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Der Vorleser

Teil 1, Kapitel 1-4

Zusammenfassung

Der Protagonist Michael leidet im Alter von 15 Jahren an Gelbsucht und muss sich auf dem Weg von der Schule nach Hause auf der Straße übergeben. Eine Frau hilft ihm, sich und die Straße zu säubern und begleitet ihn nach Hause. Nach seiner Genesung kehrt er zu ihr zurück, um sich zu bedanken.

Das Haus in der Bahnhofstraße, in dem Hanna Schmitz wohnt, ist auffallend massiv. Es wirkt dominant und herrschaftlich und Michael stellt sich dessen Bewohner genauso wunderlich vor wie ihr Haus. Auch später träumt er noch häufig von dem Haus. Es steht in seinen Träumen an den unterschiedlichsten Orten und meist fällt ihm auf, dass er es schon einmal gesehen hat. Jedes Mal, wenn er versucht, die Haustür zu öffnen, wacht er auf.

Michael erinnert sich später nicht mehr daran, was er gesagt hat, um seiner Helferin Frau Schmitz zu danken. Auch an den weiteren Verlauf des Gesprächs kann er sich nicht erinnern. Er weiß noch, wie ihre kleine, dunkle Wohnung ausgesehen hat und dass sie gebügelt hat, während sie sich unterhielten. Er empfindet die Frau mit ihrer hohen Stirn, ihren hohen Wangenknochen und blauen Augen als schön, kann sich jedoch auch nicht gleich an ihr damaliges Gesicht erinnern. Heute sieht er ihre Schönheit nicht mehr vor sich.

Als der Protagonist sich von Frau Schmitz verabschiedet, bietet sie an, ihn ein Stück zu begleiten, nachdem sie sich umgezogen hat. Er beobachtet sie heimlich dabei und schließlich bemerkt Frau Schmitz seinen Blick. Der Junge schämt sich so sehr, dass er aus der Wohnung flieht und nach Hause läuft. Er ärgert sich darüber, nicht souveräner reagiert zu haben und fragt sich, wieso er die Frau so anziehend empfindet. Schließlich schätzt er sie auf etwa dreißig und damit ist sie viel älter als die Mädchen, die er sonst anschaut. Seine Beobachtung lässt ihn nicht los. Auch noch Jahre später bittet er seine Freundinnen, Strapse und Strümpfe zu tragen, doch es sind die Bewegungen und die Haltungen von Hanna Schmitz, die ihn anziehen, wie er später feststellt.

Analyse

In den ersten Kapiteln des Werks wird Michael Bergs erste Begegnung mit Hanna Schmitz beschrieben. Michael ist 15 Jahre alt und besucht die Untersekunda einer Schule, während Hanna Schmitz bereits über dreißig ist. Die heimliche Beobachtung der Frau beim Umziehen ist die erste Schlüsselszene des Romans. Hier wird Michaels sexuelles Interesse an der älteren Frau erweckt, durch das sich später eine Beziehung zwischen ihm und Hanna bildet, die einen großen Teil seines Lebens beeinflussen wird. Diese erste sexuelle Szene zeigt keine Beziehung auf Augenhöhe, denn sie findet nicht abgesprochen und einvernehmlich statt. Dies kann als erster Verweis auf Michaels Schuld betrachtet werden. (Vgl. Köster 64) Hierbei bleibt jedoch unklar, ob Michael sich durch seine Beobachtung tatsächlich schuldig macht oder ob Hanna, die auch in künftigen Situationen stets die Macht behält, diese forciert. Der Moment seines sexuellen Erwachens prägt Michael nachhaltig. So versucht er später, die Szene und seine Gefühle dabei mit anderen Frauen nachzustellen, wodurch erstmals im Roman deutlich wird, dass er auch lange nach der Beziehung noch von Hanna abhängig ist.

Das Haus, in dem Hanna lebt, spiegelt metaphorisch ihren Charakter und ihre Beziehung zum Protagonisten wider. »Es dominierte die Häuserzeile. Ich dachte, wenn es sich noch schwerer und breiter macht, müssten die angrenzenden Häuser zur Seite rücken und Platz machen.« (S. 9) Michael stellt sich weiterhin vor, dass die Bewohner des Hauses ebenso wunderlich und düster sein mussten, wie das Haus auf ihn wirkt. Die Beschreibung des Hauses passt auch zu Hanna, die ein düsteres Geheimnis hütet und nur wenig über sich preisgibt. So wie das Haus die Nachbarhäuser zu dominieren scheint, so dominiert Hanna auch Michael. Hier handelt es sich um eine sehr subtile Charakterisierung der Frau sowie ihrer Beziehung zu Michael und um eine Vorausdeutung auf die Taten, die später ans Licht kommen. Michaels Träume, in denen er das Haus erkennt, aber nicht betreten kann, untermauern sie. Er schafft es lange Zeit nicht, hinter Hannas Fassade zu blicken. Das Haus bietet jedoch noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit:

    Die unerklärliche Beschäftigung mit dem Haus, in dem die ehemalige KZ-Aufseherin lebt, gepaart mit der idealen Vorstellung eines herrschaftlichen Hauses mit herrschaftlichen Bewohnern ist das Resultat, das das Unterbewusste aus der Mischung von Wissen, Nicht-wissen und Nicht-wissen-dürfen gestaltet: Es besteht eine unerklärliche Anziehung durch das Haus, die grauenhafte Realität lebt ungestört im Innern des Hauses weiter, und die Idealisierung des Hauses und seines Innern lenkt vor eventuellen Zweifeln ab, die aufkommen und zu weiteren Forschungen führen könnten. (Moschytz-Ledgley 28)

Auch Hannas optische Erscheinung bleibt zunächst geheimnisvoll. Dass der Erzähler Michael sich nicht an ihr Gesicht erinnert und sich ihre einstige Schönheit ins Gedächtnis rufen muss, zeigt, dass das Erzählte zum Zeitpunkt des Erzählens weiter in der Vergangenheit liegt. Zudem handelt es sich um einen subtilen Hinweis darauf, dass Hannas Schönheit in Michaels Gedanken von ihren schrecklichen Taten, die der Leser erst wesentlich später erfährt, verdeckt wird.

Veröffentlicht am 21. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 21. August 2023.