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Nachts schlafen die Ratten doch

5. Abschnitt, Zeile 41-59

Zusammenfassung

Nun offenbart der ältere Mann dem Jungen, dass er genau siebenundzwanzig Kaninchen habe, was Jürgen sehr erstaunt. Das Angebot, sich diese Kaninchen anzusehen, lehnt Jürgen mit dem Verweis darauf ab, seinen Wachposten nicht verlassen zu können. Auf Nachfrage des Mannes gibt der Junge zu, dass er tatsächlich immer, auch nachts, aufpassen müsse, und das schon seit Sonnabend, und nicht einmal zum Essen nach Hause gehe. Der Junge zeigt ihm seine versteckten Vorräte, ein halbes Brot und eine Blechschachtel, in der der Mann Tabak vermutet. Tatsächlich gibt Jürgen zu, Zigaretten zu drehen.

Der alte Mann betont noch einmal, dass vor allem die jungen Kaninchen interessant für Jürgen gewesen wären und er sich vielleicht sogar eines hätte aussuchen können. Das ist jedoch nicht möglich, solange Jürgen seine Wache in der Ruine nicht aufgeben kann. Jürgen bestätigt das traurig.

Analyse

Die Erwähnung seiner siebenundzwanzig Kaninchen und das Angebot des Mannes an Jürgen, sie sich anzusehen, später auch, sich sogar eines auszusuchen, ist ein Höhepunkt der Kurzgeschichte. Diese Nachricht ist es, die in dem zu früh gealterten und durch die Härte und das Elend seiner Lebensumstände wie erstarrten Jungen wieder kindliche Neugier und Erstaunen weckt. Es beginnt langsam der Prozess, der ihn wieder zum Kindsein zurückführt, von Trümmern, Tod und Lähmung hin zu Lebendigkeit, Freude und Bewegung. Ein erstes Anzeichen dafür, dass in Jürgen langsam wieder das Kind, das er eigentlich ist, durchbricht (vgl. Bellmann, S. 78), ist seine Reaktion auf die vielen Kaninchen: »Jürgen machte einen runden Mund« (S. 217).

Die Rolle des Erwachsenen, die die Umstände des Krieges dem Jungen aufgezwungen haben, und die Aufgabe, die Verantwortung für seinen kleinen Bruder zu tragen, die er sich selbst auferlegt hat: beides beginnt langsam zu bröckeln. Dem Mann gelingt es, »die verschüttete Kindheit freizulegen« (Bellmann, S. 78) durch die Erinnerung an und die Perspektive auf eine andere Welt, die er ihm durch die Erwähnung seiner Kaninchen eröffnet. Der auktoriale Erzähler, der sich in diesem Abschnitt wieder öfter einmischt und die Figurenperspektive unterbricht, lässt nun mehr Emotionen von Jürgen sichtbar werden, in dem er ihn als »unsicher« (S. 217, Z. 44), »zaghaft« (S. 217, Z. 53) und »traurig« (S. 217, Z. 59) beschreibt. »Diese Mitteilung weckt die kindlichen Interessen des Jungen, greift seine Abwehrmechanismen an. Seine zerrüttete Welt scheint für einen Augenblick außer Kraft gesetzt« (Giachino, S. 2).

Der Junge beginnt, sich dem alten Mann gegenüber langsam und zaghaft zu öffnen, auch wenn er immer noch aus der schwachen und reglosen Perspektive an den krummen Beinen des Mannes emporschaut. So gibt er nun zum ersten Mal etwas von seinem Geheimnis, auf was er in der Hausruine aufpasst, preis. Er sagt, dass er immer aufpassen müsse und gar nicht nach Hause gehen könne: »Nachts auch. Immerzu. Immer« (S. 217, Z. 47). Der Stakkato-Stil und das hier verwendete Stilmittel der Akkumulation verdeutlichen noch den Zwang, unter dem Jürgen steht und die Ausweglosigkeit, in die ihn die selbst auferlegte Aufgabe gebracht hat. Das wird besonders spürbar durch die Steigerung der Klimax in diesem Satz, die dann in »Immer« gipfelt. (ebd.) Generell zeigen sich die innere Veränderung des Jungen und sein sich entwickelndes Vertrauensverhältnis zum alten Mann auch auf sprachlicher Ebene; während Jürgen bisher nur sehr einsilbig, geradezu widerwillig auf die Fragen des Alten geantwortet hat, fängt er nun an, mehr zu sprechen, wenn auch immer noch in sehr sehr kurzen, unvollständigen ellipsenhaften Sätzen.

Mit der hier zum ersten Mal auftretenden Zeitangabe »Seit Sonnabend schon« (S. 217) wird deutlich, dass wir uns in der Geschichte noch im Krieg befinden, denn der Bombenangriff, bei dem das Haus zerstört wurde, ist somit erst vor einigen Tagen geschehen. Dass Jürgen dem alten Mann gegenüber dieses Detail seiner Geschichte preisgibt, spricht vom Vertrauen, dass er ihm gegenüber langsam zu entwickeln beginnt, und ist der Auftakt zu seinem später folgenden Geständnis.

Die Tatsache, dass Jürgen schon mit neun Jahren raucht (worauf der ältere Mann beim Anblick der Blechschachtel, die Jürgen unter dem Stein zusammen mit dem Brot versteckt hat, sofort schliesst) zeigt ihn ein weiteres Mal als ein Kind, das keine Kindheit hat. Mit Attributen wie dem Rauchen spielt er bereits die Rolle eines Erwachsenen. Die Angabe, dass er vom Rauchen nur »zaghaft« spricht und dabei wieder seinen Stock »fest« anfasst, zeigt aber, wie viel Unsicherheit des eigentlichen Kindes hinter dieser Rolle versteckt ist. »Er lebt in selbstgewählter Isolation und unkindlicher Selbstständigkeit. Er spielt den Erwachsenen, aber letztendlich wirkt er doch hilflos und in sich noch völlig ungefestigt« (Große, S. 54). Er ist damit ganz klar ein Vertreter der Kriegsgeneration, der »Generation ohne Abschied«, die Wolfgang Borchert so charakterisiert: »[U]nsere Jugend ist ohne Jugend. Und wir sind die Generation ohne Grenze, ohne Hemmung und Behütung – ausgestoßen aus dem Laufgitter des Kindseins« (Borchert, Das Gesamtwerk, S. 59).

Die dreifache Verneinung zum Ende dieses Abschnittes »Nein, sagte Jürgen traurig, nein nein« (S. 217, Z. 59) ist vor dem Hintergrund des verlockenden Angebotes des Mannes, sich seine Kaninchen anzusehen, sich vielleicht sogar ein Kaninchen auszusuchen, eine Selbstvergewisserung des Jungen. Er erinnert sich selbst an seine Aufgabe, an die Verantwortung, die er mit ihr übernommen hat, auch wenn diese leider ganz und gar sinnlos und unerfüllbar ist.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.