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Der Vorleser

Teil 3, Kapitel 5-8

Zusammenfassung

Michael kann nach seiner Trennung von Gertrud nachts oft nicht schlafen und beginnt, die Odyssee zu lesen. Er muss ebenso häufig an Hanna denken und beginnt, das Werk laut vorzulesen und es für Hanna auf Kassetten aufzunehmen. Nachdem er die Odyssee beendet hat, beginnt er sofort mit der nächsten Kassette und schickt diese schließlich zu Hanna ins Gefängnis. Zudem beginnt er, selbst zu schreiben und nimmt auch diese Texte für Hanna auf. Er sendet ihr die Kassetten zu, fügt jedoch nie eine persönliche Bemerkung an.

Nach vier Jahren, in denen Michael stetig neue Aufnahmen an Hanna schickt, sendet diese ihm eine kurzen Brief, einen einzigen Satz, als Dankeschön. Michael jubelt über Hannas Fortschritt. Im Laufe der Zeit erhält er weitere Botschaften, doch er antwortet Hanna nie. Ihre Briefe hebt er auf und freut sich über die Verbesserung, die er erkennen kann.

Michael erhält einen Brief der Gefängnisleiterin, die ihm mitteilt, dass Hannas Gnadengesuch im nächsten Jahr voraussichtlich stattgegeben wird. Nach 18 Jahren Haft darf sie das Gefängnis verlassen. Sie bittet Michael darum, Hanna einmal zu besuchen, sie bei ihrer Entlassung abzuholen und ihr eine Wohnung und Arbeit zu beschaffen. Er sei der einzige Mensch, der Kontakt zu Hanna suche. Michael ist unwohl bei dem Gedanken, kommt ihrer Bitte jedoch nach. Nur zu dem Besuch kann er sich nicht überwinden. Eine Woche vor Hannas Entlassung ruft die Gefängnisleiterin Michael an und fragt ihn noch einmal, ob er Hanna nun besuchen käme.

Er besucht Hanna an einem Sonntag im Gefängnis und erkennt sie zunächst nicht wieder. Hanna ist stark gealtert, schwerer geworden und auch ihr Geruch hat sich verändert. Sie freut sich, ihn zu sehen und sie unterhalten sich über ihre Briefe, ihren Fortschritt und schließlich auch über den Prozess. Hanna erklärt, sie habe sich unverstanden gefühlt und wenn sie keiner verstehe, könne auch niemand Rechenschaft von ihr fordern. Während ihrer Haft habe sie sich viel mit den Toten beschäftigt, die sie jede Nacht heimsuchen und Rechenschaft forderten.

Michael verspricht ihr, sie in der nächsten Woche abzuholen und nimmt sie in den Arm, doch sie fühlt sich nicht richtig an.

Analyse

Nach der Trennung von Gertrud zeigt sich erneut Michaels Abhängigkeit von Hanna, die er auch nach Jahren nicht loslassen kann. Hanna war durch ihre Präsenz in seinen Gedanken bereits der Grund für die Scheidung und bildet nun auch die Instanz, die Michael zur Verarbeitung seiner gescheiterten Ehe zu Rate zieht. Hierzu wendet er sich zwar nicht direkt an Hanna, doch nachdem er immer häufiger an sie denken muss, nimmt er ihr früheres Ritual des Vorlesens wieder auf, um ihr im Geiste nahe zu sein. Er sucht den Kontakt zu seiner ehemaligen Geliebten, doch beschränkt er sich auf eine möglichst verschlossene Art der Kommunikation, indem er ihr die Kassetten kommentarlos zusendet. Dies kann als Selbstschutzmechanismus gewertet werden, da Michael sich vor einem erneuten Verlust Hannas fürchtet und sich bei einer Wiederaufnahme der persönlichen Beziehung erneut – und nun auch bewusst – der Liebe zu einer Verbrecherin schuldig machen würde.

Schließlich greift Schlink auch den Analphabetismus wieder auf, indem er Hanna Briefe an Michael senden lässt. Durch ihr ungeübtes Schriftbild, welches sich mit der Zeit verbessert, bestätigt er den Analphabetismus, der bislang nur als Vermutung Michaels existierte. Die Briefe weisen auf Hannas Schritte aus der Unmündigkeit. (Vgl. Köster 51) Michael zeigt trotz ihrer Taten und seiner eigenen Schuldgefühle Zuneigung für Hanna, wenn er über ihren Schreibfortschritt jubelt. Das Jubeln als Ausdruck enormer Freude steht in einem starken Kontrast zu Michaels emotionaler Kälte. Der Moment kann als ein Augenblick der emotionalen Wiedererweckung betrachtet werden und verdeutlicht noch einmal den großen Einfluss, den Hanna noch immer auf Michael ausübt.

Trotz seiner Kontaktsuche und seiner Freude über ihre Fortschritte fühlt Michael sich unwohl bei dem Gedanken, die ehemalige Freundin aus dem Gefängnis abzuholen. Michael leidet unter der Angst, »die kleine, leichte, geborgene Welt der Grüße und Kassetten sei zu künstlich und zu verletzlich, als dass sie die reale Nähe aushalten könnte.« (S. 183) Sein Unvermögen, sich vorzustellen, wie sie einander begegnen könnten, »ohne das alles hochkommt, was zwischen [ihnen] geschehen war« (ebd.), zeigt die Verdrängung der Ereignisse. Michael behält Hanna als eine Art Brieffreundin, die jedoch keinen Bezug zur Realität hat. Er vermeidet die tiefere Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit, um ihr weiterhin auf eine Art nahe sein zu können. Nach Jahren ohne Kontakt hat er sich wieder in eine Art der Abhängigkeit begeben.

Während ihres Wiedersehens im Gefängnis wird vor allem Hannas Entwicklung deutlich. In den 18 Jahren ihrer Haft hat sie sich physisch wie psychisch stark verändert. Michael empfindet sie nun als alte Frau mit einem unangenehmen Geruch und kann ihre frühere Schönheit nicht mehr entdecken. Sie fühlt sich für ihn ebenso falsch an wie die anderen Frauen, die ihn in den Jahren begleitet haben. Dies zeigt, dass er sich nicht an die reale Hanna klammert, sondern an eine Erinnerung, die er nicht loslassen kann.

Auch Hannas Charakter hat sich stark verändert. Zum ersten Mal spricht sie offen mit Michael über sich und ihren Prozess und erklärt ihm ihre Motive. Sie scheint ihre Aggression vollständig abgelegt zu haben und ist sogar in der Lage, ihre Schuld in Bezug auf ihre NS-Vergangenheit einzugestehen. Da sie während der Beziehung mit Michael stets jede Schuld – auch in Bezug auf Kleinigkeiten – von sich gewiesen hat, handelt es sich hier um eine umfassende Weiterentwicklung. Ebenso ist ihre emotionale Verschlossenheit einer offenen Art gewichen. Dies ist an ihrer spürbaren Enttäuschung bemerkbar, die sie zeigt, als Michael eine körperliche Distanz zu ihr wahrt. Dies zeigt auch, dass auch sie die Emotionen für Michael bewahrt hat.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.