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Mutter Courage und ihre Kinder

1. Bild (1349-1360)

Zusammenfassung

Im schwedischen Dalarna ist ein Werber auf der Suche nach Soldaten, die er verpflichten kann. Er befindet sich im Gespräch mit einem Feldwebel. Der Werber berichtet davon, dass er binnen kürzester Zeit ein nennenswertes Kontingent an Truppen bereitstellen solle, was sich in der Gegend als schwierig herausstellt.

Schließlich kommt Mutter Courage mit ihren drei Kindern vorgefahren. Die Courage singt das Lied »Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ«. Der Feldwebel fragt die Händler nach ihren Papieren, die sie aber nicht vorweisen können.

Insbesondere der Werber ist an den beiden Söhnen von Mutter Courage interessiert. Als der Werber Eilif provoziert, reagiert dieser heftig. Deswegen hält der Werber ihn für einen geeigneten Soldaten.

Mutter Courage lässt den Werber ein Los ziehen. Das Los bedeutet ihm, dass er im Krieg den Tod finden wird. Um dem Werber nun zu beweisen, dass sie ihn nicht betrogen hat, lässt sie auch ihre drei Kinder Lose ziehen. Auch den drei Kindern wird bedeutet, dass sie im Krieg den Tod finden werden.

Unterdessen versucht der Werber Eilif durch Provokationen dazu zu bringen, der Armee beizutreten. Ihn unterstützt der Feldwebel, indem er gegenüber Mutter Courage vorgibt, an einer Gürtelschnalle interessiert zu sein. An die Geschäftstüchtigkeit der Courage appellierend, lockt er sie hinter den Wagen, sodass der Werber und Eilif sich entfernen können. Kattrin warnt zwar, wird aber von der Courage nicht gehört. Eilif wird Soldat. Fortan ziehen Schweizerkas und Kattrin den Wagen.

Analyse

Die Szene fungiert – bei aller Opposition, die Brecht gegenüber dem klassischen, also aristotelischen, Theater gegenüber äußert (vgl. exemplarisch: Brecht 1957) – als Exposition. Gleichzeitig ist die Szene aber auch durch eine typisch brechtsche Distanz gekennzeichnet. Gerade der öffnende Dialog zwischen dem Werber und dem Feldwebel macht das deutlich. Darin heißt es: »Feldwebel, ich denk schon mitunter an Selbstmord. Bis zum Zwölften soll ich dem Feldhauptmann vier Fähnlein hinstelln und die Leut hier herum sind so voll Bosheit, daß ich keine Nacht mehr schlaf« (1349).

Doch die Bosheit der Leute äußert sich nicht etwa darin, dass sie selbst kriegerisch aufträten, sondern vielmehr dadurch, dass sie sich dem Dienst an der Waffe entziehen.

    Hab ich endlich einen aufgetrieben und schon durch die Finger gesehn und mich nix wissen gemacht, daß er eine Hühnerbrust hat und Krampfadern, ich hab ihn glücklich besoffen, er hat schon unterschrieben, ich zahl nur noch den Schnaps, er tritt aus, ich hinterher zur Tür, weil mir was schwant: richtig: weg ist, wie die Laus unterm Kratzen. Da gibts kein Manneswort, kein Treu und Glauben, kein Ehrgefühl. (ebd.)

Und seine Klage mündet in den typisch brechtschen Satz: »Ich hab mir mein Vertrauen in die Menschheit verloren, Feldwebel« (ebd.).

Bevor also die Hauptfiguren selbst auftreten, wird das Geschehen von den beiden – im Übrigen nie wieder in dem Stück auftretenden – Figuren bereits ironisiert und damit distanziert. Nicht zu unterschlagen ist am Sermon des Werbers aber auch die in ihm liegende Komik. Dass er sein Vertrauen in die Menschheit verloren hat, bedeutet zweierlei. Einerseits heißt es, dass die Menschen nicht mehr so einfach dazu zu überreden sind, in den Krieg einzutreten. Den Menschen verschließt sich der Sinn einer höheren Sache. Brecht – als geschichtsphilosophisch geschulter Marxist – berücksichtigt in seinem Stück, das mit »Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg« überschrieben ist (ebd.: 1347) auch den geistesgeschichtlichen Hintergrund.

Der Dreißigjährige Krieg ergreift Deutschland zwischen 1618 und 1648. Zu Beginn steht der sogenannte »Prager Fenstersturz« 1618, bei dem evangelische Einwohner der Stadt Prag mit dem Kaiser des heiligen römischen Reiches Deutscher Nation und dem Papst verbundene, katholische Adelige aus dem Fenster des Rathauses warfen. In der Folge entspann sich ein Krieg zwischen katholischen und evangelischen Truppen, in den sich bald weitere außerdeutsche Parteien einschalteten: Etwa die Dänen, die Niederländer, vor allem aber die Schweden, die bald als Schutzmacht der evangelischen Truppen auftraten.

Besonders tat sich dabei der verhältnismäßig junge schwedische König Gustav II. Adolf hervor, der bis zu seinem Tod bei einer Schlacht bei Lützen im heutigen Sachsen-Anhalt – unweit der Städte Halle und Leipzig –, große Zugewinne für die aufstrebende schwedische Großmacht erlangen konnte.

Neben dieser Kriegshistorie aber berücksichtigt Brecht auch den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, der Anfang des 17. Jahrhunderts bereits vollzogen ist. Der Dreißigjährige Krieg kann auch als letzter Glaubenskrieg zwischen katholischen und evangelischen Truppen gelesen werden. Die Heere berufen sich daher auf mittelalterliche Werte, auf das Dienstverhältnis des Feudalismus, den Glauben an die größere Sache, an Treue und Tugend. Die Menschen jedoch sind schon längst zu Subjekten geworden. Um 1600 war die Alphabetisierung in weiten Teilen Deutschlands bereits zu einer Massenalphabetisierung geworden (vgl. Houston 2012).

Die Menschen sind also schon mitten in Individualisierungsprozessen begriffen. Wenig später, nämlich 1641, wird immerhin das Descartessche Subjekt beschrieben und damit diskursiv konstituiert. Brecht berücksichtigt dies, wenn er die Werte-Welt des Mittelalters mit den konkreten Werten der Menschen kollidieren lässt.

Doch das Militär ist selbst nur noch auf der Ebene der Repräsentation mit den alten Werten verbunden. Passend dabei: Der Werber rekurriert auf die alten Werte, der Feldwebel aber kann bereits pragmatisch auf die spezifische Verwaltungsordnung verweisen, die erst der Krieg schaffe. Es sollte nach »Mutter Courage und ihre Kinder« noch vierzig Jahre dauern bis der französische Philosoph und Psychiater Michel Foucault in »Überwachen und Strafen« die These formulierte, in den Kasernen habe sich eine spezifische Form des Wissens und damit eine bestimmte Form der Verwaltungstätigkeit entwickelt (vgl. Foucault 1976).

Der Feldwebel entgegnet: »Frieden, das ist nur Schlamperei, erst der Krieg schafft Ordnung. Die Menschheit schießt ins Kraut im Frieden« (1349). Und dabei wird er ziemlich konkret: »Ich bin in Gegenden gekommen, wo kein Krieg war vielleicht siebzig Jahr, da hatten die Leut überhaupt noch keine Namen, die kannten sich selber nicht. Nur wo Krieg ist, gibts ordentliche Listen und Registraturen, kommt das Schuhzeug in Ballen und das Korn in Säck, wird Mensch und Vieh sauber gezählt und weggebracht, weil man eben weiß: ohne Ordnung kein Krieg« (1350).

Der Dialog zwischen Werber und Feldwebel thematisiert den Krieg auf einer rationalistischen Ebene. Gleichzeitig wirken die Äußerungen in ihrem Zynismus radikal überspitzt. Doch auch wenn sich die Ironie nicht überhören lässt, an der Aussage des Werbers ist ja durchaus etwas Wahres. So hat etwa der Kulturphilosoph und Medienwissenschaftler Friedrich Kittler hervorgehoben, wie Neuerungen auf technischer und damit auch verwaltungstechnischer Ebene sich aus den Anforderungen des Heereswesens ergeben haben (vgl. Kittler 1988: 87 ff.)

Veröffentlicht am 20. November 2023. Zuletzt aktualisiert am 20. November 2023.