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Der Vorleser

Interpretation

Traumatische Erfahrungen - Täter- und Opfertrauma in Bernhard Schlinks »Der Vorleser«

»Unter einer ›Posttraumatischen Belastungsstörung‹ versteht man eine ›mögliche Folgereaktion eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse‹.« (Fricke 10) Zu den möglichen Auslösern können unter anderem körperliche oder sexuelle Gewalt, Krieg oder auch Katastrophen gehören. Die Folgen eines solchen Erlebnisses sind oft Hilflosigkeit sowie die Erschütterung des Verständnisses von Welt und Selbst. (Vgl. ebd.) 

Anhand dieser Definition lässt sich feststellen, dass sowohl Michael als auch Hanna unter einem Trauma leiden. Hierbei muss zwischen Opfer- und Täter-Traumatisierung unterschieden werden. 

Michaels Trauma kann als Folge seiner Beziehung mit der wesentlich älteren Hanna betrachtet werden, die beginnt, als er selbst erst 15 Jahre alt ist. Auch wenn Michael sich freiwillig auf die sexuelle Beziehung zu Hanna einlässt und diese zunächst nicht traumatisch wahrnimmt, wird bereits durch seine Verleugnung ihrer Tat deutlich, dass diese mit seinem Trauma in Zusammenhang steht. 

    Die Erinnerung, Hanna habe ihm in jungen Jahren etwas »angetan«, (S. 205) möchte Michael Berg, der hervorhebt, er habe Hanna »geliebt« (S. 205) nicht auf den §182 StGB bezogen wissen. Gemäß diesem Paragraphen begeht die sechsunddreißigjährige Hanna Schmitz, als sie sich mit dem Fünfzehnjährigen einlässt, nach geltendem Recht eine Straftat. Michael Bergs Unterwerfung zu sexuellen Zwecken scheint ein Vorgang zu sein, in dem durch ritualisiertes Wiederholen eine Beziehungsstruktur generiert wird, in der er nachträglich seine Souveränität nicht nur aufgibt, sondern sie zugunsten Hannas und ihrer beider Lust gar nicht erlangt. (Kampmeyer 43)

Interessanterweise ist jedoch nicht die sexuelle Beziehung selbst der Auslöser für Michaels Trauma, sondern Hannas weiterer Umgang mit dem Jungen. Michael ist maßgeblich durch Hannas Erniedrigung und ihren darauffolgenden Fortgang traumatisiert. So reflektiert Michael die Situation nach ihrem ersten Streit folgendermaßen: 

    Ich hatte nicht nur diesen Streit verloren. Ich hatte nach kurzem Kampf kapituliert, als sie drohte, mich zurückzuweisen, sich mir zu entziehen. In den kommenden Wochen habe ich nicht einmal mehr kurz gekämpft. Wenn sie drohte, habe ich sofort bedingungslos kapituliert. Ich habe alles auf mich genommen. Ich habe Fehler zugegeben, die ich nicht begangen hatte, Absichten eingestanden, die ich nie gehegt hatte. Wenn sie kalt und hart wurde, bettelte ich darum, dass sie mir wieder gut ist, mir verzeiht, mich liebt. (S. 50)

Der Leidensdruck, der auf dem Jugendlichen lastet, steigert sich noch dadurch, dass Hanna auch in friedlicher Zeit niemals bereit ist, sich mit Michael über die Konflikte zu unterhalten. Sein Eindruck, Hanna triumphiere einfach über ihn (vgl. ebd.), zeigt das Machtspiel der Frau. Dieses führt bei Michael langfristig zu Unmündigkeit, Abhängigkeit und Verlustängsten. Als Hanna schließlich ohne Abschied die Stadt verlässt, überträgt der Junge die Schuld auf sich. Das Zusammenspiel von emotionaler Abhängigkeit, Verlustangst und Hannas Fortgehen löst Michaels posttraumatische Belastungsstörung aus. Zu seinen Symptomen gehören Albträume, soziale und emotionale Distanz sowie die Unfähigkeit, tiefere Beziehungen einzugehen. Michael zieht sich immer weiter zurück. (Vgl. Fricke 11) Michael ist »unfähig, engere Beziehungen einzugehen oder sich von Hanna ernsthaft zu distanzieren – oder sich ihr entschieden zuzuwenden.« (Ebd.) Erst Jahre nach Hannas Tod ist Michael in der Lage, sein Trauma durch das Schreiben ihrer gemeinsamen Geschichte zu verarbeiten.  

Obwohl Michaels Trauma im Vordergrund behandelt wird, lässt sich auch bei Hanna ein Trauma feststellen. Nimmt man die Definition der Posttraumatischen Belastungsstörung als Grundlage, lässt sich vermuten, dass die Situation, hunderte Frauen und Kinder in der Kirche verbrennen zu lassen, Hanna stark – trotz ihrer Schuld – überfordert hat. Dies zeigt, dass auch Täter traumatisiert werden können. (Vgl. ebd.) 

So kann auch das Ritual des Vorlesens als »unreflektierte Reinszenierung der für Hanna unlösbaren Situation gewertet werden [...], den Kinder-Vorlesern im Lager kurz vor deren Tod das Leben wenigstens ein wenig erleichtern zu können.« (Ebd.) Die Hilflosigkeit, die Mädchen nicht vor dem Tod bewahren zu können, kann ebenfalls als Auslöser für ein Trauma gewertet werden, da Hanna durch das abendliche Vorlesen engen Kontakt zu den Mädchen pflegte. Durch ihr eigenes Trauma erklärt sich auch ihre neutrale Position im Gerichtssaal. So erklärt sie in Bezug auf die Frage, ob sie bei den Selektionen nicht gewusst habe, dass die Gefangenen umgebracht würden nur: »Doch, aber die neuen kamen, und die alten mussten Platz machen für die neuen.« (S. 106) Ihre Argumentation liest sich brutal und hinterlässt den Eindruck, dass Hanna ihre grausamen Taten nicht bereut. Doch kann ihre emotionale Kälte auch als Folge des Traumas interpretiert werden, welches sie erlitten hat, als sie – womöglich in Unkenntnis der genauen Umstände – in den Wachdienst eintrat. Diese Deutung wird von ihrer ehrlich gemeinten Frage, wie der Richter an ihrer Stelle gehandelt hätte, unterstützt. (Vgl. S. 107) 

Anders als Michael, der es nach 25 Jahren schafft, sein Trauma zu überwinden, wird Hanna von diesem überwältigt. Als sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, wiegen Schuld und Trauma zu schwer, sodass sie am Tag ihrer Entlassung den Freitod wählt.

Die Bedeutung von Feuer und Wasser in »Der Vorleser«

Schlink arbeitet in seinem Roman mit mehreren Bildern und Motiven – zu den besonders wichtigen gehören die Motive des Feuers und des Wassers, die mehrfach im Roman auftreten.  

Das Motiv des Feuers ist im zweifachen Sinne eng mit Hannas Zeit als KZ-Aufseherin verbunden, da diese an Selektionen beteiligt war, nach denen regelmäßig Häftlinge zum Tod durch Vergasung nach Auschwitz geschickt wurden und da sie rund 600 Frauen in einer brennenden Kirche sterben ließ, statt diese zu befreien. (Vgl. Köster 82) Da beide Hauptanklagepunkte mit dem Element des Feuers verknüpft sind, wird dieses in allen drei Teilen des Werks metaphorisch aufgegriffen.

Im ersten Teil erfolgt die Darstellung des Feuers zunächst durch den Kohlenkeller sowie den Kohlenstaub, der Michael zum ersten Mal veranlasst, bei Hanna zu baden. (Vgl. S. 24f.) Hier wird »metaphorisch über den von Hanna geheizten Badeofen (26;77) im Vorgriff auf dieses Ereignis [Anm. d. Verf.: gemeint sind die Anklagepunkte] verwiesen.« (Köster 82) 

Im zweiten Teil wird die Feuersemantik subtiler aufgegriffen, als Michael im Wagen eines Fremden zum KZ Struthof trampt. Den Mann kennzeichnet »ein dunkelrotes Mutter- oder Brandmal an der rechten Schläfe«. (S. 144) Zudem erwähnt er in seiner Erzählung einen Offizier, der während einer Judenerschießung in Russland entspannt eine Zigarette raucht. (Vgl. S. 146f.) Die Zigarette ist »metonymisch für die Vernichtung durch Feuer« zu betrachten. (Köster 83) Außerdem wird auf die Krematoriumsöfen in Struthof hingewiesen, die einen direkten Verweis auf den Holocaust bilden. (Vgl. ebd.) 

Im dritten Teil des Werks erinnert nur die Beschreibung einer »gelb und orange flammenden Kastanie« an das Element des Feuers. (S. 194) Es kann als Bestandteil der Natur betrachtet werden, »während das Feuer der Vernichtung in Hannas Bibliothek aus Erinnerungsliteratur (vgl. 193) repräsentiert ist.« (Köster 83) 

Der Vernichtung durch Feuer stellt Schlink die Reinigung durch Wasser gegenüber. Diese wird vor allem durch Michaels und Hannas Baderitual realisiert. Die erste Szene bildet hier die oben genannte Badeszene, die Michael durch eine Kindheitserinnerung mit dem »verwöhnt werden« in Verbindung bringt. (Vgl. S. 29) Auch Hanna duscht stets mit dem Jungen, bevor sie mit ihm schläft und ihn auf diese Weise verwöhnt. Für Hanna selbst handelt es sich weniger um Verwöhnung als um ein Reinigungsritual. (Vgl. Köster 83) Zusätzlich kann das Baden als Initiationsritual für Michael betrachtet werden, da dies unmittelbar vor seiner sexuellen Begegnung mit Hanna geschieht und er beschreibt, wie er unter- und wieder auftaucht, um seine Scham zu überwinden. (Vgl. S. 26) 

    Ist diese Initiation durch die Verknüpfung von Duschen und Lieben eine sexuelle, so ist sie über die Verknüpfung des Wassers mit dem Feuer auch eine existenzielle, nämlich in den Schuldzusammenhang der vorangehenden Generation. (Köster 84)

Das Schwimmbad, welches Michael häufig mit seinen Freunden besucht, steht Hannas Badewanne als Ort des gesellschaftlichen Lebens der Schulklasse entgegen. (Vgl. ebd.) Nach seinem letzten Besuch bei Hanna, bei dem Michael sich während des Geschlechtsverkehrs fühlt »als wolle sie mit [ihm] zusammen ertrinken« (S. 77), geht er ins Schwimmbad. Während des Tauchens fühlt er sich der Welt so wenig zugehörig, dass er nicht das Bedürfnis hat, wieder aufzutauchen. (Vgl. ebd.) »Was in der Initiationsszene als Übergang/Passage angelegt ist, zeigt hier eine deutliche Tendenz zu Untergang und Tod.« (Köster 84)

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.