Skip to main content

Der Vorleser

Figuren

Figurenkonstellation

Der Vorleser – Figurenkonstellation
  • Michael Berg

    Der Protagonist Michael Berg ist zu Beginn der erzählten Zeit 15 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern im zweiten Stock eines wuchtigen Hauses in der Blumenstraße in Heidelberg.

    Er wird als schlaksiger Junge beschrieben, dessen Arme und Beine zu lang für die Koordination seiner Bewegungen erscheinen. Damit zeigt Michael »das pubertätstypische Bild eines Jugendlichen, dem die rechten Proportionen fehlen«. (Vgl. Köster 41) Er trägt eine billige Brille und elegante Anzüge, die ein reicher Onkel ihm hinterlassen hat. Der Junge leidet zu Beginn der erzählten Zeit an Gelbsucht. Hanna lernt er nur kennen, weil sie sich um ihn kümmert, als er sich vor ihrem Haus übergeben muss.

    Michael beschreibt sich selbst als unscheinbaren Jungen, der in der Schule durchschnittliche Leistungen erbringt und von den Lehrern sowie seinen Mitschülern kaum wahrgenommen wird. Er selbst ist sehr unzufrieden mit sich, wie er als Erzähler berichtet: »Ich mochte nicht, wie ich aussah, wie ich mich anzog und bewegte, was ich zustande brachte und was ich galt.« (S. 39) Trotz seiner Unzufriedenheit äußert der Junge positive Erwartungen an seine Zukunft: »Aber wie viel Energie war in mir, wie viel Vertrauen, eines Tages schön und klug, überlegen und bewundert zu sein, wie viel Erwartung, mit der ich neuen Menschen und Situationen begegnet bin.« (S.39)

    Hannas Einfluss hat weitreichende und nachhaltige Folgen für Michael. Zunächst fühlt er sich von ihr magisch angezogen. Miriam Moschytz-Ledgley sieht die besondere Anziehung, die Hanna auf Michael ausübt, als die Verbindung des sexuellen Reizes mit dem Unerklärlichen. Das Unerklärliche identifiziert Moschytz-Ledgley als Hannas dunkle Vergangenheit, die sie trotz ihres Verleugnungswunschs nach außen trage. (Vgl. Moschytz-Ledgley 39) Durch sein Alter und seine Generation ist Michael sowohl mit Bezug auf Sexualität als auch auf diedeutsche Vergangenheit sehr empfindsam. (Vgl. ebd.)

    Durch seine Beziehung zu der älteren Frau gewinnt er zunächst Selbstsicherheit. Sein neugewonnenes Selbstbewusstsein erleichtert ihm den Umgang mit seinen Mitschülern und auch in seinem Körper fühlt er sich wohler. Trotz dieser positiven Entwicklung hat die Beziehung zu Hanna überwiegend negative Folgen für Michael. Zunächst erniedrigt sie den Jungen und unterwirft ihn, bis er sich nicht mehr traut, ihr zu widersprechen und im Streit sogar Fehler zugibt, die er nicht begangen hat, da Hanna sonst droht, ihn hinauszuwerfen. Michael wirkt ihr gegenüber unmündig, macht sich emotional von ihr abhängig und leidet unter Verlustängsten.

    Umso härter trifft ihn Hannas Fortgehen. Michael fühlt sich fortan innerlich betäubt. Seine scheiternde Ehe, zahllose erfolglose Beziehungen sowie seine kurze Affäre mit der ehemaligen Mitschülerin Marie beweisen, dass Michael nach dem Missbrauch, den Hanna an ihm verübt hat, nicht mehr dazu in der Lage ist, eine glückliche Beziehung zu führen, ohne an sie zu denken.

    Zur Erzählzeit ist Michael bereits etwa 51 Jahre alt und arbeitet als Rechtshistoriker an einer Universität. Über die positive Erwartung, die er als Jugendlicher an die Zukunft hatte, ist er traurig, da diese nicht eintraf. Seine Emotionen schildert er bereits zu Beginn des Romans. Sie weisen auf die Folgen hin, die die Geschehnisse um Hanna für Michaels späteres Leben haben und sind als Andeutung seines Traumas zu betrachten.

      Alle seine Bemühungen, sich von Hanna zu befreien, [sind] erfolglos geblieben. Der Einundfünfzigjährige empfindet sich mit ihr verbunden und schuldig, nicht nur wegen des Gerichtsurteils und ihres Todes, denn den habe sie selbst herbeigeführt. (S. 192) Sein Leben sei immer noch bestimmt von einem ›Gefühl, sie verraten zu haben und an ihr schuldig geworden zu sein.‹ (S. 190). (Kampmeyer 25)

    Seine Erfahrungen versucht Michael zu verarbeiten, indem er Hannas und seine Geschichte schreibt. Am Ende berichtet er, dass er beginnt, Frieden mit ihr zu schließen.

  • Hanna Schmitz

    Hanna Schmitz ist zu Beginn des Romans 36 Jahre alt und wohnt nur wenige Straßen von Michaels Elternhaus entfernt. Sie wurde am 21.10.1922 in Hermannstadt geboren, lebt jedoch bereits seit einigen Jahren in der Bahnhofstraße. Hier mietet sie eine kleine Wohnung in einem Haus, welches der Erzähler als herrschaftlich, aber düster und wunderlich beschreibt. Ihre Wohnung ist stets sauber und ordentlich. Eine Familie hat sie nicht mehr.

    Hanna besitzt ein »großflächiges, herbes, frauliches Gesicht«. (S. 14) Sie hat hohe Wangenknochen, eine hohe Stirn, volle Lippen, ein kräftiges Kinn und ihre Augen sind blassblau. Ihr aschblondes Haar trägt sie schulterlang. Der Protagonist Michael empfindet die Frau als sehr schön und anziehend.

    Hannas Verhalten gegenüber dem jungen Michael ist sehr widersprüchlich. Sie kümmert sich hilfsbereit um ihn, als er sich vor ihrem Haus übergeben muss, »doch sie tat es fast grob.« (S. 6) Dies zeigt zum ersten Mal die emotionale Distanz, die sie zu anderen Menschen wahrt. Diese ist auch daran erkennbar, dass sie kaum bereit ist, Michael Fragen zu ihrer Vergangenheit, ihrer Beschäftigung in ihrer Freizeit oder der gemeinsamen Zukunft zu beantworten. Als sie sich dem Jungen öffnet, handelt es sich zunächst um eine rein sexuelle Beziehung. Aufgrund des Altersunterschieds von 21 Jahren ist diese Beziehung als sexueller Missbrauch an einem Minderjährigen zu verordnen. Die unangenehme Note, die vor allem den sexuellen Begegnungen zwischen den beiden Protagonisten anhaftet, wird durch Hannas teilweise mütterliches Verhalten unterstützt. (Vgl. Fricke 7) Mehrfach badet sie Michael, wäscht ihn und trocknet ihn danach ab – ein Verhalten, das sogar ihn selbst an eine ähnliche Szene aus seiner Kindheit erinnert. Weiterhin ist Hanna sehr dominant – um Michael gefügig zu machen, nutzt sie neben der sexuellen Aktivität auch physische und psychische Gewalt. Sie erniedrigt ihn, droht ihm und spielt so Machtspiele, die bei dem Jugendlichen Verlustängste auslösen.

    Über sehr lange Zeit hütet Hanna ein Geheimnis. Sie ist Analphabetin und schämt sich für dieses Defizit so sehr, dass dieses ihr gesamtes Leben bestimmt. Aus Angst vor der Bloßstellung wechselt sie mehrfach den Job, als ihr Beförderungen angeboten werden und zieht regelmäßig um. Letztlich nimmt sie sogar eine lebenslange Haftstrafe in Kauf, um ihre Schwäche nicht eingestehen zu müssen. Auch ihre Vergangenheit als KZ-Aufseherin steht in Zusammenhang mit der Thematik.

    Hanna arbeitete in Berlin bei Siemens, wo ihr eine Stelle als Vorarbeiterin angeboten wurde. Da diese Arbeit für sie als Analphabetin nicht umsetzbar war, sie dies jedoch nicht zugeben wollte, ging sie zur SS, als diese für den Einsatz im Wachdienst warb. Sie wurde zunächst in Auschwitz, dann in einem Lager bei Krakau eingesetzt. Hanna wird hier als sehr pflichtbewusst, aber wenig hinterfragend charakterisiert. Sie gesteht, an Selektionen der Juden teilgenommen zu haben und mitverantwortlich für den Tod von 600 Frauen zu sein, die während eines Bombenangriffs in einer Kirche verbrannten, nachdem die Aufseherinnen sie dort eingesperrt hatten. Während ihres Gerichtsprozesses zeigt sie zunächst wenig Reue, was ihre emotionale Kälte untermauert. Während ihrer Haft durchläuft sie eine weitreichende Entwicklung. Sie erlernt das Lesen und Schreiben und befasst sich mit ihrer Vergangenheit. Ihre Reue wird maßgeblich durch ihren Suizid am Tag der Begnadigung verdeutlicht.

  • Gertrud

    Gertrud ist Michaels Ex-Ehefrau. Die beiden lernen sich in einem gemeinsamen Skiurlaub mit Freunden während des Studium kennen. Auch Gertrud studiert Jura und arbeitet nach ihrem Referendariat als Richterin. Sie wird als ehrgeizige, zielstrebige Karrierefrau charakterisiert, da sie sich ohne zu zögern für das Amt der Richterin entscheidet und Michaels Entscheidung, Rechtshistoriker statt Richter oder Staatsanwalt zu werden, nicht nachvollziehen kann.

    Michael beschreibt sie als »gescheit, tüchtig und loyal«. (S. 164) Sie heiraten noch im Referendariat, als Gertrud mit der gemeinsamen Tochter Julia schwanger ist. Michaels Aussage, dass ihr Leben »erfüllt und glücklich geworden« (S. 164) wäre, wenn sie mehr Arbeit und weniger Zeit füreinander gehabt hätten, zeigt die emotionale Distanz zwischen den Ehepartnern. Als Julia fünf Jahre alt ist, lassen sie sich einvernehmlich scheiden. Beide Ehepartner »sind ohne Bitterkeit gegangen und in Loyalität verbunden geblieben«. (S. 165) Auch hier zeigt sich Gertruds rationaler, emotional distanzierter Charakter.

    Gertrud ahnt nichts von Michaels Vergangenheit mit Hanna, da dieser seiner Frau diesen wichtigen Teil seiner Vergangenheit verschweigt. Der Grund für das Scheitern der Ehe ist Michaels stetiger Vergleich zwischen Gertrud und Hanna, den seine Ehefrau stets verliert.

    Gertrud kann als Kontrastfigur zu Hanna betrachtet werden, da sie sehr gebildet ist, ihre Karriere mit Ehrgeiz verfolgt und einen sehr rationalen, loyalen Charakter besitzt. Hannas Analphabetismus steht im Kontrast zu Gertruds Bildung und ihre Karriere gibt sie immer dann auf, wenn ihr Defizit ans Licht kommen würde. Zudem ist Hanna eine sehr grobe, aufbrausende Frau, die Michael im Streit unterwirft. Gertrud hingegen erscheint ausgeglichen und unkompliziert, da sie sogar nach der Scheidung bereit ist, einen loyalen Umgang mit ihrem Ex-Mann zu pflegen.

  • Sophie

    Sophie ist Michaels Mitschülerin und wird zu einer Freundin für ihn. Sie lernen sich in der Oberstufe des Gymnasiums kennen, als ihre Klassen zusammengelegt werden. Als Michael sich neben sie setzt, lächelt Sophie ihn an. Da sie nur wenige Straßen von Michael entfernt wohnt, gehen die beiden häufig gemeinsam zu den Treffen mit der Freundesgruppe im Schwimmbad und entwickeln so eine Freundschaft.

    Sophie kann als zweite Kontrastfigur zu Hanna betrachtet werden. Das Mädchen ist »braunhaarig, braunäugig, sommerlich gebräunt, mit goldenen Härchen auf den nackten Armen« (S. 64), während Hanna als blond, blass und blauäugig beschrieben wird. Während Sophie als Jugendliche in Michaels Alter mädchenhaft ist, ist Hanna sehr fraulich und hat eine kräftigere Figur. Auch charakterlich stehen die Figuren in Kontrast zueinander. Sophie wird sehr aufmerksam, offen und kommunikativ dargestellt, indem sie beispielsweise Sorge um Michael zeigt, da sie merkt, dass er ihr etwas verschweigt. Hiermit steht sie Hannas Verschlossenheit und emotionaler Distanz entgegen.

    Neben Hanna ist Sophie die einzige Frau, für die sich Michael zu interessieren scheint. Seine Gefühle für sie äußern sich in seiner emotionalen Verwirrung, als die Klasse im Unterricht die Odyssee und »Nausikaa, den Unsterblichen an Wuchs und Aussehen gleichend, jungfräulich und weißarmig« analysiert. (S. 66) Michael denkt an Hanna und Sophie und fragt sich, welche der beiden Frauen für ihn die Nausikaa ist. Sophie kann als subtiler Verweis darauf betrachtet werden, wie Michaels Leben ohne seine problematische Beziehung zu Hanna hätte verlaufen können. Da er Gefühle für sie zeigt, und Sophie diese erwidert, wie sich an einer späteren, kurzen Affäre im Studium zeigt, hätte Sophie Michaels Jugendliebe werden können. Michaels emotionale Verschlossenheit und seine Bindungsängste sind als Folgen von Hannas Missbrauch zu betrachten. Sophie löst beim Leser eine Vorstellung des harmonischen Lebens aus, welches Michael alternativ hätte führen können.

  • Gefängnisleiterin

    Die Gefängnisleiterin ist eine »[...] eine kleine, dünne Frau mit dunkelblonden Haaren und Brille. Sie wirkte unscheinbar, bis sie zu reden begann, mit Kraft und Wärme und strengem Blick und energischen Bewegungen der Hände und Arme.« (S. 192) Ihre oberflächliche Beziehung zu Michael wird unter anderem dadurch dargestellt, dass der Name der Frau keine Erwähnung findet.

    Die Gefängnisleiterin schreibt einen Brief an Michael, um ihn darum zu bitten, sich nach ihrer Entlassung um Hanna zu kümmern. Diese persönliche Geste zeigt, dass die Frau ihrem Job mit Sorgfalt und persönlichem Engagement nachgeht. Ihr Einfühlungsvermögen für Täterinnen wie Hanna beweist den guten Charakter der Frau, die bemüht ist, den Inhaftierten trotz ihrer Taten bestmöglichen Beistand zu leisten. So kümmert sie sich beispielsweise auch darum, Hanna Literatur über Konzentrationslager zu beschaffen, damit diese sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen kann.

    Von Michael abgesehen ist die Gefängnisleiterin die einzige Person, die eine Bindung zu Hanna aufbaut. Sie ist eine gute Beobachterin und bemerkt sowohl Hannas fehlende Sozialkontakte außerhalb des Gefängnisses als auch ihre Position innerhalb der Inhaftierten. Auch Hannas Analphabetismus bemerkt sie, als diese versucht, sich das Lesen und Schreiben mithilfe von Michaels Kassetten beizubringen. Hanna, die besonders in Bezug auf ihr Defizit sehr verschlossen ist, erzählt der Leiterin schließlich doch von ihrer Schwäche und zeigt ihr ihre ersten Briefe, um ihre Freude zu teilen. Dies zeigt nicht nur Hannas Entwicklungsprozess, sondern untermauert auch die empathische und aufmerksame Art der Gefängnisleiterin. Dass sie das Vertrauen der Inhaftierten genießt, wird vor allem auch daran deutlich, dass Hanna ihren Abschiedsbrief an sie richtet. Auch in Bezug auf den Tod Hannas scheint die Frau sehr betroffen, was ihre Bemühungen um die gefangenen Frauen und ihren Respekt für diese noch einmal verdeutlicht.

  • Michaels Familie

    Zu den Nebenfiguren des Romans gehört die Familie des Protagonisten, die aus dessen Eltern und drei Geschwistern besteht. Michaels Verhältnis zu seiner Familie scheint überwiegend distanziert. Dies wird vor allem daran deutlich, dass keines seiner Familienmitglieder namentlich benannt wird.

    Michaels Vater arbeitet als Professor für Philosophie an einer Universität. Sein Verhältnis zu seinem Sohn ist sehr distanziert, da der Vater nur wenig Zeit für seine Kinder hatte. Michael beschreibt sein Verhältnis zu ihm als wenig liebevoll:

      Mein Vater war verschlossen, konnte weder uns Kindern seine Gefühle mitteilen noch etwas mit den Gefühlen anfangen, die wir ihm entgegenbrachten. Lange vermutete ich hinter dem unmitteilsamen Verhalten einen Reichtum ungehobener Schätze. Aber später fragte ich mich, ob da überhaupt etwas war. Vielleicht war er als Junge und junger Mann reich an Gefühlen gewesen und hatte sie, ihnen keinen Ausdruck gebend, über die Jahre verdorren und absterben lassen. (S. 134)

    Hier handelt es sich um eine Parallele zu Michaels eigenem Erwachsenenleben, da er nach Hannas Fortgehen selbst Verschlossenheit und emotionale Kälte entwickelt, die die Menschen, welche ihm nahestehen, bemerken. Der Vater ist sich seiner Vernachlässigung der familiären Pflichten bewusst. So gibt er zu, seine Kinder manchmal vergessen zu haben. (Vgl. S. 136) Dies zeigt, dass er sein Verhalten – wie auch der erwachsene Michael – gut reflektieren kann. Trotz seiner emotionalen Abwesenheit ist er bemüht, Michael mit Rat zur Seite zu stehen, als dieser während des Prozesses in einen moralischen Konflikt gerät. Als er feststellt, dass er seinem Sohn nicht helfen konnte, bedauert er dies: »Als Vater finde ich die Erfahrung, meinen Kindern nicht helfen zu können, schier unerträglich.« (S. 139) Dies beweist, dass er seinen Sohn trotz seines Fehlverhaltens liebt. Seine fehlende Kommunikationsbereitschaft kann als charakteristisches Merkmal für den Konflikt zwischen der Kriegs- und der Nachkriegsgeneration betrachtet werden. (Vgl. Fricke 7f.) Schlink kritisiert durch die Figuren das Verhalten der älteren Generation in Bezug auf ihre NS-Vergangenheit, über die sie mit den Kindern nicht sprechen wollten. »Kinder werden so zu Stellvertretern der Tätergeneration, die Tätergeneration reagiert auf Nachfrage aus dieser Gruppe oft paranoid oder mit Kontaktabbruch.« (Ebd. 8) Aus Michaels Erzählung geht hervor, dass sein Vater zur Erzählzeit bereits verstorben ist.
    Michaels Mutter ist als Hausfrau für die Erziehung der vier Kinder zuständig. Auch sie erscheint abwesend, da sie in der Geschichte nur selten Erwähnung findet. In der Familienhierarchie ist sie dem Vater unterstellt. Dies ist beispielsweise daran erkennbar, dass sie die Entscheidung, ob Michael nach seiner Gelbsucht zurück in die Schule darf, dem Vater überlässt, obwohl die Kinder in ihren täglichen Aufgabenbereich fallen.
    Michaels Mutter hat einen fürsorglichen Charakter. So erinnert der Protagonist sich gerne daran, wie sie ihn als Kind gebadet hat. Durch die Wiederholung dieses Rituals mit Hanna wird die Szene jedoch in einen sexuellen Kontext gerückt, der die Rolle der Mutter und die Rolle Hannas miteinander verschwimmen lässt.

    Zu Michaels Familie gehören des Weiteren drei Geschwister, die jedoch ebenso nur selten erwähnt werden. Michael hat einen älteren Bruder, mit dem er sich ein Zimmer teilt. Ihr Verhältnis war bereits in der Kindheit schwierig. Er hat eine ältere Schwester, die Germanistik studiert und eine jüngere Schwester. Die Familienverhältnisse scheinen eher oberflächlich und teilweise schwierig zu sein, da Michael sich hier eine Veränderung wünscht: »Manchmal hätte ich auch meinen nörgelnden Bruder und meine freche kleine Schwester lieber anders gehabt.« (S. 31)

  • Die Überlebende

    Eine besonders wichtige Zeugin in Hannas Gerichtsprozess ist eine der beiden Überlebenden aus dem KZ, in dem Hanna als Aufseherin eingesetzt war.

    Die Frau ist Jüdin und bleibt, wie viele Figuren in Schlinks Werk, namenlos. Sie wird weder freundlich noch unfreundlich beschrieben und bleibt damit völlig neutral. »Alles an ihr wirkte sachlich, Haltung, Gestik, Kleidung. Das Gesicht war eigentümlich alterslos. So sehen Gesichter aus, die geliftet worden sind. Aber vielleicht war es auch unter dem frühen Leid erstarrt [...].« (S. 200f.)

    Über das Leben der Frau ist nur wenig bekannt. Als Kind war sie gemeinsam mit ihrer Mutter in dem Konzentrationslager bei Krakau gefangen. Sie überlebte den Zug nach Westen und wurde mit rund 600 weiteren Frauen während diesem in einer Kirche eingesperrt. Durch einen Bombenangriff fing die Kirche Feuer, doch die Aufseherinnen befreiten die Frauen nicht. Die Überlebende und ihre Mutter flohen auf eine Empore, um den panischen Frauen auszuweichen. Hier überlebten sie den Brand durch reines Glück. Als sie das Gebäude am übernächsten Morgen verließen, ließen die Dorfbewohner sie gehen. Das unvorstellbare Leid, welches die Frau in dieser Nacht und in ihrer Zeit als Gefangene erlebt hat, erklärt und rechtfertigt ihre Reaktion auf Michaels Versuch, ihr Hannas Geld zu geben. Sie verweigert die Annahme, um Hanna keine Absolution für ihre Taten zu geben.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.