Skip to main content

Der Vorleser

Teil 1, Kapitel 5-8

Zusammenfassung

Eine Woche nach dem Vorfall steht der Junge wieder vor Hannas Tür. Er hat die Begegnung in ihrer Wohnung nicht vergessen können, träumt und phantasiert von der älteren Frau und wünscht sich, seine Phantasien auch in der Realität mit ihr zu erleben. Er weiß, dass seine Mutter, der Pfarrer und auch seine Schwester seine Entscheidungen und Handlungen falsch finden würden und redet sich ein, dass er die Phantasie nur abhängen kann, wenn er Frau Schmitz noch einmal sieht. Diese hätte kaum Interesse an ihm und so gelänge er zurück zur Normalität.

Michael wartet im Flur, bis Hanna von ihrem Job als Straßenbahnschaffnerin heimkehrt. Sie schickt den Jungen in den Keller, um zwei Schütten Kohle zu holen. Als Michael durch ein Missgeschick mit schwarzem Kohlestaub bedeckt zurückkehrt, lacht Hanna über seinen Zustand und lässt ihm ein Bad ein. Michael fühlt sich sehr wohl bei Hanna und bekommt eine Erektion. Schließlich hüllt sie den Jungen in ein Tuch, trocknet ihn ab und lässt das Tuch fallen. Michael spürt ihren nackten Körper hinter seinem eigenen. Hanna fasst ihn an und sagt, dass er doch deshalb hergekommen sei und er weiß nicht, was er antworten soll. Überwältigt von der Situation macht er ihr ein Kompliment über ihren schönen Körper. Er hat Angst vor den Berührungen und Küssen und davor, Hanna nicht zu gefallen, deshalb hält sie ihn eine Weile fest, ehe es zum Geschlechtsverkehr kommt.

In der folgenden Nacht hat Michael das Gefühl, sich in die Frau verliebt zu haben. Er schläft nicht tief, sondern träumt und sehnt sich nach ihr. Er reflektiert sein Verliebtsein, da er auch später noch das Gefühl hat, sich um die Liebe zu einer Frau bemühen zu müssen, sobald diese mit ihm schläft. Michael denkt schließlich an einen Moment seiner Kindheit. Er war vier und seine Mutter wusch ihn und zog ihn an. Den Anlass für ihre besondere Fürsorge weiß er nicht mehr.

Als er von seinem Treffen mit Hanna nach Hause kommt, sitzt seine Familie beim Abendessen beisammen. Seine Verspätung begründet er damit, sich verlaufen zu haben. Er beschließt, sich nach der Gelbsucht nicht weiter zu schonen, sondern am nächsten Tag wieder zur Schule zu gehen und teilt dies seinen Eltern mit. Sein Vater, der von Beruf Professor für Philosophie ist, gestattet es ihm. Michael hat außerdem drei Geschwister, einen älteren Bruder, mit dem er sich ein Zimmer teilt und zwei Schwestern. Das Verhältnis zu seinem Bruder war noch nie gut und verschlechterte sich, als dieser für die Dauer von Michaels Krankheit aus dem Zimmer ausziehen musste. Michael fühlt sich, als säße seine Familie zum letzten Mal so am Tisch. Dieser Abschied vollzieht sich für ihn, als der Vater ihm den Besuch der Schule für den nächsten Tag erlaubt.

Fortan geht Michael wieder täglich zur Schule, schwänzt jedoch die letzte Unterrichtsstunde, um Hanna zu besuchen. Er wartet auf dem Treppenabsatz, bis sie von der Arbeit heimkehrt, duscht mit ihr und schließlich schlafen sie miteinander. Dabei zeigt Hanna ihm, wie er ihr Lust bereiten kann und benutzt ihn, wie es ihr gefällt. Erst am sechsten oder siebten Tag fragt er sie nach ihrem Vornamen und sie reagiert misstrauisch, ehe sie ihm verrät, dass sie Hanna heißt. Sie fragt auch ihn nach seinem Namen. Er heißt Michael Berg und sie hält ihn für einen Studenten. Er korrigiert sie, da er erst Schüler ist. Als sie sein Alter auf 17 Jahre schätzt statt auf 15, korrigiert er sie nicht.

Michael verrät ihr, dass er durch seine Krankheit und sein Schwänzen für Hanna das Schuljahr wahrscheinlich wiederholen müsse und sie reagiert wütend. Sie erklärt ihm, dass ihr Job wesentlich unschöner sei als die Schule und weist ihn an, sie nur noch zu besuchen, wenn er sich auch im Unterricht bemüht. Er willigt ein, es zu versuchen, wenn sie ihn weiterhin trifft. Auch als er sie zum Abschied umarmt, reagiert sie nicht.

Analyse

Michael entdeckt seine Sexualität genauer, da er dauerhaft von der Begegnung in ihrer Wohnung phantasiert. Er gerät in einen Konflikt mit seinem Gewissen, da er weiß, dass eine Beziehung zu der Frau aufgrund ihres Altersunterschieds falsch wäre. Da er Hanna trotzdem nicht widerstehen kann, redet der Junge sich ein, dass er sie nur zum Abschluss der Phantasien noch einmal besuchen will. Er belügt sich selbst, um sich seinen Wunsch nicht eingestehen zu müssen.

Hannas dominanter Charakter zeigt sich erneut, als sie Michael, der als völlig fremder Junge zu Gast bei ihr ist, zur Begrüßung Kohlen aus dem Keller holen lässt. Sie scheint nicht verwundert über sein Auftauchen und empfindet es als selbstverständlich, dass der Junge sich vor ihr auszieht, um bei ihr zu baden. Dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Hanna auch während ihrer ersten Begegnung bewusst war, dass Michael sie beim Umziehen beobachten würde. Sie setzt ihren Körper auf dominante Weise dazu ein, ein Verhältnis mit dem fremden Teenager einzugehen.

Hanna fragt ihn nicht, ob er sie tatsächlich aus sexueller Begierde besucht und bittet auch nicht um Erlaubnis, als sie ihn nackt empfängt, ihn abtrocknet und seinen Intimbereich anfasst. Michael nimmt die Berührungen der Frau zwar bereitwillig an, doch dennoch handelt es sich um einen sexuellen Übergriff einer erwachsenen Frau gegenüber einem Minderjährigen. Schlink stellt hier gleichermaßen sexuelle Spannung wie auch das ungleiche Machtverhältnis in dieser Beziehung dar. Das ungleiche Machtverhältnis wird noch einmal deutlicher, als es schließlich zum Geschlechtsverkehr kommt. Zunächst ist unklar, ob Michael in dieser Situation tatsächlich bereit für sein »erstes Mal« ist, da er – in seiner Rolle als Erzähler – beschreibt, dass er in dieser Situation Angst empfunden hat. Hanna wartet zwar, bis er sich an die neue Situation gewöhnt hat, hinterfragt jedoch zu keinem Zeitpunkt, ob ihr Handeln auch tatsächlich noch seinem Wunsch entspricht. Lediglich einmal stellt sie fest: »Darum bist du doch hier!«. (S. 26) Doch als Michael unsicher reagiert und weder ja noch nein äußern kann, stoppt sie das nicht.

    Es handelt sich um eine kriminelle Handlung, wenn eine 36-jährige Frau ihre eigenen sexuellen Wünsche an einem Fünfzehnjährigen befriedigt, ganz gleich, ob er will oder nicht. Die ungesetzliche Handlung Hannas an einem Minderjährigen muss gerade aus der Perspektive des Juristen Schlink als bedeutungsvoll angesehen werden. Hanna erkennt ihre Verantwortung gegenüber Michael und das Verbot als Erwachsene nicht, ihn sexuell auszubeuten. (Moschytz-Ledgley 41)

Der Erzähler umschreibt den Geschlechtsakt sehr genau, da auch dieser ein prägendes Erlebnis für ihn ist. Zudem erreicht Schlink durch die graphische Darstellung, dass der Leser Unbehagen empfindet. (Vgl. ebd.) Hannas Dominanz zeigt sich deutlich, da sie die gesamte Führung übernimmt und wird sogar durch die Wahl der Stellung verbildlicht, da sie »über ihm« (vgl. S. 27) ist. Die Szene endet mit einer weiteren Geste der Dominanz, als Hanna Michael, der lustvoll aufschreit, den Mund mit ihrer Hand zuhält. Auch wenn Michael sich mehr oder weniger bewusst zu dieser Erfahrung entschieden hat, bleibt dieses prägende Erlebnis ein sexueller Übergriff, dessen Folge ist, dass Michael auch später in seinem Leben jede Frau mit Hanna vergleicht.

Die Beziehung findet zunächst – vor allem für Hanna – auf einer rein sexuellen Ebene statt, was deutlich wird, da Michael und sie ihre Namen erst während ihres sechsten oder siebten Treffens austauschen. Michael hingegen hat sich in die Frau verliebt und will unter keinen Umständen auf die Treffen mit ihr verzichten. Seine verschobene Priorität ist ein erstes Zeichen einer Abhängigkeit, die durch das große Machtgefälle entsteht.

Unmittelbar nach dem Geschlechtsverkehr schildert Michael als Erzähler eine Erinnerung aus seiner Kindheit. Hier ist es die Mutter, die ihn liebevoll gebadet hat. Die Verknüpfung von sexuellem Erlebnis und frühkindlicher Erinnerung an seine Mutter sorgt dafür, dass auch letzterer eine leicht sexuelle Note anhaftet. Hanna wird hier in die Rolle der Mutter gedrängt, wodurch »das Liebesverhältnis […] einen leicht inzestuösen Beigeschmack« erhält. (Fricke 7)

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.