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Der Vorleser

Teil 2, Kapitel 5-8

Zusammenfassung

In der zweiten Woche der Verhandlungen wird die Anklage gegen Hanna und vier weitere Frauen verlesen. Der erste Hauptanklagepunkt gilt den Selektionen im Lager, da in jedem Monat rund 60 Frauen aus Auschwitz zum Arbeiten in das Lager bei Krakau geschickt wurden. Dieses schickte wiederum 60 Frauen zurück, die nicht mehr arbeitsfähig waren und in Auschwitz umgebracht wurden. Der zweite Anklagepunkt behandelt die Bombennacht, die den Zug der Gefangenen nach Westen beendete. Die Wachmannschaften, die einen Zug nach Westen anführten, hatten mehrere hundert Frauen in eine Kirche gesperrt. Als das Pfarrhaus und der Kirchturm von Bomben getroffen wurden, brannte nach kurzer Zeit die gesamte Kirche. Die Angeklagten hätten die Türen aufschließen und die Frauen retten können, doch sie taten es nicht. Unter den Gefangenen gab es nur zwei Überlebende - eine Frau und ihre Tochter. Die Tochter veröffentlichte später ein Buch über ihre Erlebnisse und gemeinsam mit einigen Dorfbewohnern, die das Geschehen in der Kirche mitansehen konnten, werden Mutter und Tochter in den Zeugenstand berufen.

Die Verhandlung läuft sehr schlecht für Hanna, da es häufig Widersprüche zwischen ihren Aussagen vor Gericht und dem zuvor unterschriebenen Vernehmungsprotokoll gibt. So unterschrieb Hanna vor der Verhandlung, dass sie den Schlüssel für die Kirchentür gehabt habe, sagt vor Gericht jedoch aus, dass niemand im direkten Besitz eines Schlüssels war, sondern die jeweiligen Schlüssel von außen in den Schlössern gesteckt hätten.

Hanna fragt, wieso man ihr etwas anhängen wolle, und bemüht sich immer wieder um Ehrlichkeit. Sie widerspricht, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt und gibt bereitwillig zu, was sie für wahr hält. Sie bestätigt, dass sie die Selektionen der Gefangenen gemeinsam mit den übrigen Aufseherinnen durchgeführt habe und fragt den Richter, was er an ihrer Stelle getan hätte. Dieser sieht sich zu einer Antwort gezwungen, bleibt jedoch unpräzise.

Hannas Beharrlichkeit ärgert den Richter und ihre Kooperationsbereitschaft bringt die anderen Angeklagten gegen sie auf. Hannas Pflichtverteidiger schafft es nicht, seine Mandantin gegen die unpräzisen Zeugenaussagen zu verteidigen und die übrigen Anwälte nutzen dies aus, um ihr allein die Schuld zuzusprechen. Eine weitere Angeklagte belastet Hanna zusätzlich, indem sie erwähnt, dass Hanna unter den Gefangenen Schützlinge hatte, die sie einen Monat lang behielt, ehe sie sie nach Auschwitz schickte. Die überlebende Tochter bestätigt dies und erklärt, dass Hanna dafür gesorgt habe, dass die Mädchen nicht arbeiten mussten. Sie habe stets die schwächsten ausgesucht, sie abends zu sich gerufen und ihnen verboten, mit den übrigen Gefangenen darüber zu sprechen. Eines der Mädchen hatte dennoch erzählt, dass sie Hanna an jedem Abend vorlesen sollte. Bei der Erwähnung des Vorlesens dreht Hanna sich um und sieht Michael an. Dieser vermutet, dass Hanna die schwachen Mädchen auswählte, die ohnehin für den nächsten Transport nach Auschwitz ausgewählt würden, um ihnen einen angenehmen letzten Monat zu gewähren. Doch das Gericht hinterfragt dies nicht und Hanna erklärt es ihrerseits nicht.

Michael besorgt sich das Buch der überlebenden Zeugin und liest es. Hanna wird nirgends erkennbar beschrieben oder namentlich erwähnt. Michael glaubt, sie in einer jungen, schönen und gewissenhaften Aufseherin zu erkennen, ist sich jedoch nicht sicher. Zudem wird eine weitere Aufseherin beschrieben, die nur »die Stute« genannt wird und ebenfalls jung, schön und tüchtig, aber auch grausam und unbeherrscht war. Michael fragt sich, ob Hanna wegen dieser Frau so unsicher reagiert hat, als er sie einmal »Pferd« nannte.

In ihrem Buch berichtet die Frau, dass das Lager bei Krakau für sie und ihre Mutter die letzte Station nach Auschwitz war. Sie hatten zwar Angst vor den Selektionen, doch betrafen diese monatlich rund 60 von etwa 1.200 Frauen, sodass es noch genügend Hoffnung auf ein langes Überleben gab. Durch die Auflösung des Lagers und den Zug der Gefangenen nach Westen begann ihr Elend, da die Frauen in unzureichender Kleidung im Winter marschieren mussten. Nach einer Woche dieses Todesmarschs war bereits die Hälfte der Gefangenen tot. Schließlich rasteten sie in einem beinahe verlassenen Dorf in der Kirche, als die Bomben einschlugen. Als das Feuer sichtbar wurde, brachen die gefangenen Frauen in Todesangst aus. Die Zeugin und ihre Mutter schafften es, auf eine Empore zu fliehen, die sie näher an die Flammen, aber weiter weg von den panischen Frauen brachte. Diese war so schmal, dass sie kaum von dem herabstürzenden Gebälk getroffen wurde. Erst am übernächsten Morgen trauten die beiden Überlebenden sich aus ihrem Versteck und die Dorfbewohner ließen sie ziehen.

Analyse

Während der Verhandlung gibt Schlink weitere Hinweise auf Hannas Analphabetismus. Dieser begründet die Widersprüche zwischen Hannas Aussagen und dem von ihr unterschriebenen Vernehmungsprotokoll. Hannas Analphabetismus kann als eine verdeckte Kernproblematik des Romans betrachtet werden, der die weitreichenden Folgen einer solchen Schwäche darstellt. Trotz ihrer Ehrlichkeit und Kooperationsbereitschaft läuft die Verhandlung für Hanna sehr schlecht, da sie durch die Diskrepanzen ihrer Aussagen an Glaubhaftigkeit verliert. Die Thematik des Analphabetismus steht in tiefer Verbindung mit dem Motiv der Scham. Hanna schämt sich für ihr Defizit und nimmt den schlechten Verlauf der Verhandlungen in Kauf, um ihr Geheimnis nicht offenbaren zu müssen.

In ihrem Kampf gegen das Gericht sticht vor allem ein kurzer Moment des Siegs besonders heraus. Als sie den Richter fragt, was er an ihrer Stelle getan hätte, zwingt sie ihn zu einer Stellungnahme in Bezug auf die Kernproblematik des Romans: den Umgang mit der NS-Vergangenheit. Die unpräzise Antwort des Richters verweist auf das allgemeine Unwissen der Bevölkerung bezüglich des Umgangs mit ihrer Vergangenheit. Die Szene ist für Hanna und ihren Prozess weniger wichtig als zur Darstellung einer Unwissenheit, die jede Schicht der Bevölkerung betrifft. Nicht nur Michael sucht nach einem geeigneten Umgang mit Scham und Schuld, sondern auch der Richter als gebildeter Erwachsener. Zudem zeigt die Szene Hannas Ratlosigkeit in Bezug auf ihre Taten – sie scheint die Frage völlig ernst zu meinen. Anders als viele reale Täter, die dieselbe Argumentation nutzten, um Nachsicht zu fordern, meint Hanna die Frage nicht als moralischen Appell, sondern sucht nach dem Moment, in dem sie sich anders hätte entscheiden können. (Vgl. Fricke 4f.)

Die einzige Begegnung zwischen Hanna und Michael innerhalb der Gerichtsverhandlung besteht aus einem Blickwechsel. Dieser findet gerade dann statt, als eine Zeugin von Hannas Schützlingen im KZ berichtet, die ihr vorlesen mussten. Hannas Verhalten ist auf unterschiedliche Weise interpretierbar. Michaels Vermutung, dass sie den Mädchen, die der Arbeit nicht standhalten konnten und ohnehin abtransportiert werden würden, einen erträglichen letzten Monat ermöglichen wollte, lässt sich durch Hannas Hilfsbereitschaft Michael gegenüber unterstützen. Die erste Begegnung der beiden stellt ebenfalls eine Situation dar, in der Hanna dem körperlich schwachen Michael helfen wollte. Die zweite Interpretationsweise, nach der Hanna die Frauen für ihre Zwecke ausgenutzt und zur Geheimhaltung ihres Analphabetismus anschließend nach Auschwitz geschickt haben könnte, ließe sich durch ihr teilweise aggressives, verschlossenes Verhalten Michael gegenüber sowie durch ihren Unwillen, vor Gericht über den Analphabetismus zu sprechen, unterstützen. Hannas emotionale Kälte, die für diese Tat notwendig wäre, wird auch durch ihre Untätigkeit in der Bombennacht bewiesen, da sie zahlreichen Frauen das Leben hätte retten können, dies aus Pflichtbewusstsein gegenüber der SS jedoch nicht in Erwägung zog.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.