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Nachts schlafen die Ratten doch

6. Abschnitt, Zeile 60-75

Zusammenfassung

Als der Mann sich daraufhin unter Bedauern zum Gehen wendet, vertraut Jürgen ihm an, dass er wegen der Ratten in der Hausruine aufpasse. Auf die Nachfrage, ob er denn auf die Ratten aufpasse, erzählt Jürgen ihm auf einmal die Wahrheit. Sein vierjähriger Bruder liegt verschüttet unter den Trümmern, seit sein Elternhaus während eines Fliegerangriffs von einer Bombe getroffen wurde. Obwohl sie ihn noch gerufen hatten, konnten sie den kleinen Bruder im dunklen Keller nicht mehr wiederfinden. Da der Lehrer in der Schule erzählt hatte, dass die Ratten sich von Toten ernähren, hält er nun Tag und Nacht Wache, um den toten kleinen Bruder vor den Ratten zu beschützen.

Analyse

Mit diesem Abschnitt tritt das Gespräch der beiden Protagonisten in eine neue Phase. Als sich der Mann zum Gehen wendet, öffnet sich Jürgen plötzlich und beginnt, ihm sein Geheimnis anzuvertrauen. Dahinter kann die Absicht stehen, ihn aufzuhalten, nicht wieder allein in der Trümmerwüste zu bleiben und die neue Perspektive auf das Leben, die sich ihm durch die Aussicht auf die Kaninchen eröffnet hat, nicht wieder zu verlieren.

Der Satz, mit dem Jürgen sein Geständnis einleitet, »Wenn du mich nicht verrätst« (S. 217, Z. 62), zeigt ihn wieder als Kind, dessen kindliche Naivität trotz aller Abhärtung durch das Leben zurückgekehrt ist und der einen Fremden duzt und ihm mit Vertrauen begegnet. Wie schwer dem Jungen das Sprechen über diese traumatischen Themen und Erinnerungen fällt, zeigt sich ein weiteres Mal an der Sprache. Jürgen spricht beispielsweise von den die Toten fressenden Ratten nur in Satztrümmern, in unvollständigen, elliptischen Sätzen (vgl. S. 218 oben).

Das setzt sich dann in seinem Bericht über den Tod des Bruders beim Bombenangriff auf das Elternhaus fort, den Jürgen »ganz leise« (S. 218, Z. 70) beginnt. In dem kurzen Bericht fällt der parataktische Satzbau auf, in dem viele kurze, oft auch unvollständige Sätze aneinandergereiht werden. So wird spürbar, wie stark das furchtbare Erleben den Jungen belastet, wie sehr es ihn quält, darüber zu sprechen und wie stark die Verletzungen in der Seele des Jungen fortleben, auch wenn er den Bombenangriff und die Zerstörungen des Krieges überlebt hat.

Auffällig ist auch der Wechsel vom Präteritum zum Präsens in den letzten Sätzen von Jürgens Bericht. In der fast wörtlichen Wiederholung des Satzes »Er war viel kleiner als ich. [...] Er ist doch viel kleiner als ich« (S. 218, Z. 74/75) wechselt die Tempusform. Dies verweist auf die Dringlichkeit seiner Aufgabe, die Jürgen aus dem schrecklichen Verlust des Bruders ableitet. Es war seine Verantwortung, auf den so viel kleineren Bruder aufzupassen, und nachdem er das während des Bombenangriffs nicht geschafft hatte, sieht er sich nun dem Zwang ausgesetzt, wenigstens seinen Körper vor den Angriffen der Ratten zu schützen. Darin schwingt auch ein Schuldgefühl des Jungen seinem kleinen Bruder gegenüber mit, hierin liegt die Motivation für sein Ausharren auf dem Trümmerfeld begründet.
Der alte Mann wird in der rhetorischen Figur des pars pro toto »Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück« (S. 218) ganz auf dieses äußere Detail reduziert, was im Text an einigen Stellen auffällt. Dies signalisiert zum einen, dass auch dieser Mann durch Alter, Krankheit und Krieg gezeichnet ist. Zum anderen unterstreicht es jedoch auch die Allgemeingültigkeit dieser Figur, die keine weitere individuelle Charakterisierung aufweist und auch ohne Namen bleibt. Sie steht wie oft in Borcherts Kurzgeschichten für überindividuelle, existenzielle und allgemeingültige Eigenschaften und wird daher nicht individuell festgelegt.

Im Weiteren wird das Motiv der Ratten eingeführt; sie stehen symbolisch den Kaninchen gegenüber und bilden eine der »polaren Bildstrukturen« (Durzak, S. 324), auf denen die Geschichte inhaltlich und formal aufgebaut ist. Die Ratten stehen für alles Schreckliche in der Erzählung; für Tod, Zerstörung und Gewalt, dazu ernähren sie sich von Leichen und der Junge versucht, sie in einem hoffnungslosen Kampf abzuwehren.
Dagegen verkörpern die Kaninchen die Hoffnung und zeigen Jürgen eine neue Perspektive auf, die Verantwortung für etwas Lebendiges zu übernehmen, das seinem bisher so geschundenen Dasein neuen Sinn verleihen kann.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.