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Der Vorleser

Teil 2, Kapitel 9-12

Zusammenfassung

Der Richter befragt die Angeklagten, wieso sie die Kirchentüren nicht aufgeschlossen haben. Diese geben an, dass sie mit anderen Aufgaben beschäftigt waren, doch ein Bericht lässt vermuten, dass diese fünf Aufseherinnen die Kirche bewacht haben, da keine von ihnen anderswo eingeteilt war. Eine der Frauen beschuldigt Hanna, den Bericht geschrieben zu haben. Diese erklärt, sie hätten sich nicht anders zu helfen gewusst, da sie die Gefangenen nicht einfach fliehen lassen konnten, weil die Überwachung ihre Aufgabe war. Hanna gibt zunächst an, dass sie den Bericht gemeinsam verfasst hätten, um keinen Schuldigen zu benennen. Als das Gericht ihre Schriften mit der des Berichts vergleichen möchte, gibt sie zu, den Bericht doch verfasst zu haben.

Michael vertreibt sich seine freie Zeit mit Sport, um sich von der Gerichtsverhandlung abzulenken. Dennoch denkt er über Hannas Prozess nach und erkennt schließlich, dass Hanna nicht lesen und schreiben kann. Er denkt an seine gemeinsame Zeit mit ihr, an das Vorlesen und den Streit über seinen Zettel auf der Fahrradtour und nimmt an, dass sie die Stadt verlassen hat, um der Beförderung bei der Straßenbahngesellschaft zu entgehen, ohne ihre Schreib- und Leseschwäche eingestehen zu müssen. Nun kann er sich auch die Widersprüche zwischen Hannas Aussagen und den unterschriebenen Protokollen erklären. Er hinterfragt Hannas Motive und stellt fest, dass sie sich nicht für ihre Verbrechen entschieden hat, sondern nur gegen die Beförderung bei Siemens. Durch diese Entscheidung war sie in ihre Rolle als Aufseherin hineingeraten. Durch seine Erkenntnis sieht Michael sich nicht mehr als schuldig für Hannas Fortgehen, fragt sich jedoch, ob er sich dadurch schuldig mache, dass er eine Verbrecherin geliebt habe.

Das Gericht sieht Hanna fortan als Hauptschuldige an und die Zeugen bestätigen dies zwar nicht, widerlegen es jedoch auch nicht. Hanna kämpft weiter um ihre Wahrheit, hat dabei jedoch keinen Erfolg. Michael fragt sich, ob er dem Richter von ihrem Analphabetismus erzählen sollte oder ob er Hannas Entscheidung, ihre Freiheit für ihre Selbstdarstellung zu opfern, respektieren müsse.

Er sucht den Rat seines Vaters, der als Professor für Philosophie tätig ist. Zu diesem hat Michael ein distanziertes Verhältnis, da der Vater sehr verschlossen ist. Sein Vater rät ihm davon ab, mit dem Richter zu sprechen, da Hanna selbst entscheiden müsse, ob sie ihren Analphabetismus preisgeben wolle oder nicht. Er rät Michael jedoch dazu, mit Hanna persönlich zu sprechen, doch der sträubt sich dagegen.

Analyse

Im weiteren Prozess wird Hannas Analphabetismus stetig deutlicher, auch wenn dieser nie konkret thematisiert wird. Hanna gibt zunächst an, dass sie einen Bericht, der Aufschluss über die Rollenverteilung während der Bombennacht gibt, gemeinsam mit den anderen Angeklagten verfasst habe. Da sie auch im bisherigen Prozess kooperationsbereit erscheint und ihre Taten gesteht, sofern diese der Wahrheit entsprechen, handelt es sich hier um eine glaubwürdige Aussage, auf die Hanna zunächst trotz der Gegenwehr der Angeklagten besteht. Die Situation verändert sich erst, als das Gericht einen Gutachter zu Rate ziehen will, um die Schriftbilder der Angeklagten mit dem Bericht zu vergleichen. Hanna gesteht plötzlich, dass das Schriftstück von ihr stamme und nimmt damit eine Schuld auf sich, die sie nur zum Teil trägt. Dies verdeutlicht das Ausmaß ihrer Scham über das Defizit. Sich selbst vor der Bloßstellung vor Gericht zu schützen, ist Hanna wichtiger als die Wahrheit und ihre Freiheit. Schlink stellt somit die drastische Auswirkung des Analphabetismus für die Betroffene dar, um ein Gefühl dafür zu schaffen, wie stark manche der Betroffenen ihr Leben einschränken, um ihre Schwäche nicht eingestehen zu müssen. (Vgl. Köster 50f.) Somit thematisiert der Autor das Motiv der Scham nicht nur in Bezug auf die Vergangenheitsbewältigung, sondern auch hinsichtlich dieser Thematik.

Michael entdeckt Hannas Geheimnis, als er über seine Zeit mit ihr und die neuen Informationen aus dem Prozess nachdenkt. Dies kann als Höhepunkt der Thematik des Analphabetismus bezeichnet werden, da Michael begreift, wie weitreichend dessen Folgen für Hannas gesamtes Leben waren. »Hanna hatte sich nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten.« (S. 128) Sie ist dennoch als Schuldige für ihre Taten zu betrachten, doch hat sich unabsichtlich und aus einer persönlichen Not heraus in diese Lage begeben, da die Bloßstellung als Analphabetin für Hanna – sowie viele weitere Betroffene – den schlimmstmöglichen Fall darstellt. (Vgl. Moschytz-Ledgley 50) Dies rechtfertigt ihre Taten als Aufseherin nicht, nimmt aber einen Teil der Grausamkeit von ihr, die mit Anhängern der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht wird. Schlink verdeutlicht hier vor allem auch die Gefühlslage der Analphabetin: »Sie musste völlig erschöpft sein. Sie kämpfte nicht nur im Prozess. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann.« (S. 128f.)

Auch für Michael selbst ist dieser Moment wichtig, da er sich nicht mehr schuldig für Hannas Fortgehen fühlt. Er kann somit eine Schuld ablegen, die ihn über Jahre belastet hat. Das Thema der Schuld wird für Michael jedoch in diesem Moment nicht vollständig gelöst, sondern nur verlagert. Aus der Schuld an Hannas Fortgehen wird eine Schuld dafür, eine Verbrecherin geliebt zu haben. Diese Schuldfrage zeigt auch Michaels Entwicklung. Als Student befasst er sich zunehmend mit kritischen philosophischen Fragen, wie der Schuldfrage im mehrfachen Sinne. So beschäftigt sich Michael auch mit der Frage, ob er dem Richter von seiner Erkenntnis erzählen sollte oder ob es Hannas Entscheidung bleiben sollte, ob sie den Analphabetismus geheim hält oder nicht.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.