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Tschick

10. Abschnitt (Kapitel 37-40)

Zusammenfassung

Maik und Tschick fahren auf einem schmalen Plateau, das rechts und links von Abhängen begrenzt wird. Maik sieht sich nochmal nach dem Haus von Horst Fricke um und erkennt, dass dort ein Polizeiwagen wendet. Tschick und Maik jagen das Plateau entlang, das an einem Rastplatz plötzlich endet. Sie wagen sich die steile Böschung hinab, doch der Lada rutscht ab und überschlägt sich mehrfach. Das Auto landet auf dem Dach. Maik befreit sich aus seinem Gurt und gelangt ins Freie. Tschick kriecht auf allen Vieren hervor und fordert Maik auf, loszurennen.

Doch dieser bleibt wie angewurzelt stehen. Weit und breit gibt es keine annehmbare Fluchtperspektive. Tschick fragt, was los sei, als eine korpulente Frau mit einem Feuerlöscher in der Hand aus dem Gebüsch gestürmt kommt. Maik erinnert sie an ein Flusspferd. Die Frau erkundigt sich aufgeregt, ob alles in Ordnung sei und wo ihre Eltern seien. Tschick gibt direkt zu, dass er gefahren und das Auto geklaut sei. Die Frau bemerkt Blut an Tschicks Kinn. Sie lässt den Feuerlöscher fallen, der auf Tschicks Fuß landet. Dieser kippt hinten über und schreit vor Schmerz auf. Auf Maiks Frage, ob der Fuß gebrochen sei, kann Tschick nur eine wütende Antwort geben. Maik kann nicht glauben, dass bei allem, was ihnen passiert ist, sie ausgerechnet von einem Feuerlöscher ausgebremst würden.

Die Frau begutachtet Tschicks Fuß und beschließt, ins Krankenhaus zu fahren. Mit 250 km/h jagen sie über die Autobahn. Maik fällt noch ein Polizeiwagen auf, den sie aber abhängen. Die Frau hat Spaß an der schnellen Fahrt. Auf Tschicks Frage, was sie mache, antwortet sie, sie sei Sprachtherapeutin. Tschick versucht, sich von seinen Schmerzen abzulenken, doch scheint er auch ein Interesse für das Thema zu haben. Angeregt unterhalten sie sich darüber und werden immer langsamer. Maik macht das zunehmend nervös, denn die Polizei könnte wieder auftauchen. Schließlich erreichen sie das Krankenhaus. Tschick gesteht, dass er keine Krankenversicherung habe. Die Sprachtherapeutin will sich darum kümmern, da sie die Verletzung verursacht habe.

Es ist Sonntagabend und die Notaufnahme entsprechend gefüllt. Maik meldet Tschick anhand erlogener Informationen an. Sie müssen warten, bis sie vom Arzt aufgerufen werden. Die Sprachtherapeutin wartet mit ihnen und lacht viel. Maik und Tschick finden sie sehr nett und erzählen von ihren Erlebnissen. Sie vermuten, nun mit der Bahn zurück nach Berlin zu fahren. Als es schon fast Mitternacht ist, beschließt die Sprachtherapeutin aufzubrechen. Sie nennt ihnen ihre Adresse und schenkt ihnen 200 Euro für die Zugtickets. Maik ist das peinlich, aber er kann es auch nicht ablehnen. Nachdem die Sprachtherapeutin sich mehrfach versichert hat, ob alles in Ordnung sei, nennt sie die beiden »zwei Kartoffeln« und verabschiedet sich. Für Maik war sie die netteste Bekanntschaft von allen.

Irgendwann wird Tschick aufgerufen. Maik ist sehr müde. Tschick muss erst zum Röntgen und erhält dann einen Gips. Die zwei müssen noch dableiben und bekommen ein Zimmer mit zwei Betten zugewiesen. Die Reise scheint zu Ende zu sein. Tschick legt sich ins Bett, aber Maik schaut aus dem Fenster. Er sieht einen Acker, der ihm vertraut vorkommt, außerdem zwei PKWs und einen Kranlaster. Er ruft Tschick zu sich, damit er es mit eigenen Augen sehen kann: Der Lada ist noch da und wird von einem Polizisten und zwei Männern im Blaumann inspiziert.

Ein völlig übermüdeter Arzt betritt das Zimmer und schaut sich Tschicks Fuß an. Mit knappen Worten nennt er die Diagnose und weitere Vorgehensweisen. Als er den Raum verlässt, scheint er das Gleichgewicht zu verlieren. Kurz darauf kommt er nochmals ins Zimmer und scheint auf einmal hellwach. Er reißt einen Witz und bietet den Jungs an, sich im Schwesternzimmer Kaffee zu holen. Kaum ist er aus dem Zimmer, stürzen Maik und Tschick wieder ans Fenster. Der Lada ist noch da, aber der Kran ist weg. Auch der Polizist fährt gerade davon. Tschick will zurück zum Auto, wenigstens um ihre Sachen zu holen. Maik ist der festen Überzeugung, dass der Lada nicht mehr fährt. Sie diskutieren, bis die Schwester mit zwei Kaffeebechern hereinkommt und wissen will, worum es ginge. Maik kann Tschick gerade noch seinen erfundenen Namen zuflüstern.

Maik und Tschick behaupten, sie hätten ihre Tante Mona besucht. Die Schwester verlangt darauf, dass sie diese anrufen. Aus Verzweiflung wählt Maik irgendeine Nummer und hofft, dass um vier Uhr morgens niemand abheben würde. Ein Mann namens Reiber antwortet. Maik spricht mit ihm wie mit seiner erfundenen Tante. Er versucht die Schwester loszuwerden, aber diese bleibt eisern stehen. Reiber kombiniert, dass Maik und er ein erfundenes Gespräch führen und Maik wahrscheinlich in Schwierigkeiten steckt. Er bietet ihm seine Hilfe an. Maik gelingt es, diese abzulehnen und gleichzeitig den Anschein zu erwecken, dass sie von ihrer Tante Mona abgeholt würden. Die Schwester lässt sie gehen.

Maik ist in dem Glauben erzogen worden, dass die Menschen schlecht seien. Doch auf seiner Reise hat er bis jetzt nur gute Erfahrungen gemacht und Hilfe bekommen.

Analyse

Die Flucht vor der Polizei verleiht dem Trip der beiden Jugendlichen einen abenteuerlichen Charakter und Action. Der aus der Not heraus geborene Leichtsinn mündet in einem mehrfachen Überschlagen des Wagens, wobei Tschick und Maik froh sein können, dass sie unverletzt, mit Ausnahme einer Schramme an Tschicks Kinn, davon kommen.

Dass ausgerechnet der herunterfallende Feuerlöscher ihr Glück durchkreuzt, beinhaltet eine gewisse Ironie:

    Da waren wir Hunderte Kilometer kreuz und quer durch Deutschland gefahren, auf Baustellengerüsten über den Abgrund gerollt und von Horst Fricke beschossen worden, wir waren eine Piste entlang- und einen Abhang runtergebrettert, hatten uns fünfmal überschlagen und alles mehr oder weniger ohne Schramme überstanden - und dann kam ein Flusspferd aus dem Gebüsch und zerstörte Tschicks Fuß mit einem Feuerlöscher. (193)

Diese Beschreibung stellt weiterhin die Unverwüstlichkeit des Ladas heraus. Dabei handelt es sich um einen Lada Niva, einen Geländewagen der russischen Automarke Lada. Das Modell gilt als einfach ausgestattet, aber besonders robust und damit perfekt für die Vorhaben der zwei Jugendlichen. Außerdem wird damit ein Bezug zu Russland hergestellt, diesmal in einem positiven und nicht ausländerfeindlichen Kontext (vgl. Kramper, 85).

Maik und Tschick begegnen nach ihrem Unfall der Sprachtherapeutin, die Maik aufgrund ihrer Erscheinung metaphorisch als Flusspferd bezeichnet. Obwohl sie für Tschicks Verletzung verantwortlich ist und damit die Reise unterbricht, bezeichnet Maik sie später als »die Netteste von allen«. (201)

Vielleicht ist es ein direktes Vertrauen, vielleicht auch einfach nur dem Moment geschuldet, aber anstatt wie gewohnt zu lügen, sagen sie ihr direkt die Wahrheit. Die Sprachtherapeutin glaubt ihnen, wodurch gegenseitiges Vertrauen geschaffen wird. Erst reagiert die Frau geschockt, macht ihnen aber auch keinen moralischen Vorwurf, sondern bezeichnet die Jungs als »Autoknacker« (197) und nimmt diesen Fakt hin. Damit unterscheidet sie sich von den übrigen Erwachsenen im Roman. Der Sprachtherapeutin gelingt es, eine Nähe zu den Jugendlichen aufzubauen und wird daher besonders von ihnen geschätzt.

Tschick, für den Deutsch nicht seine Muttersprache ist, hegt ein auffälliges Interesse für den Beruf der Sprachtherapeutin, welche diese mit Leidenschaft demonstriert. Maik hingegen, der die Polizei gesehen hat, kann sich nicht darauf einlassen. Die Gegensätze und Missverständnisse zwischen insbesondere Maik und der Sprachtherapeutin, aber auch Maik und Tschick sorgen für Komik in diesem Abschnitt.

Dem Krankenhauspersonal tischt Maik hingegen jede Menge Lügen auf. Dabei versucht er, das Problem zu umgehen, dass Tschick keine Krankenversicherung hat. Dieser Fakt stellt Tschicks ärmliche Verhältnisse und seine Randposition in der Gesellschaft heraus. Maik greift bei seinen Lügen auf den wohlhabenden Mitschüler André Langin zurück, da dieser einmal mit seiner privaten Krankenversicherung angegeben hatte. Obwohl ihre Vornamen ähnlich sind, unterscheiden sich die Leben von Andrej Tschichatschow und André Langin stark voneinander, was dieser Notlüge Komik verleiht.

Maiks Stimmung ist niedergeschlagen, da die Reise zu Ende scheint. Die Wiederentdeckung des Ladas erweckt jedoch Hoffnung und macht das Auto dabei zum Hoffnungsträger. Maik glaubt zwar nicht, dass der Wagen noch fährt, doch Tschick will es versuchen. Wie so häufig im Roman sind die abweichenden Sichtweisen der beiden und die damit verbundene Überzeugung des anderen Basis für das Voranschreiten der Reise.

Beim nächtlichen Telefonat mit Herrn Reiber macht Maik eine unerwartete Erfahrung. Ein völlig Fremder erkennt seine Notlage und hilft ihm. Schon öfter kam es zu Hilfeleistungen während der Reise. Doch das Gespräch mit Reiber lässt Maik die Erziehung seiner Eltern infrage stellen: »Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. [...] Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.« (209) Dies beinhaltet einerseits neue Erfahrungen und eine veränderte Sichtweise, die Maik durch die Reise gewinnt. Zum anderen ist das Reflektieren und Distanzieren von elterlichen Werten ein Teil des Erwachsenwerdens. Die Jugendlichen müssen ihre eigenen Werte definieren.

Der Einschub in Kapitel 37, bei dem Maik von der Wahrscheinlichkeit eines Schocks spricht, stellt die rückschauende Erzählweise heraus. Der Ich-Erzähler kann seine Erinnerungen bereits mit Kommentaren versehen.

Veröffentlicht am 28. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 28. Dezember 2023.