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Der Vorleser

Sprache und Stil

Schlinks Roman »Der Vorleser« wird retrospektiv aus der Sicht des Protagonisten Michael erzählt. Der Leser erfährt die Geschichte aus der Innenperspektive Michaels und erfährt so die Gedanken und Gefühle des Protagonisten, die der Ich-Erzähler rekonstruiert und reflektiert. 

    Die Differenz zwischen erlebendem und erzählendem Ich macht zwei Arten der Reflexion unterscheidbar: Reflexionen, die Einblick ins Innere des erlebenden Ichs geben, und Reflexionen des Erzähler-Ichs. Diese wiederum können die Diskrepanz der beiden Ichs betonen oder deren Annäherung dokumentieren. (Köster 69)

So ermöglicht der Roman in allen drei Teilen Einblicke in die Gedanken und Gefühle des erlebenden und des erzählenden Ichs. So reflektiert der Erzähler beispielsweise: 

    Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals denke? Ist es die Sehnsucht nach vergangenen Glück – und glücklich war ich in den nächsten Wochen, in denen ich wie blöd gearbeitet und die Klasse geschafft habe und wir uns geliebt haben, als zähle sonst nichts auf der Welt. Ist es das Wissen, was danach kam und dass danach nur ans Licht kam, was schon da war? (S. 38)

Hier wird sowohl die Innensicht des erlebenden Ichs deutlich, welches glücklich über die Beziehung zu Hanna und den Erfolg in der Schule ist, als auch die des erzählenden Ichs, welches seine Gefühle der Trauer über die Vergangenheit hinterfragt. Zudem verdeutlicht das Beispiel das Stilmittel der Vorausdeutungen, die der Erzähler immer wieder in seine Geschichte einstreut. Diese dienen dem Spannungsaufbau und schaffen eine geheimnisvolle Atmosphäre, da das drohende Unheil klar ist, der Grund hierfür jedoch nicht ersichtlich ist.

Das Werk zeichnet sich durch seine klare, nüchterne Sprache aus. Schlink verwendet überwiegend kurze Sätze mit einfachen Formulierungen. Besonders auffällig ist dies zu Beginn des Romans: »Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit begann im Herbst und endete im Frühjahr. Je kälter und dunkler das alte Jahr wurde, desto schwächer wurde ich. Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts.« (S. 5) Der nüchterne Stil lässt darauf schließen, dass der Erzähler eine emotionale Distanz zu der Geschichte wahrt, die er immer noch zu verarbeiten versucht. 

Zudem nutzt Schlink sehr detailreiche, umfassende Umschreibungen in Bezug auf Personen und auch Orte. So beschreibt er auch das Haus, in dem Hanna wohnt, bis ins kleinste Detail:

    Das alte Haus hatte bei gleicher Höhe vier Stockwerke, ein Erdgeschoss aus diamantgeschliffenen Sandsteinquadern und drei Geschosse darüber aus Backsteinmauerwerk mit sandsteinernen Erkern, Balkonen und Fensteröffnungen. Zum Erdgeschoss und ins Treppenhaus führten ein paar Stufen, unten breiter und oben schmaler, auf beiden Seiten von Mauern gefasst, die eiserne Geländer trugen und unten schneckenförmig ausliefern. Die Tür war von Säulen flankiert und von den Ecken des Architravs blickte ein Löwe die Bahnhofstraße hinauf, einer sie hinunter. (S. 8f.)

Der Autor gestaltet an dieser Stelle nicht nur lebendige Schauplätze, er charakterisiert nachfolgend auch auf subtile, indirekte Art Hanna Schmitz, als Michael die Dominanz sowie die »herrschaftliche«, »wunderliche« Art des Hauses beschreibt. (Vgl. S. 8) Das Haus »dominierte die Häuserzeile.« (Ebd.) Diese Personifikation des Gebäudes dient ebenso als Vorausdeutung auf die späteren Ereignisse und charakterisiert Hanna als seine Bewohnerin, die im Laufe der Beziehung den jungen Michael dominiert. 

Schlink vereint im »Vorleser« außerdem mehrere wichtige Motive. Zu diesen gehören die Bedeutung von Feuer und Wasser, auf die im Kapitel »Interpretationsansätze« näher eingegangen werden soll. Ein weiteres Paar dieser gegensätzlichen Motive sind Wärme und Kälte. 

Im ersten Teil wird die Wärme vor allem durch das Ritual des Badens dargestellt. Michael fühlt sich durch die Wärme des Wassers »behaglich« (S. 26) In diesem Teil erscheint die Kälte »als Hintergrund dafür, dass der Junge das warme Wasser als Verwöhnung (vgl. 28) registriert.« (Köster 85) Wärme und Kälte dienen dem Erzähler auch zur Umschreibung von Charaktereigenschaften. Als er Hanna ein Pferd nennt, assoziiert er dieses mit Wärme, Stärke und etwas Gutem. Andererseits beschreibt er Hanna, insbesondere in ihren Streitsituationen, als kalt und hart. (Vgl. ebd.) 

Im zweiten Teil wird das Motiv der Wärme nicht aufgegriffen, dafür ist die Kälte umso präsenter. Michael beschreibt ein »Nebeneinander von Kaltschnäuzigkeit und Empfindsamkeit« (S. 85), welches aus Hannas Fortgehen resultiert. Die emotionale Kälte und die Schwierigkeiten, mit Zuneigung umzugehen (vgl. ebd.), können als Symptome seines Traumas gedeutet werden, das Hannas plötzlicher Verlust ausgelöst hat. Auch Hanna wird Kälte zugeschrieben: »Sie saß wie gefroren.« (S. 86)

Besonders auffällig ist die Wärme-und-Kälte-Thematik im dritten Teil des Romans. Die Kälte äußert sich hier weiterhin maßgeblich als psychische Betäubung, die auch auf die körperliche Ebene übertragen wird. Michael »zeigt eine Störung der Temperaturwahrnehmung, die sich als Verlust des Kältegefühls äußert: ›Mir war nie kalt. [...] Als ich anfing zu fiebern, genoss ich den Zustand‹ (159).« (Köster 86) Auch hier zeigt sich Michaels unverarbeitetes Trauma. 

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.