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Der Vorleser

Teil 2, Kapitel 1-4

Zusammenfassung

Zunächst fällt es Michael schwer, Hanna zu vergessen und nicht mehr überall nach ihr Ausschau zu halten. Schließlich lebt er sein Leben weiter und behält die Jahre nach Hannas Fortgang in glücklicher Erinnerung, auch wenn er wenig fühlt. Die Schule, sein Studium, Freundschaften, Liebschaften und auch Trennungen nimmt er mit Leichtigkeit. Er hatte beschlossen, sich nach Hanna niemals wieder demütigen zu lassen und nie wieder jemanden so zu lieben, dass sein Verlust schmerzt.

Michael gewöhnt sich ein großspuriges Verhalten an. Als er Sophie nach längerer Zeit wieder trifft, drängt er sich in ihr Herz und schläft mit ihr. Sie merkt, dass ihm währenddessen nichts an ihr liegt und fragt weinend, was mit ihm passiert sei. Michael erinnert sich, dass er sogar die letzte Segnung seines Großvaters vor dessen Tod zurückgewiesen hatte und dass er bereits die Beobachtung von liebevoller Zuwendung beklemmend empfand.

Einige Jahre später sieht Michael Hanna im Gerichtssaal wieder. Er ist Jurastudent und nimmt an einem Seminar teil, das sich mit den aktuellen KZ-Prozessen befasst. Die Studenten bekommen die Möglichkeit, einem solchen Prozess beizuwohnen. Einmal wöchentlich wirddiese jüngste Vergangenheit im Seminar aufgearbeitet. Die Studenten sehen die Aufarbeitung der Vergangenheit zu dieser Zeit als ihre Pflicht und verurteilen die älteren Generationen stark. Auch Michael verurteilt seine Eltern zu Scham, obwohl diese sich keiner Tat schuldig machten. Das Seminar sorgt für eine starke Gruppenidentität, über die sich auch Michael sehr freut.

Die Gerichtsverhandlung findet in einer Stadt statt, die etwa eine Stunde von Michaels Heimat entfernt liegt. Er erkennt Hanna erst, als sie als Angeklagte aufgerufen wird. Michael sieht sie und fühlt gar nichts dabei. Hanna bestätigt, dass sie im Herbst 1943 freiwillig zur SS gegangen sei, obwohl sie kurz zuvor das Angebot für eine Beförderung erhalten hatte. Ihr Verteidiger greift zwar ein, erweckt durch seinen Mangel an Erfahrung aber dennoch den Eindruck, dass Hanna diese Entscheidung ohne Not getroffen habe. Michael erfährt durch die Befragung, dass Hanna bis zum Frühjahr 1944 in Auschwitz und bis zum Winter 1944/45 in einem kleineren Konzentrationslager bei Krakau im Wachdienst eingesetzt war. Nach dem Krieg ist sie alle paar Jahre umgezogen – in Michaels Stadt hat sie am längsten gelebt.

Michael bemerkt, dass er Hannas Haft nicht wegen ihrer potenziellen Taten als richtig empfindet, sondern weil das Gefängnis sich außerhalb seiner Lebenswelt befindet. In den vergangenen Jahren wurde Hanna zu einer bloßen Erinnerung für ihn und er will ihr nicht wieder gegenüberstehen. Hanna wurde wegen Fluchtgefahr bereits inhaftiert, da sie auf mehrere Schreiben von der Polizei und der Staatsanwaltschaft nicht reagierte und auch ihre Termine dort nicht wahrnahm.

Michael nimmt nun täglich an der Gerichtsverhandlung teil. Hanna schaut ihn während der Verhandlung nur ein einziges Mal an und wirkt hochmütig dabei. Er beobachtet sie und fühlt sich wie betäubt. Michael stellt sie sich bei den Taten vor, die ihr vorgeworfen werden und er stellt sie sich wieder nackt vor. Die Betäubung, die er fühlt, beobachtet er im Laufe der Zeit auch bei den übrigen Studenten, die den Prozess verfolgen, sowie bei den Schöffen und Richtern. Er fragt sich, wie seine Generation mit den Informationen über die schrecklichen Taten der Nationalsozialisten umgehen soll und steht dem Umgang mit der Thematik kritisch gegenüber.

Analyse

Die Beziehung zu Hanna und ihr Fortgehen ohne einen richtigen Abschied haben weitreichende Folgen für Michaels weiteres Leben. Der einst offene Junge entwickelt sich zu einem verschlossenen jungen Erwachsenen, der seine Gefühle aus Selbstschutz betäubt. Er erkennt, wie falsch seine Erniedrigung vor Hanna war und verweigert weitere enge Bindungen an Frauen, um der Verlustangst und dem Trennungsschmerz zu entgehen. Auch sein großspuriges Verhalten begründet sich in seinen Erfahrungen und dient dazu, andere Menschen auf Abstand zu halten. Seine negative Charakterentwicklung wird vor allem bei seinem Treffen mit Sophie deutlich. Während er der ehemaligen Mitschülerin im ersten Teil freundlich und respektvoll begegnet, nutzt er ihre Gefühle nun aus, damit sie mit ihm schläft. Seine emotionale Kälte wird daran deutlich, dass Sophie schnell bemerkt, dass es ihr bei dem Geschlechtsakt nicht um sie geht. Ihr Schock wird durch den Ausruf »Was ist mit dir passiert« (S. 85) dargestellt und beweist Michaels Veränderung noch einmal. Zusätzlich wird hier auch der Kontrast zwischen ihr und Hanna deutlich. Während Hanna in Konflikten stets aggressiv und dominant reagiert, wird Sophie auch in dieser Situation als gefühlvoll und offen dargestellt. Sie zeigt durch ihr Weinen offen ihre Emotionen und hinterfragt Michaels Handeln, statt ihn zu beschimpfen, nachdem er sich ihr gegenüber respektlos verhalten hat.

Michaels problematische Entwicklung wird zudem an weiteren Beispielen ersichtlich, wie der Beklemmung, die er fühlt, wenn er Gesten der Zuneigung bei Fremden oder in Filmen beobachtet. Hier wird deutlich, welchen Schaden Hannas missbräuchliche Beziehung, die Abhängigkeit und ihr Verlust bei Michael angerichtet haben. Seine emotionale Kälte, die soziale Beeinträchtigung und das gestörte Bindungsverhalten können als Symptome für eine Posttraumatische Belastungsstörung betrachtet werden. (Vgl. Fricke 10f.)

Im Zuge seines Jurastudiums befasst der Student sich umfassend mit der Thematik der Vergangenheitsbewältigung. Dieses Thema war von großer Relevanz für die Nachkriegsgeneration und auch Michael befasst sich immer wieder mit der Problematik. Die Schwierigkeiten, die sich für ihn im Umgang mit der Thematik ergeben, werden vor allem daran deutlich, dass er seine Eltern zu Scham verurteilt. Hier handelt es sich um eine unverdiente Schuldzuweisung, da Michael bewusst ist, dass sein Vater seine Stelle als Dozent verlor, als er eine Vorlesung zu dem jüdischen Philosophen Spinoza halten wollte. Seine Eltern haben sich den Verbrechen der Nationalsozialisten nicht angeschlossen und deren Ideologie nicht vertreten. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit wird zu einem der zentralen Themen des Romans.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.