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Der Vorleser

Aufbau des Werkes

Bernhard Schlinks Roman »Der Vorleser« wird retrospektiv von dem Protagonisten Michael erzählt. Im Laufe der Handlung nähern sich das erlebende Ich und das erzählende Ich Michaels einander immer weiter an. Der Roman ist in drei Teile unterteilt. Die Erzählstruktur der drei Abschnitte folgt einem zentralen Handlungsstrang, nämlich den Phasen der Beziehung der Protagonisten Michael und Hanna Schmitz. (Vgl. Köster 27) 

Hierbei handelt der erste Teil von Michaels Beziehung zu der wesentlich älteren Hanna. Der Abschnitt beginnt vor ihrem ersten Treffen und endet mit Michaels Entdeckung, dass Hanna die Stadt verlassen hat. Er »bleibt in großer körperlicher und psychischer Verstörung zurück.« (Ebd.) Der zweite Teil behandelt den Prozess gegen Hanna Schmitz sowie Michaels Entdeckung ihres Analphabetismus und der dritte Teil resümiert Michaels Leben nach Hannas Verurteilung bis zum Zeitpunkt des Erzählens. 

Jeder Abschnitt des Romans setzt sich aus vielen kurzen Kapiteln zusammen. Die drei Teile sind formal abgeschlossen, da jeder Teil wieder mit Kapitel 1 beginnt. So gestaltet Schlink in jedem Teil den Anfang einer Lebensphase, »der jedoch mit einem Widerhaken versehen ist, sodass eine unproblematische Entwicklung verhindert wird.« (Ebd.) Auch wenn die Lebensabschnitte Michaels in chronologischer Reihenfolge abgehandelt werden, ist die Erzählstruktur insgesamt nicht linear angelegt. Jeder der prägenden Lebensabschnitte wird durch Rückblenden, Vorausdeutungen und Reflexionen des Ich-Erzählers ergänzt. 

Ein interessanter Aspekt ist die zeitliche Struktur des Romans. Dieser beginnt im Herbst 1958, als Michael 15 Jahre alt ist und Hanna zum ersten Mal begegnet. Ihr Wiedersehen nach seiner Krankheit findet im Februar 1959 statt. Der Erzähler unterbricht seinen Bericht und erinnert sich daran, dass er in späteren Jahren immer wieder von dem Haus, in dem Hanna wohnt, geträumt habe. (Vgl. S. 9) Sein Rückblick ist eine Vorausdeutung auf die prägenden Ereignisse, die er mit dem Haus verbindet, die dem Leser jedoch zunächst verborgen bleiben. Eine weitere Vorausdeutung findet sich unweit später, als der Erzähler Hannas Gesicht beschreibt: »Über ihr damaliges Gesicht haben sich in meiner Erinnerung ihre späteren Gesichter gelegt. [...] Ich muss es rekonstruieren. [...] Ich weiß, dass ich es schön fand. Aber ich sehe seine Schönheit nicht vor mir.« (S. 14) Hier wird zunächst auf die Zeitspanne des Romans hingedeutet, indem der Erzähler auf Hannas »spätere Gesichter« verweist. Die Vorausdeutung auf die Schönheit, die er später nicht mehr sehen kann, kann als erster Hinweis auf Hannas Taten betrachtet werden, die erst im zweiten Teil des Romans enthüllt werden. 

Der zweite Teil findet nach einem Zeitsprung im Jahr 1966 statt. Er

    bringt zwei zeitliche Ebenen zur Sprache und sprengt zugleich die Linearität des Erzählens, indem er den Raum der erzählten Zeit - der Prozess dauert etwa vier Monate - auf die Jahre 1943-45 ausweitet, sodass Vergangenheit zum Bezugspunkt der Gegenwart wird. (Köster 28)

Der dritte Abschnitt schließt unmittelbar an den vorherigen an, erstreckt sich jedoch über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Die weiteren wichtigen Ereignisse in Michaels Leben, wie Beendigung des Studiums, Hochzeit, Geburt der Tochter und Scheidung, werden im Zeitraffer erzählt, da Michael sich in seiner Erzählung nach wie vor auf seine Beziehung zu Hanna konzentriert. Zeitgleich wird hierdurch sein Fokus deutlich, der auch nach vielen Jahren ohne physischen Kontakt immer noch auf Hanna liegt. Die erzählte Zeit endet im Jahr 1984 nach Hannas Freitod. Da der Erzähler im letzten Kapitel beschreibt, dass »das alles zehn Jahre zurück[liegt]« (S. 205), lässt sich die Erzählzeit ins Jahr 1994 verorten – die Geschichte endet damit ein Jahr vor der Veröffentlichung des Buchs. 

 Die Schauplätze des Romans sind in der Rhein-Main-Neckar-Region angesiedelt. Durch die Ortsangaben sowie die Straßennamen lässt sich die Universitätsstadt, in der Michael und Hanna leben, als Heidelberg identifizieren. (Vgl. Köster 29) Die Handlungsorte lassen sich jeweils in einen zentralen Raum sowie mehrere Nebenschauplätze einteilen. Im ersten Teil bildet Hannas Wohnküche den zentralen Raum, während Michaels Schule, sein Elternhaus und das Schwimmbad zu seinen Räumen zweiter Ordnung werden. (Vgl. ebd. 28) Gleichbedeutend für Hanna ist ausschließlich die Straßenbahn als ihr Arbeitsplatz. Im zweiten Teil wird der Gerichtssaal zum zentralen Handlungsort, während die Natur am Neckar, wo Michael das Geheimnis um Hannas Analphabetismus aufdeckt, und das KZ Struthof zu den wichtigsten Nebenschauplätzen zählen. Auch wenn die Handlung um Michael zum größten Teil nicht dort spielt, kann das Gefängnis als zentraler Ort des dritten Teils betrachtet werden. Hier hält sich nicht nur Hanna auf, auch Michael verweilt gedanklich an diesem Ort. Für Hanna bedeutet das Gefängnis einen paradoxen Gegensatz zu ihrer Wohnung. »Im Gegensatz zur Isolation in ihrer Wohnung in der Bahnhofstraße ist es ein Ort sozialen Umgangs, an dem es ›gesellig und geschwätzig‹ zugeht (196).« (Ebd. 31) Den wichtigsten Nebenschauplatz stellt die Wohnung der überlebenden Tochter in New York dar, die Michael nach Hannas Freitod besucht. 

    Mit der Reise in die USA erfährt die räumliche Bewegung des Ich-Erzählers im dritten Teil des Romans ihre größte Ausweitung. Er verlässt den europäischen Kontinent, während Hanna Schmitz durch ihre lebenslängliche Haft an den Raum der Strafanstalt gefesselt war. (Ebd. 32)
Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.