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Der Vorleser

Zitate und Textstellen

  • »Schon als kleiner Junge hatte ich das Haus wahrgenommen. Es dominierte die Häuserzeile. Ich dachte, wenn es sich noch schwerer und breiter machen würde, müssten die angrenzenden Häuser zur Seite rücken und Platz machen.«
    – Michael, S. 9

    Hier umschreibt Michael das Haus auf der Bahnhofstraße, in dem Hanna lebt. Die Beschreibung des dominant wirkenden Hauses ist kein Zufall, sondern passt genau zu der Frau, die Michael dort kennenlernt. Auch Hanna ist sehr dominant und sticht schnell heraus – besonders für Michael. Er stellt sich die Bewohner des Hauses außerdem düster vor und genauso herrschaftlich und wunderlich wie ihren Wohnort. Auch dies trifft auf Hanna zu. Hier wird zum ersten Mal, wenn auch sehr subtil, ihre dunkle Vergangenheit angedeutet.

  • »Das alles erzählte sie, als sei es nicht ihr Leben, sondern das Leben eines anderen, den sie nicht gut kennt und der sie nichts angeht. Was ich genauer wissen wollte, wusste sie oft nicht mehr, und sie verstand auch nicht, warum mich interessierte, was aus ihren Eltern geworden war, ob sie Geschwister gehabt, wie sie in Berlin gelebt und was sie bei den Soldaten gemacht hatte.«
    – Michael über Hanna, S. 40

    Hannas Vergangenheit wird zum ersten Mal thematisiert und Michael ist verwundert über ihre Verschlossenheit und ihre Erzählweise. Hanna nimmt Abstand von ihrem eigenen früheren Leben und verdrängt damit ihre Taten, um weder Michael noch sich selbst damit konfrontieren zu müssen.

  • »Wir könnten als Mutter und Sohn ein gemeinsames Zimmer nehmen und die ganze Nacht zusammenbleiben. Seltsam, dass mir die Vorstellung und der Vorschlag nicht peinlich waren.«
    – Michael, S. 41

    Michaels Vergleich hebt die problematische Beziehung zwischen ihm und Hanna hervor. Der Altersunterschied von 21 Jahren ist sowohl moralisch verwerflich als auch rechtlich verboten, da Michael noch minderjährig ist. Durch den Vergleich mit Mutter und Sohn verdeutlicht der Autor diese Problematik für den Leser. Dass dem Jungen diese Vorstellung selbst nicht unangenehm ist, verdeutlicht, wie sehr die Rolle der Mutter und die Rolle der Liebhaberin durch Hanna verschwimmen.

  • »Wenn ich heute eine Frau von sechsunddreißig sehe, finde ich sie jung. Aber wenn ich heute einen Jungen von fünfzehn sehe, sehe ich ein Kind.«
    – Michael, S. 41

    Michael reflektiert die Beziehung zu Hanna als Erwachsener. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist er bereits 51 Jahre alt und erkennt die Problematik, die er als Jugendlicher nicht sehen wollte. Auch wenn er selbst Hannas sexuellen Missbrauch an ihm nicht deutlich als solchen deklariert, deutet er ihn an dieser Stelle an, indem er klarstellt, dass er noch ein Kind war, als er mit einer erwachsenen Frau schlief, die seine Mutter hätte sein können.

  • »Hanna hatte sich nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten.«
    – Michael, S. 128

    Michael befasst sich während des Prozesses viel mit Hannas Schuld und ihren Beweggründen für ihre Taten. Als er ihren Analphabetismus entdeckt, stellt er fest, dass Hanna nicht aus Boshaftigkeit und Glauben an die NS-Ideologien gehandelt hat, sondern aus Scham. Sie schämte sich für ihr Defizit und wollte Siemens dringlich verlassen, weil sie Angst vor der Bloßstellung hatte, die sie treffen könnte, sollte jemand von ihrem Problem erfahren. Ob Hanna überhaupt wusste, um welche Art Wachdienst es sich handeln würde, bleibt unklar. Deutlich wird jedoch, dass ihr Handeln nicht durch Hass, sondern durch Angst und Scham motiviert war.

  • »Ich hatte Hanna auf der Bank als alte Frau wiedergetroffen. Sie hatte ausgesehen wie eine alte Frau und gerochen wie eine alte Frau. Ich hatte gar nicht auf ihre Stimme geachtet. Ihre Stimme war ganz jung geblieben.«
    – Michael, S.191

    Michael reflektiert sein letztes Treffen sowie das letzte Telefonat mit ihr, bevor sie am Tag ihrer Entlassung Suizid beging. Michael, der zu diesem Zeitpunkt seit 25 Jahren jede Frau mit Hanna vergleicht, erkennt seine frühere Geliebte nicht wieder, als er sie sieht. Er schließt daraus zunächst, dass die Person, nach der er sich sehnt, nicht mehr existiert. Am Ende des Telefonats bemerkt Michael, dass Hannas Stimme noch dieselbe war wie früher. Dies deutet darauf hin, dass die Person, die er geliebt hat, trotz der Veränderungen und ihrer Taten doch noch existiert. Da Hanna ihm sein Unbehagen angemerkt hat, verdeutlicht die Szene, dass Michaels Erkenntnis zu spät kommt, um sie noch von ihrem geplanten Suizid abzuhalten.

  • »Ich habe … ich meine … Was hätten Sie denn gemacht?«
    – Hanna, S. 107

    Diese Frage stellt Hanna dem Richter in Bezug auf die Selektionen im KZ und erwartet - wie auch der übrige Gerichtssaal - eine ernsthafte Antwort von ihm. Der Richter weicht ihrer Frage nur aus und hinterlässt somit ein unbefriedigendes Gefühl der Befremdung bei den übrigen Anwesenden. Hannas Frage zeigt, dass sie ehrlich interessiert daran ist, zu erfahren, welcher Lösungsweg der richtige gewesen wäre. Weiterhin könnte Hannas Frage auch als Appell interpretiert werden, sie nicht für eine Situation zu verurteilen, die die übrigen Personen nicht durchlebt haben. Dies galt in der Generation der Täter als häufige Argumentationsweise. Da Hanna nach der Antwort des Richters gedankenverloren fragt, ob ihr Fehler darin lag, dass sie sich bei Siemens für den SS-Wachdienst gemeldet hatte, ist jedoch davon auszugehen, dass die Frage an den Richter aus aufrichtigem Interesse motiviert war.

  • »Das aber, was andere aus meinem sozialen Umfeld getan hatten und womit sie schuldig geworden waren, war allemal weniger schlimm, als was Hanna getan hatte. Ich mußte eigentlich auf Hanna zeigen. Aber der Fingerzeig auf Hanna wies mich zurück. Ich hatte sie geliebt. Ich hatte sie nicht nur geliebt, ich hatte sie gewählt.«
    – Michael, S. 162

    Michael befasst sich während des Prozesses nicht nur mit Hannas Schuld, sondern auch mit seiner eigenen. Während er als Jugendlicher seine Eltern zu Scham verurteilt, obwohl diese zur Kriegszeit weder Täter noch Mitläufer waren, sieht er sich nun Hanna als Schuldige. Die Formulierung »eigentlich« zeigt, wie schwierig die Schuldzuweisung für Michael ist, da er sich plötzlich durch seine Liebe zu ihr mit einer eigenen Schuld konfrontiert sieht. Er findet keinen Umgang mit dieser Selbstschuld und sieht den Umstand, dass er die Liebe zu Hanna – anders als familiäre Liebe – selbst gewählt hat. Durch diese freie Wahl seiner Partnerin betrachtet Michael sich trotz seiner Unwissenheit als besonders schuldig.

  • »Wir hätten sie doch nicht einfach fliehen lassen können! Wir waren doch dafür verantwortlich...«
    – Hanna, S. 122

    Hier spricht Hanna über die Frauen, die sie und die anderen Angeklagten in der Kirche haben verbrennen lassen. Die Aussage beweist Hannas Pflichtbewusstsein ihrem Arbeitgeber gegenüber, welchen sie auch während der grausamen Taten an anderen Menschen nicht hinterfragt. Auch wenn Hanna sich nicht aus Überzeugung für den Dienst in der SS entschieden hat, wird hier deutlich, dass sie trotz der Umstände, die sie in den Dienst brachten, keineswegs unschuldig ist. Stattdessen zeigt sich hier Hannas emotionale Kälte, da sie für die indirekte Tötung so vieler Menschen zu diesem Zeitpunkt keine Reue zeigt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass diese Kälte aus ihrem Täter-Trauma resultiert.

  • »Sie hatte mir also keine Nachricht hinterlassen. Wollte sie mich kränken? Wollte sie mich strafen? Oder war ihre Seele so müde, daß sie nur noch das Allernötigste hatte tun und schreiben können?«
    – Michael über Hanna, S. 196

    Michael stellt sich diese Fragen, nachdem er erfährt, dass Hanna ihren Abschiedsbrief vor ihrem Freitod an die Gefängnisleiterin gerichtet hatte, ohne auch ihm noch letzte Worte zukommen zu lassen. Diese Reaktion verdeutlicht, dass Michael seine Beziehung zu Hanna auch 25 Jahre nach ihrem Ende nicht verarbeitet hat, obwohl die Distanz innerhalb der letzten Jahre von ihm selbst ausging. Seine ersten Vermutungen zu Hannas Absicht sind Strafe und Kränkung, da er die Erniedrigung, die er durch Hanna erfahren hat, nie vollständig überwunden hat. Erst an dritter Stelle bedenkt er Hannas seelisches Leid, das sie nach jahrelanger Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit in den Tod trieb.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.