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Der Vorleser

Teil 1, Kapitel 9-12

Zusammenfassung

Michael ist zur Zeit der Niederschrift der Erzählung traurig, wenn er an seine Zeit mit Hanna zurückdenkt und fragt sich, wieso schöne Erinnerungen rückblickend von unschönen Wahrheiten getrübt werden können.

Er denkt an seine Vergangenheit zurück. Er war schlaksig, trug die Kleidung eines reichen Onkels auf, hatte eine Brille und zerzauste Haare. Als er Hanna damals nach ihrer Vergangenheit fragt, gibt sie ihm nur oberflächliche Antworten.
Sie sei in Siebenbürgen aufgewachsen, mit 17 als Arbeiterin bei Siemens nach Berlin gekommen und mit 21 schließlich zu den Soldaten. Heute sei sie 36 Jahre alt, eine Familie habe sie nicht mehr. Wenn Michael Genaueres wissen will, wie etwa, was aus ihrer Familie wurde und was sie bei den Soldaten gemacht hatte, antwortet sie ihm nur ausweichend oder sagt, dass sie es nicht wisse. Auch über die Zukunft, die Michael sich mit ihr ausmalt, will sie nicht nachdenken.

Die beiden treffen sich regelmäßig und Michael berichtet ihr auch über den Unterrichtsstoff in der Schule. Sie interessiert sich vor allem für den Deutschunterricht und bittet ihn, ihr die Lektüren des Unterrichts vorzulesen. Erst verneint der Junge dies, doch als Hanna ihm den für ihre Treffen üblichen Geschlechtsverkehr verwehrt, lässt er sich auf das Vorlesen ein. Das Ritual ihrer Treffen besteht fortan aus Vorlesen, Duschen und Miteinanderschlafen.

Am ersten Tag der Osterferien fährt Michael am frühen Morgen in der Bahn mit, um Hanna bei der Arbeit zu überraschen. Er steigt in der Hoffnung auf Zweisamkeit in den leeren, hinteren Waggon. Er sieht sie im vorderen Waggon und sie bemerkt auch ihn, steigt jedoch nicht zu ihm um. Verunsichert und traurig steigt Michael nach einigen Haltestellen aus und läuft weinend nach Hause zurück. Er wartet vor Hannas Haustür, um sie zur Rede zu stellen. Doch Hanna reagiert wütend auf ihn, denn schließlich habe er sich in den hinteren Waggon gesetzt, als wollte er sie nicht kennen. Seine Erklärungen lässt sie nicht zu, sondern gibt ihm die Schuld und bittet ihn, zu gehen. Sie zieht sich aus, um ein Bad zu nehmen, und Michael verlässt die Wohnung. Bereits kurze Zeit später kehrt er zurück, nimmt alle Schuld auf sich und entschuldigt sich. Durch ein Kopfnicken bestätigt sie ihm ihre Verzeihung und auch, dass sie ihn liebe.

Michael fragt sich später, ob sie sich nur ausgezogen hatte, weil sie wusste, dass er dann schneller zurückkehren würde und ob es Hanna nur darum ging, ein Machtspiel zu gewinnen.

Er reflektiert, dass dieser Streit von Bedeutung war, denn fortan kapitulierte er bei jedem Streit bedingungslos und gab Fehler zu, die er nicht begangen hatte. Reden konnte er mit Hanna darüber nicht.

In den Osterferien fahren Michael und Hanna gemeinsam mit dem Fahrrad weg. Michael übernimmt die gesamte Reiseplanung und verkauft seine Briefmarkensammlung, um für sich und Hanna bezahlen zu können. Hanna möchte die Reiseroute auf der Karte nicht sehen und auch die Bestellung im Restaurant überlässt sie Michael. Den einzigen Streit auf ihrer Reise haben sie in Amorbach. Michael möchte Hanna mit einem Frühstück und Blumen überraschen, hinterlässt ihr einen Zettel und verlässt das Zimmer. Als er zurückkehrt, ist Hanna wütend. Sie wirft ihm vor, dass er sie im Zimmer allein gelassen hat und schlägt ihn mit ihrem Gürtel ins Gesicht. Hinterher weint sie und säubert Michaels blutiges Gesicht. Als er sie auf den Zettel anspricht, beteuert sie, diesen nicht gesehen zu haben und auch Michael kann den Zettel nirgends mehr finden. Nach dem gemeinsamen Frühstück liest er ihr wieder vor.

Als Michaels Eltern in den Urlaub fahren, möchte Michael Hanna zu sich nach Hause einladen. Seine kleine Schwester soll für diesen Zeitraum bei einer Freundin übernachten und verlangt von Michael dafür eine neue Jeans und einen Pullover. Da Michael kein Geld mehr übrig hat, stiehlt er die Sachen und nimmt auch ein seidenes Nachthemd für Hanna mit. Sie besucht Michael eines Abends und schaut sich das Haus seiner Eltern an. Besonders für die Bücher seines Vaters interessiert sie sich sehr. Michael liest ihr daraus vor und nach einem gemeinsamen Abendessen gehen sie in Hannas Wohnung, da sie sich in dem fremden Haus nicht wohlfühlt. Dort schenkt Michael ihr das Nachthemd, über das sie sich sehr freut.

Analyse

Michaels Trauer, als er in seiner Rolle als Erzähler an seine Zeit mit Hanna zurückdenkt, ist eine Vorausdeutung auf die Handlung des zweiten Teils des Romans, da Michael zum Zeitpunkt der erzählten Zeit noch nichts über Hannas dunkle Geheimnisse wusste, die seine Erinnerung an sie überschatten.

Hanna bleibt zwar weiterhin verschlossen, belügt Michael jedoch zunächst nicht. Sie gibt nur ungern etwas über sich preis, doch die Fakten über ihr Leben, die sie Michael anvertraut, entsprechen der Wahrheit. So verrät sie ihm frühzeitig, dass sie mit 21 Jahren »zu den Soldaten geraten« (S. 41) war. Ihre Position dort vertraut sie Michael nicht an und auch weiteren Fragen zu ihrer Vergangenheit weicht sie aus. Genauso wenig möchte sie mit Michael über ihre Zukunft sprechen. Hanna lebt im Hier und Jetzt, ohne zu planen. Diese eher ungewöhnliche Lebensweise deutet ebenfalls auf ihr Geheimnis des Analphabetismus hin. Ein erster Hinweis auf die Thematik findet sich im Ritual des Vorlesens. Dieses initiiert Hanna aus Interesse an Michaels Schullektüren. Auf sein Angebot, ihr die Bücher auszuleihen, geht sie nicht ein und verlangt stattdessen, dass er ihr regelmäßig vorliest. Als der Junge sich sträubt, nutzt Hanna das bestehende Machtgefälle und droht, sich ihm körperlich zu entziehen, bis er ihr vorlese. So entsteht das Ritual des Vorlesens nicht durch beidseitiges Interesse, sondern durch Zwang und Liebesentzug. Der Entzug der Zuneigung gilt als charakteristisch für den Generationenkonflikt zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration. (Vgl. Fricke 8) Die Kinder mussten lernen, bestimmte Themen nicht anzusprechen und klagten die Eltern hierfür später an. (Vgl. ebd.) So setzt Hanna als Zugehörige der Tätergeneration dieses Verhaltensmuster ein, um das Ritual des Vorlesens einzuführen. Zeitgleich kann das Vorlesen durch Michael als »unreflektierte Reinszenierung der für Hanna unlösbaren Situation gewertet werden […], den Kinder-Vorlesern im Lager kurz vor deren Tod das Leben wenigstens ein wenig erleichtern zu können.« (Ebd. 11) Hier wird die unverarbeitete Traumatisierung der Täterin angedeutet.

Eine weitere Schlüsselszene des ersten Teils ist Michaels Bahnfahrt. Dieser Ausflug dient einzig der Überraschung Hannas, doch durch Michaels Platzwahl entsteht ein Missverständnis. Der Junge reagiert, wie es viele Jugendliche tun würden und entflieht der Situation verletzt und beschämt, als Hanna nicht zu ihm herüberkommt. Später zeigt er Mut und Offenheit, indem er das Gespräch mit seiner Geliebten sucht, um die Situation zu klären. Hanna, als die Erwachsene in dieser Beziehung, verhält sich hingegen weniger besonnen. Durch die Wut, mit der sie Michael begegnet, setzt sie sich selbst in die Rolle eines Teenagers herab und stellt sich dennoch zeitgleich über ihn. Sie ist in ihrer Aggression nicht in der Lage zu einem offenen Gespräch, lässt Michael nicht ausreden und schickt ihn weg. Es handelt sich um ein Machtspiel, welches die toxische Seite ihrer Beziehung verdeutlicht. Unter dem Vorwand, dass sie nun baden wolle, schickt sie Michael weg. Dies soll ihm einerseits zeigen, dass ihr der Streit unwichtig ist, weil ihr sogar ein Bad wichtiger ist als die Schlichtung des Konflikts. Letztlich setzt sie jedoch ihren Körper ein, um ihren Sieg zu garantieren. Sie weiß um ihre Attraktivität und zieht sich aus, damit Michael in jedem Fall zu ihr zurückkehrt.

Michaels Reaktion auf dieses Machtspiel zeigt das Ausmaß der Kontrolle, die Hanna bereits über ihn hat. Er leidet unter Verlustängsten, deshalb erniedrigt er sich vor ihr und gesteht ihr seine Liebe. Hannas Drang nach Kontrolle über die Situation zeigt sich dadurch, dass sie selbst keine Schuld eingesteht und sogar auf Michaels Liebesbekundung nur mit einem Kopfnicken reagiert. Später erkennt Michael Hannas Strategie, doch nimmt er weiterhin jede Schuld auf sich, da er unter der Angst leidet, Hanna zu verlieren. Dies verdeutlicht die absolute Kontrolle, die die Frau über ihn hat und die Kernproblematik ihrer Beziehung. Hanna spielt ihre Dominanz als Erwachsene aus und degradiert Michael zu einem unmündigen Kind.

Den Höhepunkt bildet der Streit während der gemeinsamen Reise. Während sich Hannas Wut bislang nur verbal äußerte, schlägt sie Michael hier mit ihrem Gürtel ins Gesicht – mit einer Wucht, die den Jungen Bluten lässt. Ihre Aggression steigert sich und durch Macht und Dominanz auf psychischer und physischer Ebene gewinnt sie auch in dieser Situation die Oberhand. Michael wehrt sich nicht mehr gegen sie und zeigt damit noch einmal seine Abhängigkeit sowie die Überforderung mit der Situation. Diesen Höhepunkt ihrer Gewalt scheint Hanna selbst zu bereuen, da sie zu weinen beginnt und sich von ihm trösten lässt. Dieser Gefühlsausbruch kann jedoch nicht als Abhängigkeit von Michael gewertet werden, sondern dient als Hinweis auf ihr Problem mit ihrem Analphabetismus. Hannas Reaktion kann als tiefe Scham gedeutet werden, die aus der Hilflosigkeit entstand, dass sie Michaels Zettel nicht verstehen konnte. Ihre Scham lässt sie hier zu Aggression und Gewalt greifen, statt Michael mit Vertrauen und Ehrlichkeit zu begegnen.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.