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Tschick

Interpretation

»Tschick« - Ein Adoleszenzroman

Die Adoleszenz beschreibt die Entwicklung von Jugendlichen zu Erwachsenen und thematisiert dabei insbesondere deren Identitätsfindung. Man betrachtet das Heranwachsen in der Spanne vom 12. bis 18. Lebensjahr auf physiologischer, psychologischer und soziologischer Ebene. Motive sind Sexualität, Gesellschaft, Familie und Freundschaft. Wird die eigene Identität definiert, ist die Adoleszenz abgeschlossen. Im traditionellen Roman, der auf einer simplen und strukturierten Weltanschauung beruht, erfolgt dies durch die Übernahme von Rollenmustern. Ab 1945 wurde diese Lösung durch »The Catcher in the Rye« von J.D. Salinger aufgebrochen. Gegen standardisierte Lebensweisen und Rollenbilder wurde protestiert sowie soziale und innere Konflikte normalisiert (vgl. Möbius, 77).

Am Beispiel von »Tschick« lassen sich die zentralen Motive nachvollziehen. Maik entwickelt ein Interesse für das andere Geschlecht und wird mit dem Thema Sexualität konfrontiert. Tschick setzt sich ebenfalls damit auseinander und erkennt, dass er homosexuell ist. Die beiden werden von Außenseitern zu Freunden. Weiterhin kommt es zu Konflikten mit den Eltern und Erfahrung alternativer Ansichten, die dazu führen, dass Maik sich von seinem Vater distanziert - ein Schritt zur eigenen Identität.

Das Heranwachsen wird meist durch eine Initiation oder ein Ritual verdeutlicht. In »Tschick« nimmt die Reise diese Funktion im Allgemeinen ein. Durch Situationen, zum Beispiel als Maik Autofahren lernt, werden konkrete Beispiele für diese Initiation geschaffen.

Das Erwachsenwerden fordert auch die Auseinandersetzung mit dem Tod. Maik begegnet dieser Aspekt mehrfach auf der Reise, zum Beispiel als er die Rentner beobachtet oder Anselm Wails Schnitzerei findet. Der zweite Unfall bringt ihn selbst in Lebensgefahr. Während er inhaltlich für das Ende der Reise steht, kann er gleichzeitig als Ende der Kindheit interpretiert werden (vgl. ebd., 78f.). Für Maik beginnt zwar kein »neues Leben«, allerdings positioniert er sich danach klar zu Tschick und gegen seinen Vater. Damit vertritt er einen persönlichen Standpunkt.

Ein weiteres Merkmal des Adoleszenzromans ist die Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen. Am Beispiel Maiks geschieht dies durch sein Lieblingsbuch »Seeteufel«.

Pubertät und Bewusstwerdung

Neben der formalen gattungsspezifischen Einordnung als Adoleszenzroman sind die jugendlichen Themen auch inhaltlich zu beleuchten, besonders in Hinblick auf deren Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen. Jedes dieser Motive könnte einem eigenen Interpretationsansatz gewidmet werden. Aufgrund des Umfangs werden sie hier nur kurz angeschnitten:

Freundschaft - Liebe - Sexualität: Maik und Tschick sind Außenseiter. Während Maik diesen Standpunkt vor allem durch sein geringes Selbstbewusstsein einnimmt, wird Tschick aufgrund von Vorurteilen aktiv ausgegrenzt. Beide nehmen ihr Außenseitertum hin, erfahren jedoch echte Freundschaft und lernen diese schätzen. Einschlägige Studien wie die Shell-Studie oder DJI-Jugendsurveys belegen den steigenden Wert sozialer Beziehungen für Jugendliche und junge Erwachsene (vgl. Möbius, 80).

Maik gerät, typisch für sein Alter, mit Fragen zu Sexualität in Kontakt. Er beobachtet sein Interesse auf erotischer Ebene bei Hanna und Mona, aber auch auf sehnsuchtsvoller bei Tatjana.

Obwohl Queerness und Homosexualität zunehmend in der Gesellschaft etabliert und akzeptiert werden, erfahren queere Menschen nach wie vor Diskriminierung und Zurückweisung. Tschick verheimlicht seine Sexualität und spricht in Form von Beschimpfungen sogar abwertend darüber (vgl. 82). Schließlich öffnet er sich Maik, nachdem er genug Vertrauen aufgebaut hat.

Familie und Konflikte mit Erwachsenen: Maik zeigt durch seine Erzählweise eine deutliche Distanz zu allen erwachsenen Personen im Roman. Eine Ausnahme bildet die Sprachtherapeutin, die ihnen als einzige keine moralischen Vorträge hält, sondern mit den Jungen lacht und sich für ihre Erlebnisse interessiert.

Isa und Tschick leben ohne Eltern. Maiks Verhältnis zu seinen Eltern ist ebenfalls nicht intakt.

Alkohol, Suchtmittel und Gesetzeswidrigkeiten: Maiks Mutter ist alkoholsüchtig, was bei Maik zu einer Ablehnung von Alkohol führt. Trotzdem hat er bereits Bier probiert und versucht es in Tschicks Beisein wieder, kommt aber zu dem Schluss, dass es ihm nicht schmeckt. Tschick hingegen erscheint regelmäßig alkoholisiert in der Schule. Damit wird die Präsenz von Alkohol im Jugendalter thematisiert, aber nicht vordergründig als Motiv im Roman behandelt. Es kommt aber zu einer Reihe weiterer Straftaten, die Maik und Tschick aus persönlicher Motivation begehen. Ihr Vorgehen ist von jugendlicher Naivität geprägt. Allerdings wollen sie niemandem Schaden zufügen. Daher wird auch kein moralisches Fazit vom Autor gezogen. Maik und Tschick werden aber vor Gericht für ihre Taten bestraft. Gründe für straffälliges Verhalten von Jugendlichen können im Austesten von Grenzen liegen oder haben psychosoziale/familiäre Ursachen (vgl. Möbius, 87). Auf Maik und Tschick kann beides zutreffen.

Maiks Ausbruch aus bisherigen Normen ist stark mit seiner Adoleszenz und der eigenen Sinnsuche verbunden. Im Roman wird dies auf die Zeit der Reise komprimiert. Maik wird mit Tod und Vergänglichkeit konfrontiert, die ihn das Leben und dessen Bedeutung hinterfragen lassen. Durch Tschicks Einschätzung entsteht ein neuer Blickwinkel auf das eigene Selbst. Maiks Weltbild wird durch die positiven Erfahrungen und die Hilfsbereitschaft der Menschen aufgerüttelt. Die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zeigt sich in Maiks Bestreben, die Reise um jeden Preis fortzusetzen. In der letzten Szene des Buches kommt es mit dem Versenken von Gegenständen im Pool zur klaren Distanzierung von den von Materialismus geprägten Wertvorstellungen Maiks Vaters und der Befreiung von gesellschaftlichen Dogmen und Zwängen. Während Maik zu Romanbeginn noch schüchtern und unsicher war, ist es ihm am Ende egal, was andere über ihn denken. 

»Tschick« - Eine Heldenreise

Bei einer Heldenreise durchlebt der Held oder Protagonist ein »archetypisches Grundmuster von Situationsabfolgen« (Scholz, 56). Das entsprechende Schema lässt sich auf »Tschick« übertragen. 

Maik nimmt dabei die Figur des Helden ein, der von Tschick zum Abenteuer, in diesem Fall die Reise, aufgerufen wird. Er zeigt erst Widerwillen, überwindet dann seine Zweifel und bricht auf. Mit der Walachei setzen sie sich zwar ein Ziel, trotzdem ist es eine Reise ins Unbekannte. Dabei macht Maik, der Held, Erfahrungen, die ihn prägen und verändern. Dazu gehören auch Herausforderungen und Bewährungsproben, zum Beispiel die Flucht vor der Polizei, Orientierungslosigkeit, der leere Tank oder ausgehende Lebensmittel. Entweder finden Maik und Tschick selbst eine Lösung für ihre Probleme oder sie erhalten Hilfe von Außen, zum Beispiel von Friedemann und seiner Familie, Isa oder der Sprachtherapeutin. 

Ein typisches Beispiel für eine Gefahrensituation in unbekanntem Gebiet ist das Aufeinandertreffen mit Horst Fricke. Maik und Tschick geraten erst unter Beschuss, werden dann aber gastfreundlich aufgenommen. Die Belohnung mit dem Fläschchen, das sie in Notlagen retten soll, kommt dem für die Heldenreise typischen Schatz oder einem kostbaren Elixier gleich. Allerdings wird dieses von Maik und Tschick aufgrund seines Gestanks aus dem Fenster geworfen, was für Ironie und Komik sorgt und in dem Roadtrip-Setting passend erscheint.

Maik zögert, klassisch für den Protagonisten der Heldenreise, in seinen Alltag zurückzukehren: »Ich hatte plötzlich Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass ich dort [Berlin] einmal gelebt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich da zur Schule gegangen war, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass ich es einmal wieder tun würde.« (180f.) Allerdings wird er durch äußere Umstände, in diesem Fall den zweiten Unfall, zur Rückkehr gezwungen. Anschließend gilt es, das Erlebte zu verarbeiten und in den Alltag zu integrieren. Maik hat sich verändert. Er hat Freunde gefunden und somit seine Außenseiterposition verlassen. Sowohl Isa als auch Tatjana zeigen Interesse an ihm. Er distanziert sich von seinem Vater und spürt eine Verbundenheit zu seiner Mutter. Maik ist über sich hinaus gewachsen, hat Ängste überwunden und ist selbstbewusster geworden.

Veröffentlicht am 29. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 29. Dezember 2023.