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Der Vorleser

Teil 3, Kapitel 1-4

Zusammenfassung

Michael vermeidet soziale Kontakte und konzentriert sich ausschließlich auf sein Studium. Dennoch wird er von einigen Studenten zu einem Skiurlaub eingeladen und nimmt die Einladung verwundert an. Nachdem er die erste Zeit des Urlaubs im Hemd Ski fährt, weil er niemals friert, wird er krank und kommt ins Krankenhaus. Das fehlende Frieren führt er auf die Betäubung zurück, die er während des Prozesses fühlte.

Michael beginnt sein Referendariat, interessiert sich jedoch nicht mehr für die Studentenbewegung. Er denkt über die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach und sieht diese als Ausdruck des Generationenkonflikts. Michael erkennt, dass er seinen Eltern, anders als er zu seiner Studienzeit dachte, keine Schuld für die Geschehnisse geben kann. Er weiß, dass er die Schuld bei Hanna suchen könnte, doch glaubt er, sich dadurch selbst schuldig zu machen, weil er sie geliebt hat.

Während seines Referendariats heiratet Michael Gertrud, die er während des Skiurlaubs kennengelernt hatte und die ebenfalls Juristin ist. Sie heiraten, weil Gertrud mit der gemeinsamen Tochter Julia schwanger ist. Von Hanna hat Michael ihr nie erzählt, doch er vergleicht sie stetig mit ihr. Seit Hanna fühlt sich keine Frau mehr richtig für Michael an, sodass die Ehe scheitert, als die gemeinsame Tochter fünf Jahre alt ist. Seinen späteren Freundinnen erzählt Michael mehr von sich und Hanna, gibt dies aber nach einigen Versuchen wieder auf.

Der Professor, der das Seminar über den KZ-Prozess veranstaltet hat, verstirbt während Michaels zweitem Examen und dieser geht zur Beerdigung des Mannes. Er fährt mit der Straßenbahn dorthin und muss an Hanna denken. Nach dem Begräbnis trifft er auf einen weiteren ehemaligen Teilnehmer des Seminars, der ihn auf die Angeklagte anspricht, die er dauernd angestarrt habe. Michael ist sich seiner Antwort unsicher und flieht aus der Situation.

Nach seinem Referendariat kümmert Michael sich zunächst um seine Tochter Julia und entscheidet sich dann dazu, bei einem Professor für Rechtsgeschichte zu arbeiten. Nach Hannas Prozess kann er sich nicht vorstellen, die Rolle als Staatsanwalt, Richter oder Verteidiger anzunehmen. Seine Frau Gertrud, die nach dem Referendariat Richterin wurde, missbilligt seine Entscheidung, doch Michael fühlt sich als Rechtshistoriker wohl und überdenkt seine Wahl nie. Er spezialisiert sich auf das Recht im Dritten Reich.

Analyse

Michaels Entwicklung beschreibt eine Parallele zu Hanna, die im gesamten Verlauf des Romans stets verschlossen ist und außer Michael keine sozialen Kontakte pflegt. Seine Abschottung von seiner Umwelt drückt sich auch durch sein fehlendes Interesse an der Studentenbewegung aus, nachdem er vor Hannas Prozess großes Interesse an der Gruppenidentität seines Seminars zeigte. Nach dem Prozess vermeidet auch Michael zunächst den Kontakt zu seinen Kommilitonen und entwickelt eine Verschlossenheit, die Hannas sehr ähnlich ist. Dies kann als Folge seiner gefühlten Schuld und Scham für die Liebe zu einer Verbrecherin gewertet werden.

Sein fehlendes Kälteempfinden ist ebenfalls auf die Verschlossenheit zurückzuführen. Michael betäubt sich innerlich und schottet seine Gefühle so sehr ab, dass er emotional erkaltet. Seine emotionale Kälte wird so übermächtig, dass sie auch auf seinen Körper übergreift. (Vgl. Köster 86f.) Infolgedessen wird er krank – die körperliche Krankheit steht hier symbolisch für die Schäden, die Michael durch seine Beziehung zu Hanna und den Prozess auf der psychischen Ebene davonträgt.

Dennoch entwickelt er sich vor allem hinsichtlich der Vergangenheitsbewältigung weiter. So ist vor allem die Erkenntnis, dass er seine Eltern zu Unrecht zu Scham verurteilt hat, ein deutlicher Fortschritt in Bezug auf den Konflikt, der ihn bereits seit seiner Jugend begleitet. Die Schuldfrage beschäftigt ihn stetig weiter, »denn seine spezifische Schuld in Bezug auf die ältere Generation besteht weniger in seiner kaltschnäuzigen Verurteilung seiner eigenen Eltern – obwohl man diese Lieblosigkeit durchaus seinem Schuldkomplex zuordnen könnte – als in seiner Liebesbeziehung zu der Straßenbahnschaffnerin und KZ-Wächterin Hanna Schmitz.« (Lewis 555) Diese Schuld kann Michael sich nur schwer eingestehen.

»Schlink läßt keinen Zweifel daran, daß es für ihn und seinen Erzähler die Liebe zu den Tätern ist, was das Dilemma der 68er und den traumatischen Kern einer intergenerationellen Schuld ausmachen soll.« (Lewis 556) Dies wird vor allem an der Bemerkung des Ich-Erzählers kenntlich, dass seine Liebe zu Hanna »das Schicksal [seiner] Generation, das deutsche Schicksal« (S. 163) war. (Vgl. ebd.)

Die Spätfolgen von Hannas Ausbeutung werden maßgeblich durch Michaels gestörtes Verhältnis zu anderen Frauen dargestellt. Er heiratet seine Freundin Gertrud, doch der Grund für die Ehe ist ihre Schwangerschaft mit der gemeinsamen Tochter Julia. Michael schafft es nicht, seine derzeitige Realität vollständig von seinen ersten sexuellen Erfahrungen abzugrenzen und vergleicht auch seine Ehefrau mit Hanna. Hannas Missbrauch führt demnach dazu, dass sie auch noch Jahre später eine präsente Rolle in Michaels Leben und in jeder seiner sexuellen Beziehungen spielt. In der Ehe charakterisiert Michael sich teilweise als unehrlich, da er seiner Frau Gertrud nicht von Hanna und ihren gemeinsamen Erlebnissen erzählt, obwohl er diese nie verarbeitet hat. Hanna ist somit indirekt schuld an Michaels scheiternder Ehe und dem Verlauf seiner weiteren Beziehungen.

Auch die Scham über die verbotene Beziehung kann Michael nur schwer überwinden. Als er von einem ehemaligen Mitstudenten auf die Frau angesprochen wird, die er im Prozess täglich angestarrt habe, entflieht er der Situation.

Hanna und ihr Prozess beeinflussen nicht nur Michaels Privatleben, sondern auch seine berufliche Laufbahn. Durch seine Erfahrungen scheint es ihm nicht mehr möglich, nach seinem Jurastudium eine Tätigkeit als Anwalt oder Richter aufzunehmen. Michaels Abneigung gegen die Berufswege erscheint als Folge eines Traumas, das auf die fehlende Aufarbeitung seiner Erlebnisse verweist. Durch die Teilnahme an dem NS-Prozess und sein ohnehin großes Interesse an der Vergangenheitsbewältigung motiviert, schlägt Michael eine Karriere als Rechtshistoriker ein und spezialisiert sich auf das Dritte Reich. Dies verdeutlicht jedoch nicht allein sein Interesse an der Thematik, sondern zeigt auch seine Kernproblematik: Er kann seine traumatischen Erfahrungen nicht verarbeiten und zwingt sich dazu, sich stetig weiter mit seiner und Hannas Geschichte sowie der Aufarbeitung des Kriegsgeschehens auseinanderzusetzen.

Veröffentlicht am 22. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 22. August 2023.