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Der Vorleser

Teil 2, Kapitel 13-17

Zusammenfassung

Im Juni fliegt das Gericht für zwei Wochen nach Israel, um die überlebende Mutter zu vernehmen. Michael kann sich in dieser Zeit nicht wie geplant auf sein Studium konzentrieren, da er unentwegt an Hanna und ihre Rolle als SS-Aufseherin nachdenken muss. Er stellt sich Hanna und ihre Gefangenen beim Vorlesen vor, denkt an sie als Wächterin über die Gefangenen in der Kirche und stellt sich vor, wie sie die Häftlinge kommandiert. Doch auch an ihre Fahrradtour, das Baden und ihren gemeinsamen Geschlechtsverkehr muss er denken. Die beiden konträren Vorstellungen von Hanna verschwimmen in Michaels Kopf miteinander, worunter er sehr leidet.

Um sich eine möglichst realistische Vorstellung von Hannas Zeit in der SS zu machen, besucht Michael das Konzentrationslager Struthof im Elsass. Er trampt dorthin und unterhält sich unterwegs mit dem Fahrer über die Motive und die Schuld der KZ-Aufseher. Dieser reagiert verächtlich und erzählt Michael, er habe einmal eine Fotografie eines Offiziers gesehen, der die Erschießung von Juden beobachtet. Der Mann sei vergnügt gewesen, weil der Feierabend nahte, obwohl er die Juden nicht gehasst habe. Als Michael ihn fragt, ob er dieser Mann gewesen sei, wird er bleich und wirft ihn aus dem Auto.

Michael besucht das KZ kurz vor der Erzählzeit noch einmal, doch es ist geschlossen. Er schaut sich das Gelände von außen an, doch es gelingt ihm noch immer nicht, sich die Ausmaße des Grauens vorzustellen, welches dort stattgefunden hat. Schon sein erster Besuch erzielt nicht die gewünschte Wirkung, denn Michael fühlt sich leer. Er würde Hanna gerne verstehen, will sie aber auch verurteilen und findet keinen Weg, mit beidem zurechtzukommen.

Michael schafft es nicht, mit Hanna zu reden und beschließt, zum Richter zu gehen. Dort entscheidet er sich doch dagegen, ihren Analphabetismus anzusprechen und so unterhalten sie sich ausschließlich über das Seminar und Michaels Werdegang. Nach dem Gespräch fühlt er nichts, als hätte sich eine willkommene Betäubung über die Entsetzlichkeiten der Verhandlung gelegt, die ihm die Rückkehr in seinen Alltag ermöglicht.

Ende Juni verkündet das Gericht sein Urteil. Während die vier anderen Angeklagten zeitliche Freiheitsstrafen erhalten, wird Hanna zu lebenslanger Haft verurteilt. Hanna trägt an diesem Tag ein schwarzes Kostüm mit einer weißen Bluse, das an eine Uniform erinnert. Michael fragt sich, ob dies ihre Absicht war, doch er und auch die übrigen Anwesenden können die Schuldige in ihr sehen. Hanna nimmt das Urteil schweigend an und verlässt den Gerichtssaal mit einem hochmütigen, aber verletzten und verlorenen Blick.

Analyse

Michaels Entwicklung bezüglich seiner Trennung von Hanna kann als rückschrittig angesehen werden. Während er seinen Alltag im Studium vor dem Gerichtsprozess mit Leichtigkeit beherrscht, fokussiert er sich während des Prozesses nur auf seine ehemalige Geliebte. Hiermit verfällt er in dieselbe Situation wie bereits als Jugendlicher, als er die Schule für die Treffen mit Hanna vernachlässigte. Das Wiedersehen mit Hanna erweckt die Abhängigkeit, die diese Jahre zuvor geschaffen hatte. Michael spricht sie zwar nicht an und strebt auch keine Wiederaufnahme der Beziehung an, schafft es aber dennoch nicht, seine Gedanken auf etwas anderes als auf die Frau zu fokussieren. Hierbei entsteht eine Diskrepanz zwischen der Person, die er als Hanna Schmitz kannte und der SS-Aufseherin, die vor Gericht steht. Das Leid, welches Michael verspürt, als sich die beiden Vorstellungen von Hanna in seinem Kopf vermischen, zeigt die nachhaltigen Folgen der Beziehung sowie des Umgangs der Nachkriegsgeneration mit der NS-Zeit. Während Michael seine Eltern, die der NS-Ideologie nie folgten, zu Scham verurteilt, hat er unwissentlich selbst eine Liebesbeziehung zu einer Täterin geführt. Die Schuld, die er sich deshalb anlastet, kann sowohl als Folge der Beziehung zu Hanna, als auch als Folge der Unwissenheit im Umgang mit der Nachkriegszeit betrachtet werden.

Um diese Problematik zu bewältigen, besucht Michael das ehemalige Konzentrationslager Natzweiler-Struthof.

    In der Reise zum Konzentrationslager Struthof, die der Ich-Erzähler während einer Prozesspause allein unternimmt, bleibt er der individuellen und der kollektiven Vergangenheit auf der Spur. Insofern mit der Fahrt zum Struthof sowohl die Bindung des Ich-Erzählers an Hanna Schmitz als auch dessen Distanznahme verbunden sind, repräsentiert diese Fahrt sein Dilemma, das das Dilemma seiner Generation ist. (Köster 57)

Michael bemüht sich, Hannas Verbrechen zu verstehen und zu verurteilen, findet jedoch keinen Weg, beides miteinander zu vereinen. Die Aufklärung und Anklage der Geschehnisse wird zum Auftrag seiner Generation. (Vgl. ebd.) Die Reise zum KZ verweist

    auf die Gefahren des Umgangs mit Nationalsozialismus und Holocaust: auf Klischeebildung infolge des Mangels an Anschauung (vgl. 144f.). Dass der Besuch der Stätten als solcher nicht die gewünschte Anschauung bringt, wird im Kommentar des Ich-Erzählers deutlich. (Ebd. 58)

Michael versucht, sich das Lager gefüllt mit Häftlingen und Leid vorzustellen und scheitert doch daran. Dies erfüllt ihn mit Scham und dem Gefühl, zu versagen. Auch an dieser Stelle wird die Wichtigkeit der Vergangenheitsbewältigung für Michael und seine Generation deutlich.
Am Ende des zweiten Teils des Romans findet Hannas Verurteilung statt. Während die übrigen Angeklagten zeitlich begrenzte Freiheitsstrafen erhalten, wird Hanna zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Verteilung der Haftstrafen bildet eine Parallele zu der realen KZ-Aufseherin Hermine Ryan.

    Die anderen acht Angeklagten erhalten Haftstrafen zwischen drei und zwölf Jahren, Hermine Ryan lebenslänglich. Das Gericht attestiert ihr ›persönlichen Ehrgeiz, Befehle in besonders brutaler und bestialischer Art und Weise auszuführen‹. Sie habe ›aus egoistischem Interesse eilfertig zum befohlenen Mord beigetragen, sich durch eigenen Beitrag die Tat zu eigen gemacht‹. (Ebd. 136)

Wie auch Hermine Ryan wird Hanna besondere Härte vorgeworfen, die die lebenslange Haftstrafe rechtfertigt. Wie auch die Romanfigur wird Hermine Ryan nach einigen Jahren Haft begnadigt. (Vgl. ebd. 136f.) Eine weitere interessante Parallele zwischen der Romanfigur und der realen KZ-Aufseherin liegt in ihrem Kosenamen. Hermine Ryan ist auch als »die Stute von Majdanek« bekannt. (Vgl. ebd. 131) Unter diesem Namen wird sie von den Häftlingen des Lagers gefürchtet. Eine Aufseherin, die unter dem Namen »die Stute« berüchtigt ist, wird auch im Prozess gegen Hanna und die übrigen KZ-Aufseherinnen erwähnt, während Hanna von Michael liebevoll als »Pferd« bezeichnet wird. Schlink lässt hinsichtlich Hannas Verhalten während ihrer Zeit als Aufseherin Interpretationsspielraum offen, doch die Parallelen zwischen Hermine Ryan und Hanna lassen darauf schließen, dass Hanna die Grausamkeiten, die ihr vorgeworfen werden, tatsächlich begangen hat.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.