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Der Vorleser

Teil 3, Kapitel 9-12

Zusammenfassung

Michael bereitet Hannas Entlassung vor, richtet ihre Wohnung ein und versucht, die Gedanken an Hanna zu verdrängen. Er telefoniert einen Tag vor der Entlassung noch kurz mit Hanna und stellt fest, dass sie trotz ihres Alters und der vielen Veränderungen ihre junge Stimme behalten hat.

Am nächsten Tag ist Hanna tot. Michael erfährt, dass sie sich bei Tagesanbruch in ihrer Zelle erhängt hat. Er trifft sich mit der Gefängnisleiterin und darf sich Hannas Zelle ansehen. Hier findet er Bücher über Konzentrationslager und ein Foto von seiner Abiturentlassung. Die Gefängnisleiterin erklärt, dass Hanna sich mithilfe von Michaels Kassetten selbst das Lesen und Schreiben beigebracht hat, um sich danach mit Literatur über die Gefangenen und Wärterinnen von KZs zu befassen. Sie habe in all den Jahren immer auf einen Brief von Michael gehofft und war enttäuscht, dass dieser ihr nie geantwortet hatte. Das Geld, welches Hanna hinterlässt, soll Michael der Tochter geben, die den Kirchenbrand überlebt hat.

Die Leiterin erklärt Michael, dass Hanna zunächst hohes Ansehen und sogar Autorität unter den Gefangenen genossen habe, denen gegenüber sie sich stets freundlich, aber distanziert verhielt. Sie sei immer sehr gepflegt und sauber gewesen, bis sie sich vor einigen Jahren aufgegeben hatte. Sie begann zu essen, vernachlässigte ihre Hygiene und wirkte dabei dennoch nicht unglücklich. Es wirkte, als wollte sie sich noch weiter zurückziehen. Michael sieht sich Hannas Leichnam an und erkennt in Hannas Gesicht die junge Frau wieder, die er einst so schön fand. Er fragt sich, wieso er dies vor einer Woche nicht bemerkt habe.

Michael trifft sich mit der Überlebenden in New York und berichtet ihr von Hannas Auftrag. Die Frau möchte Hannas Geld nicht annehmen, um ihr keine Absolution zu erteilen. Sie hinterfragt Michaels Beziehung zu Hanna und er sagt ihr die Wahrheit. Die Frau reagiert entsetzt über das, was Hanna dem jungen Michael angetan hat, und weigert sich noch einmal, das Geld selbst anzunehmen oder es für etwas zu verwenden, das mit dem Holocaust zusammenhängt. Sie einigen sich darauf, dass Michael das Geld an eine jüdische Vereinigung für Analphabeten spendet.

Zehn Jahre später berichtet Michael davon, wie er seine und Hannas Geschichte geschrieben hat. Ihr Geld hat er wie vereinbart gespendet. Mit dem Brief von der Vereinigung für Analphabeten besucht er zum ersten und einzigen Mal Hannas Grab.

Analyse

Eine Schlüsselszene in Bezug auf die Schuldfrage ist Hannas Suizid. Sie erhängt sich in der Nacht vor ihrer Entlassung. Durch ihre umfassende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und ihren eigenen Taten, die sie – wie sie Michael erzählt – im Schlaf verfolgen, empfindet Hanna eine tiefe Schuld und bereut ihre Taten. Aufgrund des Zeitpunkts kann der Suizid als Selbstjustiz interpretiert werden. Durch ihre Begnadigung werden ihr ihre Taten auf der rechtlichen Ebene vergeben, doch sie selbst ist nicht zu dieser Vergebung im Stande. Dies wird zudem durch ihren Versuch der Wiedergutmachung unterstrichen. Sie spendet ihr gesamtes Geld der überlebenden Tochter des Kirchenbrandes – nicht um ihre Vergebung zu erhalten, sondern um ihre Reue zu zeigen.

In ihrer Zelle entdeckt Michael ein Foto von sich selbst, das Hanna aus einer Zeitung ausgeschnitten hat. Dass sie auch während ihrer Haft noch eine Erinnerung an ihn behalten hat, zeigt die Gefühle, die sie für den Jungen hegte. Hannas Ausbeutung eines Minderjährigen wird nicht gerechtfertigt oder entschuldigt, jedoch kann die Aufbewahrung des Fotos so gedeutet werden, dass ihre Beziehung zu Michael keinesfalls aus einer grausamen Lust am Missbrauch stattgefunden hat. Hanna hat – so könnte man werten – aus legitimen Gründen die falschen Entscheidungen getroffen.

Dass es sich bei der Beziehung um einen Missbrauchsfall handelt, thematisiert der Ich-Erzähler Michael nur ein einziges Mal, als er von dem Treffen mit der Überlebenden berichtet, welcher er Hannas Geld spenden soll. Diese reagiert entsetzt: »Was ist diese Frau brutal. […] Hatten Sie, wenn Sie in den letzten Jahren mit ihr Kontakt hatten, jemals das Gefühl, dass sie wusste, was sie Ihnen angetan hat?« (S. 202) Michael reagiert hierauf nur mit einem Schulterzucken und wechselt das Thema – Hannas Schuld ihm gegenüber kann er sich auch nach Jahrzehnten nicht eingestehen.

Die Überlebende möchte Hannas Geld nicht annehmen, da sie ihr keinerlei Absolution für ihre Taten erteilen will. Hiermit verdeutlicht Schlink auf positive Weise, dass Hanna sich zwar in ihrer Haft reumütig und schuldbewusst zeigt, doch gleichzeitig stellt er dar, dass es für die grausamen Taten der Nationalsozialisten keine Vergebung gibt. Somit findet er einen ausgewogenen Umgang mit der sensiblen Thematik und schließt Hannas Entwicklung ab, ohne die Bedeutung der NS-Vergangenheit herunterzuspielen. Indem er Michael das Geld an eine Vereinigung für Analphabetismus spenden lässt, macht er zudem auch noch einmal auf die Wichtigkeit dieser Thematik aufmerksam.

Die Frau behält ausschließlich die Teedose, in welcher Hanna ihren Besitz aufbewahrte. Die Teedose gleicht einer Dose, die die Überlebende als Kind besessen hat, welche ihr im Konzentrationslager abgenommen wurde. Die Teedose steht symbolisch für alles, was die Nationalsozialisten der Frau genommen haben. Durch die Annahme von Hannas Teedose nimmt sie sich dies sinnbildlich zurück und verarbeitet so ein Stück ihrer Vergangenheit.

Auch Michael beginnt nach Hannas Tod, seine Vergangenheit zu bewältigen. Dies ist durch das Buch erkennbar, welches er über seine und Hannas Geschichte schreibt. Das Schreiben dient als Verarbeitungsstrategie und hilft ihm, die Wahrheit in ihrer Geschichte zu erkennen. Zunächst beginnt er aus den falschen Gründen zu schreiben – um Hanna zu vergessen und schließlich, um ihre Geschichte zurückzuholen, als sie ihm entgleitet. Doch entwickelt er sich nach Hannas Tod zu einem reflektierten Menschen und begreift schließlich, dass er die Thematik loslassen muss. So stellt er fest:

    Seit einigen Jahren lasse ich unsere Geschichte in Ruhe. Ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. Und sie ist zurückgekommen, Detail um Detail und in einer Weise rund, geschlossen und gerichtet, dass sie mich nicht mehr traurig macht. (S. 206)

Auch wenn Michael selbst bemerkt, dass die Erlebnisse ihn in einigen Situationen noch einholen, und sich eingesteht, dass er die Erlebnisse nicht vollständig loswerden kann, reflektiert er seine Rolle in der Geschichte und beginnt nach Jahrzehnten, sein Trauma aufzuarbeiten.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.