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Der Vorleser

Historischer Hintergrund und Epoche

Bernhard Schlinks Werk »Der Vorleser« spielt zu Beginn der erzählten Zeit im Deutschland der späten 1950er Jahre und thematisiert somit die Nachkriegszeit. Der Roman wird der Gegenwartsliteratur, genauer gesagt der Nachkriegsliteratur, zugeordnet, welche Werke von 1945 bis zur Gegenwart einschließt. Dies zeigt sich vor allem am historischen Kontext des Werks sowie an der Thematik der Vergangenheitsbewältigung.

Obwohl die Geschichte um Michael und Hanna der Fantasie des Autors entspringt, gilt das nicht für den historischen Kontext des Romans. Das Buch spielt zwischen 1958 und 1994 und greift die NS-Prozesse der 60er- und 70er-Jahre auf. Besonders relevant sind die Auschwitzprozesse vor dem Schwurgericht beim Landgericht Frankfurt am Main, die mit Unterbrechungen zwischen 1963 und 1976 stattfanden. (Vgl. Köster 11)

Schlink verweist innerhalb des Romans zudem mehrfach auf reale Personen der NS-Zeit. Die deutlichsten Beispiele hierfür lassen sich in der Literatur wiederfinden, die Hanna während ihrer Haftzeit liest. »Sie lernt Lesen, um sich um die Gedächtnisliteratur von sowohl Opfern (etwa Primo Levi oder Jorge Semprun) als auch von Tätern (etwa von dem Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß) kümmern zu können.« (Fricke 7) Hier werden reale Täter und Opfer namentlich benannt, um den Realitätsbezug der Geschichte zu stärken.

Eine etwas subtilere Andeutung findet sich in der von Schlink erwähnten Aufseherin, »die ›Stute‹ genannt wurde, ebenfalls jung, schön und tüchtig, aber grausam und unbeherrscht.« (S. 115) Der Spitzname ist nicht nur im Roman selbst von großer Relevanz, da Michael seine ehemalige Geliebte selbst einmal als »Pferd« bezeichnete, sondern besitzt einen historischen Ursprung. Dieser liegt im Majdanek-Prozess, der von 1975 bis 1981 in Düsseldorf stattfand. (Vgl. Köster 11) »Im realen Majdanek-Prozess um Hermine Ryan wird dieser Spitzname aufgeklärt: Man nannte Frau Ryan ›Kobyla, die Stute‹, weil sie ›mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln die Menschen trat‹.« (Ebd. 6) Schlink lässt offen, ob es sich bei Hanna um die Aufseherin handelt, die als »die Stute« bekannt ist. Auch wenn Hannas unbeherrschte, teils gewaltbereite Art für diesen Zusammenhang sprechen, grenzt der Autor Hanna durch ihr Verhalten auch von Hermine Ryan ab. »Ryans Kälte und Leugnung stehen aber im Gegensatz zu Schmitz’ Konzentration auf den Prozessverlauf in Schlinks Text und ihr Bemühen darum zu verstehen, was sie getan hat.« (Ebd.) Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Hanna Schmitz ihre Taten während ihrer Haft reflektiert, sich mit Gedächtnisliteratur der Täter und Opfer befasst und somit ihre Vergangenheit aufarbeitet. Hermine Ryan hingegen sah sich immer als Opfer, nie als Täterin. Generell ist ein solches Verhalten, wie Hanna es zeigt, von keinem verurteilten NS-Täter bekannt. (Vgl. Ebd. 6f.)

Ein weiteres wichtiges Thema der Epoche, welches auch Schlink in seinem Roman thematisiert, ist der Generationenkonflikt zwischen der Tätergeneration und der ersten Nachfolgegeneration. Hier wird vor allem die Frage nach der Schuld thematisiert, die die erste Nachkriegsgeneration als Kollektivschuld ihrer Eltern betrachtet. Das schwierige Verhältnis zwischen Eltern und Kindern stellt Schlink anhand der Beziehung zwischen Hanna und Michael dar.

    Über die inzestuös gefärbte Liebe zu der älteren Frau – bei ihren Übernachtungen in Gasthöfen trägt Michael beide als Mutter und Sohn ein – bekommt die Beziehung zwischen beiden beispielhaften Charakter für das komplizierte Verhältnis zwischen den Generationen, wird zum repräsentativen Abbild des Verhältnisses zwischen der Täter- und den Nachfolgegenerationen. (Ebd. 7)

Der Generationenkonflikt wird in der Realität sowie auch in Schlinks Roman durch die fehlende Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit sowie die Fähigkeit hierzu deutlich.

    Sie ist Beispiel für das entsetzliche Schweigen zwischen den Generationen, denn während ›die Täter und Mitläufer der ersten Generation eher schwiegen aus Angst vor äußeren Angriffen, Vorwürfen und möglichen Strafen, schwiegen die Kinder eher aus Scham und übernommener Schuld‹. (Ebd. 7f.)

Ebenfalls charakteristisch für diesen Generationenkonflikt war der Entzug von Zuneigung als Strafe für die Konfrontation mit der Schuld-Thematik. (Vgl. Ebd. 8) Der Autor konstruiert die Beziehung zwischen Hanna und Michael demnach absichtlich, um reale Konflikte darzustellen, begreifbarer zu machen und aufzuarbeiten.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.