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Mutter Courage und ihre Kinder

4. Bild (1391-1396)

Zusammenfassung

Die Szene spielt vor einem Offizierszelt. Mutter Courage wartet auf den Rittmeister, um sich bei ihm zu beschweren. Die katholischen Truppen hätten ihr den Planwagen demoliert und ihr dazu noch fünf Taler Strafe abverlangt. Noch aber hat der Rittmeister keine Zeit, die Courage wird vom anwesenden Schreiber gewarnt, sich nicht zu beschweren. Dennoch harrt sie aus.

Schließlich kommen ein jüngerer und ein älterer Soldat vor das Zelt. Der junge Soldat ist betrunken und randaliert. Er schreit, beleidigt den Rittmeister in Abwesenheit und beklagt sich, dass dieser ihm sein Trinkgeld vorenthalten habe. Genau deswegen wolle er sich nun beschweren. Der ältere Soldat versucht halbherzig, ihn davon abzuhalten.

Mutter Courage spricht die Soldaten an und überzeugt den jungen Soldaten davon, dass seine Wut nur eine vorübergehende sei. Mutter Courage erweist sich dabei als ziemlich mitfühlend, sie äußert Verständnis für die Wut des Soldaten.

Als der Schreiber das Kommen des Rittmeisters ankündigt und den Soldaten sagt, sie sollten sich setzen, folgt der junge Soldat sofort dem Befehl. Das bringt Mutter Courage dazu, das »Lied von der großen Kapitulation« zu singen. Darin ist davon die Rede, dass man auch Unrecht ertragen müsse.

Der junge Soldat lässt sich überzeugen und beschwert sich nicht beim Rittmeister. Mutter Courage hat sich allerdings auch selbst überzeugt, auch sie sieht von einer Beschwerde ab.

Analyse

Dieses Bild lässt sich besonders gut aus der Perspektive des epischen Theaters betrachten. In dialektischer Art und Weise überzeugt Mutter Courage den jungen Soldaten von der Kurzsichtigkeit seines Handelns und überzeugt damit vor allem sich selbst. Im Zentrum der Szene und dieses dialektischen Lehr- und Lernprozesses steht aber »Das Lied von der großen Kapitulation« (1394 ff.).

Man könnte darin durchaus eine Art autofiktionale Ballade der Courage vermuten: »Einst, im Lenze meiner jungen Jahre / Dacht auch ich, daß ich was ganz Besonders bin.« (1394). Sie dachte dezidiert nicht zu sein »wie jede beliebige Häuslertochter, mit meinem Aussehn und Talent und meinem Drang nach Höherem« (ebd.). Und tatsächlich schien ihr Verhalten wenigstens temporär von Erfolg gekrönt zu sein: »Und bestellte meine Suppe ohne Haare / Und von mir, sie hatten kein Gewinn« (ebd.). Doch die ersten Anzeichen eines Sturzes sind ebenfalls schon da. Zwischen Strophe und Refrain angesiedelt findet sich in dem Gedicht in jeder Strophe die Wendung: »Doch vom Dach ein Star / Pfiff: wart paar Jahr« (ebd.). Womit natürlich eine Anspielung auf das Sprichwort: »Die Spatzen pfeifen’s von den Dächern« gemeint ist. Doch welchen Effekt hat diese Anspielung eigentlich?

Es ließe sich argumentieren, dass ein Star – der ja mehr als doppelt so groß wie ein Spatz ist – dem drohenden Unheil wortwörtlich Gewicht gibt. Ein Star als Omensverkünder mag gewichtiger wirken als eine Horde Spatzen. Zusätzlich ergibt sich beim Star der Vorteil, dass er sich auf Jahr reimt – vielleicht hat es also auch blanke reimtechnische Gründe, dass die vielen Spatzen des Sprichworts zu einem Star geworden sind.

Der Refrain, der an den drohenden Star anschließt, zeichnet das Bild einer Integration oder sogar Assimilation: »Und du marschierst in der Kapell / Im Gleichschritt, langsam oder schnell / Und bläsest deinen kleinen Ton: Jetzt kommt er schon. / Und jetzt: das Ganze schwenkt! / Der Mensch denkt: Gott lenkt – / Keine Red davon!« (1395).

Brecht selbst schreibt in seinem Modell über diese Szene: »Die Schlechtigkeit der Courage ist in keiner Szene größer als in dieser, wo sie den jungen Menschen die Kapitulation vor den Oberen lehrt, um sie selber durchführen zu können« (Brecht 1964: 44). Und doch sei die Courage nicht das Böse selbst: »Es ist nämlich nicht die Schlechtigkeit ihrer Person so sehr als die ihrer Klasse, und sie selbst erhebt sich wenigstens dadurch darüber ein wenig, daß sie Einsicht in diese Schwäche, ja Zorn darüber zeigt« (ebd.).

Wichtig am »Lied von der großen Kapitulation« ist also das gesellschaftliche Gesetz, das es darstellen will. Das zeigt sich auch an den vielen, das Gesellschaftliche stereotyp erklärbar machen wollenden Phrasen, die in den Strophen vorkommen. Diese sind in Klammern gesetzt und sprengen die Versform. Ein Beispiel aus der ersten Strophe. Zwischen den Versen »Und von mir, sie hatten kein Gewinn« (1395) und »Doch vom Dach ein Star« (ebd.), findet sich die Phrasenhäufung: »(Alles oder nix, jedenfalls nicht den Nächstbesten, jeder ist seines Glückes Schmied, ich laß mir keine Vorschriften machen!)« (ebd.). Dadurch, dass die Sprichwörter durch Klammern vom Song selbst abgetrennt sind, verstärkt sich der Eindruck, sie kämen von außen hinzu – und tatsächlich ließen sich die gesellschaftlichen Phrasen als Marker der Vergesellschaftung verstehen. In den – mitunter zynischen oder betrügerische Hoffnungen weckenden – Phrasen formulieren sich gesellschaftliche Ansprüche, nach denen schließlich auch die Courage sich richten muss.

Veröffentlicht am 20. November 2023. Zuletzt aktualisiert am 20. November 2023.