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Nachts schlafen die Ratten doch

8. Abschnitt, Zeile 85-95

Zusammenfassung

Der ältere Mann macht dem Jungen nun den Vorschlag, ihn später auf dem Rückweg von seinen Kaninchen, die er noch füttern möchte, abzuholen und ihm dabei auch ein kleines Kaninchen mitzubringen. Die kleinen Kuhlen, die Jürgen währenddessen mit seinem Stock in den Schutt zeichnet, verwandeln sich in seiner Vorstellung nun von kleinen Betten in kleine Kaninchen. Noch hält die Unsicherheit Jürgens an, ob er seine Wache wirklich aufgeben darf.

Analyse

Der folgende Abschnitt wird umrahmt von dem sich wiederholenden, beinahe identischen Satz »Jürgen machte [mit seinem Stock] kleine Kuhlen in den Schutt« (S. 218, Z. 85/91). Dies zeigt die Entwicklung an, die sowohl im Inneren des Jungen, als auch in der Handlung der Erzählung durch den Wendepunkt, die Notlüge der nachts schlafenden Ratten, in Gang gesetzt wurde. Die kleinen Kuhlen sind in Jürgens Vorstellung erst kleine Betten, was seine Übermüdung und seine Sehnsucht nach Geborgenheit deutlich erkennen lässt. Auch greifen diese »Betten« das Wort aus der Notlüge des Mannes wieder auf und deuten schon den Ausweg an, den sie dem kleinen Jungen eröffnet. Die Kuhlen verwandeln sich dann in Kaninchen; mit ihnen tritt der Aspekt der kindlichen Freude und Neugier wieder in sein Leben, sie geben ihm eine Perspektive, für etwas Lebendiges Verantwortung zu tragen. Die sprachlichen Alliterationen in diesen Wiederholungen (»kleine Kuhlen, [...] lauter kleine Kaninchen«, ebd.) machen diese innere Wandlung noch eindrücklicher. Die Kaninchen als Vertreter des Lebens verdrängen somit nach und nach das schreckliche Bild der sich von den Toten ernährenden Ratten in der Vorstellung des Kindes und nehmen schließlich ihren Platz ein.

    Er findet aus Mißtrauen und Verhärtung auf eine ganz kindliche Weise, aus der zunächst geweckten Neugier über den Spieltrieb und die Sehnsucht nach Geborgenheit das Vertrauen, das dem alten Mann ermöglicht, ihm durch seine gültige Notlüge seine Hauptsorgen zu nehmen. (Brinkmann, S. 73)

Noch ist bei Jürgen die Unsicherheit darüber geblieben, ob er seinen Wachposten tatsächlich verlassen darf. Dies wird auch an der als »leise« charakterisierten Sprechweise ablesbar. Er zeigt sich nun allerdings auch wieder als das verunsicherte, verletzte Kind, das er ist und hat die Rolle des abweisenden, verschlossenen Erwachsenen, die er zuvor spielen musste, ganz abgelegt.

An der Perspektive, aus der er seinen Gesprächspartner wahrnimmt (»sah auf die krummen Beine«, S. 218) wird allerdings seine noch immer unveränderte, fast bewegungslose Haltung am Boden, auf den Trümmern deutlich. Dagegen bringt der alte Mann, der jetzt zum Aufbruch drängt, bereits Veränderung und Bewegung in die Geschichte; seine krummen Beine sind »ganz unruhig« (S. 218, Z. 87), während er dem Jungen den Vorschlag macht, ihn bei Einbruch der Dunkelheit abzuholen und ihm sogar ein kleines Kaninchen mitzubringen.

Den Stock, den Jürgen zu seiner Verteidigung und als Waffe gegen die Ratten bei sich hat, nutzt der Junge nun, um kleine Betten und kleine Kaninchen in den Schutt zu malen.
Auch die Farbsymbolik tritt hier ein weiteres mal in Erscheinung; zu dem allgegenwärtigen Grau, das für den Schutt, den Krieg, Tod und Verlust steht, tritt nun, im Gedanken an die Kaninchen, zum ersten Mal die Farbe Weiß in der Geschichte auf (»weiße, graue, weißgraue«, S. 218). Das Grau wird gewissermaßen neutralisiert und überstrahlt von dem für Reinheit, Unschuld und Friede stehenden Weiß. So spiegeln auch die Farben die innere Entwicklung der Handlung.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.