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Mutter Courage und ihre Kinder

Interpretation

In der Rezeption des Stückes zeichnen sich letzten Endes zwei große Interpretationsströme ab. Der eine zielt auf die gesellschaftskritische Komponente ab. Der andere auf eine eher existenzialistische Lesart des Stücks. Eine dritte Lesart könnte zusätzlich den formalen Aspekt des Stücks fokussieren.

Selbstverständlich ist »Mutter Courage und ihre Kinder« ein gesellschafts- und kulturkritisches Stück. Da das Stück im schwedischen Exil, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, geschrieben wurde, ist ein Bezug auf die deutsche Nazidiktatur naheliegend. Allerdings geht es im Stück nicht – wie im späteren »Schwejk im zweiten Weltkrieg«, der gewisse Parallelen zu »Mutter Courage und ihre Kinder« aufweist – um Hitler und Stalin, sondern um eine mehr oder weniger einfache Person inmitten des Dreißigjährigen Krieges.

Mutter Courage vertritt die Klasse der Händler. Dazu gehört, dass sie in geschäftlichen Dingen kompromisslos ist. Das Stück zeigt aber keine persönliche Schuld. Es sind die Umstände, die Mutter Courage – und alle anderen – zu ihrem Handeln führen.

Für die drei Kinder der Courage wird es zum Verhängnis, dass sie jeweils tugendhaft sind. Die Tugend der Courage ist ihre Geschäftstüchtigkeit – deswegen überlebt sie auch, im Gegensatz zu ihren Kindern.

Gleichwohl ist der Krieg ein Übel, mit dem kein Handel zu treiben ist. Die Moral des Theaterstückes ist, dass Kriegsgeschäfte immer Verlustgeschäfte sind.

Eine mehr existenzialistische Lesart könnte Mutter Courage mit ihrem Wagen als Symbol für die Unbehaustheit des modernen Menschen ansehen. Der Mensch zieht wie Mutter Courage mit seinem Hab und Gut durch die Welt. Da der Mensch der Welt grundsätzlich ausgeliefert ist, muss er versuchen, sich mit ihr zu arrangieren. Mutter Courage tut das, indem sie versucht, vom Krieg zu leben.

Darin ist ein Element von Freiheit. Der Krieg ist zerstörerisch, sich an seinen Rändern lebendig zu erhalten, darf durchaus als Kunst verstanden werden. Somit wäre die Figur Mutter Courage auch als Chiffre für das Leben aller Menschen zu verstehen, die ebenfalls am Rande eines zerstörerischen Lebens – und alles Leben ist durch seine Sterblichkeit erst als Leben gesetzt – genau dieses Leben zu verlängern suchen. Mutter Courage zeigt die menschliche Existenz als solche.

Eine dritte Lesart könnte danach fragen, ob es sich bei dem Stück eigentlich um regelkonformes episches Theater handelt. Tatsächlich ist »Mutter Courage und ihre Kinder« hier sehr ambivalent. Einerseits finden sich einige Parameter des epischen Theaters, andererseits ist das Stück auch realistisch, für Einfühlung offen. Der Befund kann hier nicht eindeutig ausfallen.

Die Song-Einlagen sind demgemäß Beispiele für typische Verfremdungseffekte. Das auf der Bühne dargestellte wird also so präsentiert, dass Zuschauer*innen sich nicht vorbehaltlos mit dem Personal identifizieren. Genau das soll durch das epische Theater ja erreicht werden. Siegfried Unseld schreibt dazu: »Es gehört zur Anlage des Stücks, in dem beständig Position und Gegenposition wechseln, daß sich der Zuschauer der Vorgängen und Figuren nicht anvertrauen kann, er steht ihnen fragend und kritisierend gegenüber« (Unseld 1964: 134).

Diese Widersprüchlichkeit innerhalb der Figuren allerdings wird im Stück durch ein nicht unerhebliches schlichtweg unterhaltendes Moment flankiert: »Indes ist Theater für Brecht weder politische Anstalt noch Arena reiner Überredung. Theater, so schrieb er, ›benötigt keinen anderen Ausweis als den Spaß‹. Das Moralische, die ›kleine Pädagogik‹, muß vergnüglich, sinnlich vergnüglich sein« (ebd.). Damit unterscheidet sich das Stück von den klassischen Lehrstücken der 1930er-Jahre, allen voran von »Die Maßnahme«.

Auch die Lehrstücke dürfen indes als wichtiges Vorkommen des epischen Theaters bezeichnet werden. An der Bandbreite dessen, was als episches Theater bezeichnet werden kann, zeigt sich dann auch, dass es sich um einen eher schillernden Begriff handelt.

Veröffentlicht am 20. November 2023. Zuletzt aktualisiert am 20. November 2023.