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Faust I

Interpretation

Faust - der moderne Mensch? 

Das berühmteste Werk der deutschen Literatur ist wohl Goethes »Faust«. Hauptthema ist die Überschreitung von Grenzen, die Befreiung aus den einengenden Normen. Faust tut dies, ist aber im Zwiespalt, denn »zwei Seelen« wohnen in seiner Brust. Dies wird deutlich in der »Gelehrtentragödie«.

Faust wird als Gelehrter dargestellt, der sich hinterfragt und beschließt, Neuland zu betreten. Das beinhaltet, dass er sowohl gewinnt als auch verliert. Er versucht mithilfe der Magie, neue Erkenntnisse zu erlangen. Er erkennt, dass er den Erdgeist zwar beschwören, aber nicht halten kann. Faust strebt nach Höherem, will forschen, erfinden, die Welt verbessern. Dazu muss er Altes zerstören, um Neues zu schaffen. So beklagt Faust während seines Osterspaziergangs, dass sein Gelehrtendasein unvollständig sei. Ganz im Sinne des Sturm und Drang müssen auch die sinnlichen Triebe befriedigt werden. Er strebt nach Erkenntnis in jedem Bereich. Um diese zu erlangen, geht er einen Pakt mit dem Teufel ein und zerstört damit sogar, was ihn am Leben erhält. Das wird in der „Gretchentragödie“ deutlich.

Die Figur des Faust ist Goethes Entwurf eines modernen Menschen am Ende des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Faust will aus der Enge ausbrechen, er will mehr: mehr Wissen, mehr Geld, mehr Vergnügen. Grenzen akzeptiert er nicht. Rastlos hetzt er von einem Ereignis zum nächsten, ohne je zufrieden zu sein. Er stellt den Glauben, die Tradition, die Gesetzmäßigkeiten der Natur infrage. Dies muss scheitern.

Goethe selbst hat sich mit dem Stück gegen Konventionen gewehrt, indem er die Regeln der aristotelischen Dramentheorie der drei Einheiten von Raum, Zeit und Handlung nicht anwandte. Obwohl Goethes Werk vor mehr als 200 Jahren geschrieben wurde, kann man die Thematik als Gleichnis auf die heutige globalisierte und beschleunigte Welt sehen. Eine Welt, in der die Umwelt ausgebeutet wird, die meisten Menschen ihre Befriedigung im Konsum suchen, immer schneller unzufrieden sind und auf die Zukunft spekulieren, in der alles besser sein wird.

Des »Faust«-Stoffs haben sich unterschiedliche Künstler angenommen. Etwa Friedrich Wilhelm Murnau in seinem berühmten Stummfilm aus dem Jahr 1929 oder Komponisten wie Beethoven, Liszt und Mahler. Auch für andere Schriftsteller war der Doktor Faustus Grundlage ihrer Werke, wie in Thomas Manns »Dr. Faustus« oder Klaus Manns »Mephisto«. Der Stoff wurde auch ideologisch »eingesetzt«. So galt Faust im NS-Regime als auserwählter, arischer Übermensch. 

Goethes Werk ist bis heute prägend für unsere Sprache. Viele Zitate aus »Faust« sind in die Alltagssprache eingegangen. Wenn man ausdrücken möchte, worum es wirklich geht, ist das »des Pudels Kern« und »was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen«, auch wenn es nicht immer »der Weisheit letzter Schluss« ist.

Margarete als Pendant zu Faust

Margarete (Gretchen) ist ein 14-jähriges Bürgermädchen, das durch ihre Herkunft und ihr Wesen das Gegenteil zu Fausts wissenschaftlichem Hintergrund bildet. Goethe hat die Begegnung mit mehreren Frauen in seinem Leben in der Figur Margarete verarbeitet. Zu nennen sind dabei »das schöne Gretchen«, das Goethe als Vierzehnjähriger in einem Wirtshaus in Offenbach kennenlernte, Käthchen Schönkopf, Friederike Brion, Charlotte Buff, aber auch die Kindsmörderin Susanna Margareta Brandt. Den Fall Brandt studierte Goethe anhand der Prozessakten.

Gretchen wird als gehorsam, fromm und bescheiden dargestellt. Sie ist noch sehr jung und dementsprechend naiv und leicht beeinflussbar. Aber auch weibliche Eigenschaften kennzeichnen sie. So führt sie den Haushalt und sorgt für ein kleineres Geschwisterchen bis zu dessen Tod. Schließlich wird sie selbst Mutter. Sie hat Fausts Verführungskünsten nichts entgegenzusetzen, da er sich mit Mephisto verbündet hat. Gretchen wurde zu unterwürfigem Gehorsam erzogen, sowohl von ihrer Mutter als auch der Kirche. So verstricken sich Faust und Gretchen immer mehr in Schuld, die mit dem Tod ihrer Mutter und auch dem ihres Bruders enden. Verzweifelt bringt Gretchen schließlich ihr Kind um. Mephisto zieht im Hintergrund die Fäden und lässt die Menschen nach seinen Wünschen agieren. Hier zeigt sich Gretchens Intuition. Sie erkennt Mephisto trotz ihrer jungen Jahre als böse.

Ist Gretchen anfangs noch unbekümmert und kann mit »schnippischen« Worten kontern, gerät sie unter dem Druck der Ereignisse immer mehr in Verzweiflung und wird wahnsinnig. In der Szene »Kerker« zeigt sie sich gereift und fest im Glauben und wird dadurch gerettet. Sie ist Faust entwachsen.

Goethe stellt Margarete anfangs als schnippisch und kurz angebunden dar. Gleichzeitig ist sie tugendhaft und sittsam. Ein Gegensatz, der auch in der Darstellung von Gretchen als Kind und Frau fortgeführt wird. Auch ihre Gläubigkeit ist an eine Frau in Goethes Lebens angelehnt. Mit der Pfarrerstochter Friederike Brion hat Goethe wohl über Glauben und Religion gesprochen. Und nicht zuletzt kannte Goethe das Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben, als er Friederike verlassen hat und reflektierte, welche Auswirkungen sein Verhalten auf das gesellschaftliche Ansehen der Frau hatte. Der Kindsmord ist der tragische Höhepunkt von Gretchens Verzweiflung. Hier verarbeitet Goethe das Schicksal der Kindsmörderin Susanna Margareta Brandt.

Die »Gretchentragödie« stellt ein soziales Drama dar, in dem Goethe die kleinbürgerliche Engstirnigkeit und den kirchlichen Gehorsam anprangert. Die Ständeordnung mit der Abschottung der einzelnen sozialen Schichten begünstigt Gretchens gesellschaftlichen Fall. Erscheint sie anfangs als unschuldig und rein, gar als himmlisch, ist sie am Ende durch Mephistos Wirken durch die Hölle gegangen und findet bei Gott Erlösung.

Während der langen Entstehungszeit von »Faust« vollzieht sich eine Veränderung in der Beurteilung der Gestalt Gretchens. Tugend und Unschuld sind die Verkörperung der weiblichen Werte der Aufklärung, Gretchens Naivität und Natürlichkeit verbindet man mit der Epoche des Sturm und Drang.

Historischer Kontext und Umbruch

Goethes »Faust« entstand in seiner ersten Fassung »Urfaust« auf dem Höhepunkt des absolutistischen Zeitalters um 1770. Es war die Zeit vor der Französischen Revolution von 1789. Die absolutistischen Staaten waren auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Der Adel verteidigte seine Machtstellung gegen das aufstrebende Bürgertum. Im Zuge der Französischen Revolution kam es zu einer staatlichen Neuordnung Europas, die ihren Abschluss mit dem Wiener Kongress 1815 fand. Für die deutschen Gebiete bedeutete dies, dass Preußen infolge des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) zur europäischen Großmacht wurde. Russland gewann außenpolitisch an Bedeutung, Frankreich war innerlich durch eine Finanzkrise und das Mätressenwesen zerrüttet. Großbritannien entwickelte sich zur führenden Handels- und Kolonialmacht und beherrschte die Weltmeere.

Mit der Französischen Revolution 1789 begann ein Umbruch, der Europa in den Grundfesten erschütterte. Die Monarchie in Frankreich wurde beseitigt und eine Republik gegründet. Es wurden in Anlehnung an die Menschenrechte der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die Menschen- und Bürgerrechte in einer europäischen Verfassung festgelegt. Sie bildeten die Grundlage für ein neues Menschenbild. Mit der Machtübernahme durch Napoleon Bonaparte erreichten die Neuerungen auch deutsche Gebiete. Die Revolutionsarmee eroberte in den nächsten Jahren weite Teile Europas und brachte den Nationalstaatsgedanken in diese Gebiete. Gleichzeitig modernisierte Napoleon das Rechtswesen mit dem Code Civil. Goethe begrüßte die Neuerungen, lehnte jedoch die Gewalt der Revolution ab.

Von Großbritannien ausgehend breitete sich die industrielle Revolution auf dem Kontinent aus. Die Dampfkraft als Motor der Industrialisierung führte zu entscheidenden Veränderungen in der Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschland als Agrarstaat hinkte der wirtschaftlichen Entwicklung zunächst hinterher. Dennoch war der zunehmende Einfluss des Bürgertums nicht mehr aufzuhalten. Das Großbürgertum war Kapitalgeber und Initiator der Entwicklung hin zum Kapitalismus und der Entstehung der Industriegesellschaft. Der Adel und die ständische Ordnung haben sich überlebt. Das Bürgertum strebte nach Einfluss und Mitwirkung in der Politik.

So ist es nicht verwunderlich, dass Goethe sich der Figur Faust widmete, die in ihrer Komplexität ein zerrissener und dennoch moderner Mensch ist, der nach Erkenntnis strebt und in Mephisto den idealen Partner findet, der ihm scheinbar alles ermöglichen kann. So gewinnt Faust Wissen, verliert aber die Liebe seines Lebens.

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.