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Nachts schlafen die Ratten doch

Historischer Hintergrund und Epoche

Der größte Teil der Werke Wolfgang Borcherts, mit denen er einer der berühmtesten Autoren der Nachkriegsliteratur und die Stimme einer ganzen Generation wurde, ist von Krieg und Nachkriegszeit geprägt. Vor allem im Prosawerk, das ab 1946 entstand, und in seinem Drama »Draußen vor der Tür« (1946) sind die beherrschen Themen das Grauen der Kriegserlebnisse, die Heimkehr in eine nicht mehr bestehende oder nicht mehr wiederzuerkennende Heimat und das Leid der Menschen in den zerstörten Städten, die vor den Trümmern ihrer Existenz, aber auch vor den Trümmern ihrer Wertvorstellungen und Träume standen.

Bei Kriegsende am 8. Mai 1945 waren die meisten deutschen Städte zerstört, Millionen Vertriebene waren auf der Flucht aus den ehemals deutschen Ostgebieten, ebenso waren Millionen Soldaten im Krieg gefallen oder in Kriegsgefangenschaft geraten. Zwar herrschte nun endlich Frieden, doch die Menschen befanden sich in einem täglichen Überlebenskampf um Nahrung und noch nutzbaren Wohnraum in zerbombten Städten. Auch die aus dem Krieg oder der Gefangenschaft heimkehrenden Soldaten erkannten ihre Heimat oft nicht wieder und fanden sich in ihr nicht mehr zurecht. Familie und Freunde waren vermisst, vertrieben oder tot, das Haus zerstört, und auch innerlich standen sie vor dem Nichts. Ihre bisherigen Werte bestanden nicht mehr und sie mussten sich mit der Schuld auseinandersetzen, als Soldaten an einem mörderischen Angriffskrieg beteiligt gewesen zu sein, der ganz Europa in den Abgrund gerissen hatte, und für die Millionen Toten des Holocaust eine Mitverantwortung zu tragen.

Die jungen Autoren der sogenannten »Trümmerliteratur« waren zumeist selbst im Krieg Soldaten gewesen und begannen in der Kriegsgefangenschaft oder nach ihrer Rückkehr zu schreiben. Daher waren ihre Kriegserlebnisse und das Leid, die Desillusionierung und Orientierungslosigkeit der Nachkriegszeit die bevorzugten Themen, die ihre Werke prägten. Von »Trümmerliteratur«, wegen des biografischen Hintergrundes ihrer Autoren auch »Heimkehrerliteratur« genannt, spricht man für den Zeitraum ab 1945 bis Anfang der 1950er-Jahre. Sie beschäftigte sich mit den physischen Trümmern in den zerbombten Städten, aber auch den Trümmern und Verheerungen im Inneren der Menschen. Dabei waren zum einen das Elend der Zivilbevölkerung und ihr täglicher Kampf ums Überleben vorherrschende Themen. Daneben trat in vielen Werken aber auch die Figur des Heimkehrers in den Mittelpunkt, der zwar den Krieg überlebt hatte, sich aber nun im Frieden nicht mehr zurechtfand, die Heimat nicht mehr wiedererkannte und keinen Platz mehr in der Gesellschaft fand.

Mit dem beginnenden Wirtschaftswunder Anfang der 1950er-Jahre ebbte diese kurze literarische Strömung ab, da sich aufgrund des gesellschaftlichen Wandels andere Themen in den Vordergrund schoben. Die Kriegserlebnisse und auch die Not der unmittelbaren Nachkriegszeit rückten zunehmend in den Hintergrund, was auch mit dem wachsenden Wunsch nach Verdrängung von Schuld oder Mitschuld einherging.

Der Beginn der Trümmerliteratur lag in Zeitschriften wie »Der Ruf«, der Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA, an der unter anderem Alfred Andersch und Hans Werner Richter mitwirkten. Sie erschien das erste Mal am 1. März 1945 im Kriegsgefangenenlager Fort Kearny, Rhode Island. Heinrich Böll schrieb in seinem »Bekenntnis zur Trümmerliteratur« von 1952:

    Die ersten schriftstellerischen Versuche unserer Generation nach 1945 hat man als Trümmerliteratur bezeichnet, man hat sie damit abzutun versucht. Wir haben uns gegen diese Bezeichnung nicht gewehrt, weil sie zu Recht bestand: tatsächlich, die Menschen, von denen wir schrieben, lebten in Trümmern, sie kamen aus dem Krieg, Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder. Und sie waren scharfäugig: sie sahen. Sie lebten keineswegs in völligem Frieden, ihre Umgebung, ihr Befinden, nichts an ihnen und um sie herum war idyllisch, und wir als Schreibende fühlten uns ihnen so nahe, daß wir uns mit ihnen identifizierten. (Böll, Werke Bd. 6, S. 60)

Das vorrangige Ziel der jungen Autoren der Trümmerliteratur war ein völliger Neuanfang, eine »Stunde Null« auch in der Literatur. Daraus ergab sich ihre starke Abgrenzung gegen Traditionen aus früheren Literaturepochen oder literarische Vorbilder und eine Abkehr von Rückgriffen auf historische Stoffe. Auch eine Absage an jegliches Pathos oder an literarischen Eskapismus war kennzeichnend für die unmittelbare Nachkriegszeit. Die Autoren grenzten sich sowohl gegenüber der Exilliteratur als auch gegen die Literatur der Inneren Emigration ab. Vor allem forderten sie eine klare Loslösung von der Literatur des Nationalsozialismus. Dies galt sowohl für die inhaltliche Ausrichtung, als auch für die ideologisch aufgeladene, pathetische Sprache, die die Literatur in den Dienst der NS-Ideologie gestellt hatte. Gemeinsam war ihnen die kollektive Einstellung, dass die Sprache und mit ihr die Literatur in der NS-Zeit beschädigt worden waren und nun erneuert werden mussten, wollte man den existenziellen Erfahrungen von Krieg, Nachkriegszeit und Neuanfang Ausdruck verleihen.

Die jungen Autoren verwendeten eine einfache, karge, lakonische Sprache, oft an der Alltagssprache orientiert und mit mundartlicher Färbung. Darüber hinaus bevorzugten sie einen einfachen, knappen und neutralen Stil, für alle verständlich, ohne Wertung sowie radikal realistisch und wahrheitsgetreu in der Darstellung. Auch die sprachlichen und stilistischen Mittel sollten sich an die Umgangssprache anlehnen; die Stilmittel der Wiederholung, der Parataxe, der Inversion sowie elliptisch unvollständiger Sätze waren vorherrschend. Die Werke der Trümmerliteratur kennzeichnet eine Konzentration auf das Wesentliche ohne Ausschmückung oder Überladung. Andeutung und Auslassung stehen stattdessen im Mittelpunkt. »Die Autoren suchten nach einer Sprache, die karg wie die Wirklichkeit des Alltagslebens und auf das Maß nüchterner Mitteilung zurückgeschraubt war« (Zmegač, S.350).

Da insbesondere die Gattung des Romans von den NS-Schriftstellern für ideologische Zwecke vereinnahmt worden war, konzentrierten sich die Vertreter der Trümmerliteratur auf kürzere literarische Formen wie Reportage, Bericht, vor allem aber auch auf das Gedicht und die Kurzgeschichte. In der Prosa orientierten sich die Autoren an der Tradition der modernen amerikanischen »short story« aus den 1920er-Jahren, beispielsweise von Ernest Hemingway, William Faulkner, John Steinbeck und Thomas Wolfe.

Zu den wichtigsten Vertretern der Trümmerliteratur gehörten neben Wolfgang Borchert Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Hans Werner Richter, Günter Eich, Alfred Andersch, Walter Kolbenhoff und Carl Zuckmayer. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung einer neuen Literatur in der Nachkriegszeit wurde die literarische Vereinigung der »Gruppe 47«. Diese Schriftstellertreffen wurden von Hans Werner Richter initiiert und waren bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1967 maßgeblich für eine Neuorientierung der Literatur nach 1945. Viele bekannte Autoren bekamen durch die Förderung der Gruppe 47 die entscheidende Richtung für ihre folgende literarische Karriere. Wichtig für das Verständnis der Trümmerliteratur sind auch Heinrich Bölls »Bekenntnis zur Trümmerliteratur« sowie das Nachwort in Wolfgang Weyrauchs Prosa-Anthologie »Tausend Gramm«(1949), in der er den Begriff der »Kahlschlag-Literatur« einführte (vgl. Rothmann, S. 294).

Wolfgang Borchert war unter diesen Autoren einer der Ersten, die nach der Rückkehr aus dem Krieg damit begonnen hatten, ihre Kriegserlebnisse und die Welt, die sie nach der Heimkehr vorfanden, in Worte zu fassen. Anfang 1946 enstand seine erste Kurzgeschichte, »Die Hundeblume«, in der er das Erlebnis seiner mehrmonatigen Gefangenschaft im Nürnberger Militärgefängnis 1942, in Einzelhaft und im Bewusstsein der drohenden Todesstrafe, verarbeitete. Spätestens aber mit seinem Drama »Draußen vor der Tür« und dessen Ursendung als Hörspiel am 13. Februar 1947 im Nordwestdeutschen Rundfunk wurde er zum Sprachrohr seiner Generation, der jungen und bereits völlig desillusionierten, an Leib und Seele zerstörten Kriegsgeneration.

    Wolfgang Borchert war der Dichter, in dessen Sprache und Werk die Stimme der zweiten deutschen “lost generation” zum Ausdruck kam. Borcherts Manifeste sind Bekenntnisse zur Trümmer- und Kahlschlagliteratur, die den endgültigen Bruch mit der Naziideologie und der Kriegsvergangenheit proklamiert. (Kaszynski, S. 29)

Die Entstehungszeit der Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« liegt im Januar 1947. Borchert war zum Zeitpunkt der Entstehung bereits über ein Jahr lang bettlägerig und sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Weil er in seinem Beruf als Schauspieler nicht mehr arbeiten konnte, wandte er sich dem Schreiben von Prosa zu. Vorbild war auch für Borchert die amerikanische »short story«, die er bereits ab 1940 kennengelernt hatte. Auch er selbst verwendete für seine Geschichten den Begriff »stories« (vgl. Bellmann, S. 40). In dieser in der deutschen Literatur noch relativ neuen und daher von der NS-Ideologie unbelasteten Form sah er eine Möglichkeit, seine Forderung nach einer neuen Ästhetik für die junge Nachkriegsgeneration der Autoren umzusetzen. Hier sollte eine Erneuerung der Sprache und des Stils stattfinden, in der die Wahrheit so realistisch wie möglich zum Ausdruck kommt. Borchert selbst beschreibt die neue Literatur so:

    Wer schreibt für uns eine neue Harmonielehre? Wir brauchen keine wohltemperierten Klaviere mehr. Wir selbst sind zuviel Dissonanz. [..] Wir brauchen keine Stilleben mehr. Unser Leben ist laut. Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die mit dem heißen heiser geschluchzten Gefühl. Die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja sagen und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktiv. (Borchert, Das ist unser Manifest, Gesamtwerk, S. 310)

In der Kurzgeschichte »Nachts schlafen die Ratten doch« stehen die Leiden der Zivilbevölkerung im Krieg im Mittelpunkt. Er hatte diese bei einem Besuch auf Fronturlaub in Hamburg im August 1943 selbst erlebt, als er die Stadt kurz nach ihrer großflächigen Zerstörung durch die andauernden Luftangriffe der Operation »Gomorrha« wiedersah. Und er erlebte es nach seiner Rückkehr nach Hamburg, wo auch er in den nächsten beiden Jahren, vor allem im eisigen Hungerwinter 1946/1947, ums tägliche Überleben ringen musste. Sein Schreiben entsprach somit den alltäglichen Erfahrungen der Menschen im zerstörten Deutschland, die sich in ihm wiederfinden und sich mit seinen Figuren identifizieren konnten.

Veröffentlicht am 8. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 8. August 2023.