parallel gebauten, parakatischen Sätze, was ihnen einen einhämmernden, repetitiven Rhythmus verleiht.

  • »Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten. [...] Jürgen machte kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue.«
    – Jürgen - S. 218

    Nach der befreienden Lüge nutzt Jürgen seinen großen Stock, seine Waffe im Kampf gegen die Ratten, zum ersten Mal nicht zur Verteidigung, sondern in spielerischer Weise, indem er Kuhlen in den Schutt zeichnet. Dies ist bereits ein äußeres Zeichen, in dem sich seine beginnende innere Wandlung spiegelt.

    Zunächst wird sich der Junge seiner Erschöpfung durch das tagelange Wachehalten bewusst: »Jürgen [...] sah mit einmal ganz müde aus« (S. 218). Die Kuhlen sind daher in seiner Vorstellung »lauter kleine Betten«. Dies zeigt seine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einem Zuhause, auf. Die Verwandlung der Betten in Kaninchen verweist auf die positive Zukunftsperspektive, die ihm die Aussicht auf die Kaninchen bietet. Vor allem das Angebot, vielleicht selbst ein solches Kaninchen haben zu dürfen, gibt ihm Sinn und Aufgabe im Chaos des Krieges und der Zerstörung. In das Grau der Trümmerlandschaft bringen die Kaninchen nun die Farbe Weiß, die für Reinheit, Unschuld, Licht und Frieden steht.
    Auch sprachlich wird die Eindringlichkeit dieser Szene durch die wiederholte Alliteration »kleine Kuhlen«, die parallele Satzstruktur und die Anaphern zu Beginn der Sätze unterstrichen.

  • »Und der Korb schwenkte aufgeregt hin und her. Kaninchenfutter war da drin. Grünes Kaninchenfutter, das war etwas grau vom Schutt.«
    – Erzähler - S. 219

    Dieser Schlusssatz bildet zusammen mit der Anfangsszene den Rahmen der Kurzgeschichte. Auffällig sind jedoch die Veränderungen im Vergleich zum Beginn. Sie bilden wie ein Spiegel die inneren Wandlungen und Entwicklungen ab, die sich unter der Oberfläche der Geschichte vollzogen haben.

    Statt lähmendem Stillstand und lebloser Leere gibt es nun Bewegung. »Der Korb schwenkte aufgeregt hin und her« (S. 219): »Das Statische ist ins Dynamische übergegangen« (Hirschenauer, S. 81). Auch hier wird wieder das sprachliche Mittel der Personifikation eingesetzt. Die Aufregung des Korbes spiegelt die des alten Mannes wider, dem es gelungen ist, den Panzer, mit dem der kleine Junge sich umgeben hat, aufzubrechen, sein Vertrauen zu wecken und ihn damit retten zu können. »So endet die Erzählung zwar da, wo sie begann, zwischen den Ruinen, aber es ist keine ausweglose Situation mehr, obwohl eigentlich äußerlich nichts anders geworden ist« (ebd.).

    Auffällig ist auch hier die bewusste Verwendung der Farbsymbolik: Zum Grau der Trümmerlandschaft ist nun das Grün des Kaninchenfutters hinzugekommen und mit ihm sind Hoffnung und neuer Lebenswille in das Leben des Jungen eingezogen. Zwar ist auch das Grün des Futters noch »etwas grau vom Schutt«, trotz aller Hoffnung auf die Zukunft bleiben der Krieg und die zerstörte Stadt präsent im Leben des Jungen. Doch es gibt darin nun eine neue Farbe, die durch menschliche Nähe und Zuneigung zu ihm gekommen ist.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.