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Faust I

Szene 1: »Nacht« und Szene 2: »Vor dem Tor«

Zusammenfassung

Zu Beginn der Szene »Nacht« befindet sich Faust in seinem Studierzimmer. Er rekapituliert seine Studien der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theologie und Medizin. Diesen hat er sein gesamtes bisheriges Leben gewidmet und doch keine Antwort auf die Frage gefunden, wer oder was die Welt zusammenhält. Faust erblickt das Zeichen des Makrokosmos im Buch von Nostradamus und beginnt, in dem Buch zu lesen. Er blättert die Seiten um und erblickt das Zeichen des Erdgeistes, welchen er daraufhin beschwört. Als der Erdgeist erscheint, ist Faust entsetzt über dessen Erscheinungsbild. Faust fühlt sich überlegen und bezeichnet sich als Ebenbild Gottes. Der Erdgeist spottet lediglich über ihn und verschwindet wieder.

Daraufhin betritt Wagner das Studierzimmer. Er beginnt ein Gespräch mit Faust, das davon handelt, wie Wissen erlangt werden kann. Faust ist dankbar für das Gespräch, verliert sich aber, kurz nachdem Wagner geht, wieder in seinen Selbstzweifeln. Er sieht ein Fläschchen (Phiole) Gift vor sich und erwägt, es zu trinken. Bevor er es zum Mund führt, erklingen die Glocken und der Chor der Engel singt. Faust ist vorerst gerettet und der Frühling beginnt.

Es ist Ostern, die Menschen versammeln sich auf dem Marktplatz und Faust und Wagner gehen spazieren. Menschen jeglicher Schicht haben sich versammelt und tanzen und singen gemeinsam. Faust ist beschwingt durch die Menschen und die Lieder. Wagner hingegen fühlt Unbehagen, da er sich sonst nicht in solchen Kreisen bewegt. Faust beginnt, die Natur zu beschreiben und macht deutlich, dass der Winter nun vorbei sei und das Leben zurückkehrt. Ein alter Bauer beginnt ein Gespräch mit ihm und lobt Fausts Vater und Faust selbst für seine guten Taten in der Medizin. Faust hingegen äußert gegenüber Wagner, dass er viele Menschen nicht retten konnte, weshalb er diese Taten nicht als Erfolg wahrnimmt. Des Weiteren spürt er einen Zwiespalt zwischen irdischer Lust und dem Streben nach unendlich viel Wissen. In der Dämmerung sieht Faust schließlich einen Pudel. Im Gegensatz zu Wagner ist er von dem Tier fasziniert und nimmt ein unsichtbares Band wahr, das ihn mit dem Pudel verbindet.

Analyse

Die Szene »Nacht« beginnt mit einer Regieanweisung und der Beschreibung von Fausts Studierzimmer. Er sitzt an seinem Pult und arbeitet. Das Zimmer ist eng, hochgewölbt und in gotischem Stil. Der hochgewölbte, aber dennoch enge Raum symbolisiert Fausts Streben nach mehr Wissen und den fehlenden Raum, diesem nachzukommen. Er selbst bezeichnet sein Studierzimmer als Kerker: »Weh! Steck’ ich in dem Kerker noch?/ Verfluchtes dumpfes Mauerloch,/ [...]« (V. 398 f.). Faust fühlt sich demnach räumlich und intellektuell eingeengt.

Es wird ein Knittelvers (unregelmäßiger 4-Heber) für diese Passage verwendet, was die Unruhe, die in Faust herrscht, unterstützt. Er hat sein Leben dem Studium gewidmet und kann sich trotzdem eine Frage nicht beantworten. Dies wird deutlich in Vers 380-383: »Dass ich nicht mehr, mit sauerm Schweiß,/ Zu sagen brauche was ich nicht weiß;/ Dass ich erkenne was die Welt/ Im Innersten zusammenhält,/ [...].« Die Gelehrtentragödie beginnt.

Faust hat alle Bereiche der Wissenschaft durch seine Studien abgedeckt. Diese sind Jura, stellvertretend für die Gerechtigkeit, Medizin, stellvertretend für die Gesundheit, Philosophie, symbolisierend für den Sinn des Lebens und Theologie, stellvertretend für den Glauben. Trotzdem ist es ihm nicht möglich, zu der Erkenntnis zu gelangen, »was die Welt/ Im Innersten zusammenhält,/ [...]« (V. 380-383). Ein weiteres Motiv, das die Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis unterstreicht, ist der Mondschein, der durch das Fenster in Fausts Studierzimmer fällt. Als Charakteristikum der Romantik symbolisiert er die Sehnsucht nach etwas, für den Betrachter, Wichtigem. Des Weiteren kann der Mond als Symbol für die Natur gedeutet werden, der sich Faust hinwenden möchte, um seinem eingeengten Dasein zu entfliehen (Diekhans, Völkl, S.18 f.).

Als Faust im Buch des Nostradamus blättert, erblickt er das Zeichen des Makrokosmos. Er verliert sich darin und sieht schließlich das Zeichen des Erdgeistes. Dieses weckt in ihm das Vorhaben, den Erdgeist zu beschwören, aus seiner Enge zu entkommen und sich hinaus zu begeben: »Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen« (V. 464). Dieser Mut wird vom Erdgeist gebrochen, denn dieser hat lediglich Spott für ihn übrig. Für ihn ist Faust »[e]in furchtsam weggekrümmter Wurm!« (V. 498). Doch Faust widerspricht ihm mit den Worten: »Ich bin’s, bin Faust, bin deinesgleichen!« (V. 500). Während Faust sich auf einer Stufe mit dem Erdgeist sieht, erwidert dieser lediglich: »Du gleichst dem Geist, den du begreifst,/ Nicht mir!« (V. 512 f.). Der Erdgeist sieht ihn nicht als ebenbürtig an und verschwindet wieder (Diekhans, Völkl, S. 23). Die Regieanweisung »zusammenstürzend« verdeutlicht, wie getroffen Faust von den Aussagen des Erdgeistes ist und ihm sein Mut genommen wurde. Faust sah sich vor der Begegnung als Ebenbild Gottes. Hier wird der Bezug zur Bibel hergestellt, in der steht, dass Gott den Menschen als sein Abbild schuf. Nun gleicht er, laut dem Erdgeist, nicht einmal diesem (Lübke, S. 18).

Nachdem der Erdgeist verschwindet, betritt Wagner das Studierzimmer. Er beginnt ein Gespräch mit Faust, das von der Vermittlung von Wissen handelt. Wagners Auftreten kann als retardierendes Moment gedeutet werden, denn sein Erscheinen verzögert Fausts Vorhaben, sich zu töten. Aus dem Gespräch wird deutlich, dass Wagner eine Kontrastfigur zu Faust darstellt. Beide vertreten verschiedene Ansichten in Bezug auf Bildung und deren Erwerb sowie Vermittlung. Wagner bezieht sein Wissen aus Büchern und hinterfragt die Richtigkeit des Niedergeschriebenen nicht. Er besitzt angelerntes Wissen und möchte nun von Faust erfahren, wie er dies bestmöglich weitergeben kann. Wagner möchte sich eine bessere Rhetorik aneignen. Faust hingegen vertritt den Standpunkt, dass Wissen dazu diene, Erkenntnisse zu erlangen. Wenn man dies verinnerlicht hat, dann verspüre man keinen Drang, sein Wissen kontinuierlich nach außen zu tragen. Wissen führt für Faust zu Erkenntnis und diese Erkenntnis erlangen nur Wenige. Er strebt nach mehr und vertritt Wagners Meinung, dass jeder Bildung erhalten sollte, nicht (Diekhans, Völkl, S. 23).

Zuerst ist Faust dankbar für das Gespräch mit Wagner. Wenig später holt ihn jedoch das Gefühl der Frustration über die fehlende Erkenntnis wieder ein. Seine Sehnsucht nach der Erkenntnis kann nicht befriedigt werden, was ihn stetig mehr einengt: »Der Trödel, der mit tausendfachem Tand,/ In dieser Mottenwelt mich dränget?« (V. 658 f.). Sein Dasein in seinem Studierzimmer, in dem er sein Leben dem Studium gewidmet hat, erachtet Faust als bedrängend und hinderlich. Daher erscheint ihm der Tod durch Gift als eine Möglichkeit, sich von seinem irdischen Dasein zu befreien und zu den Göttern aufzusteigen. Er sieht dies als Weg, seiner Erkenntnis näher zu kommen und geht dafür das Risiko ein, zu sterben. Er setzt die Schale mit Gift bereits an seinem Mund an, als er Glockenklänge hört (Diekhans, Völkl, S. 24 f.).

»Welch tiefes Summen, welch ein heller Ton,/ Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde?« (V. 742 f.). Der Glockenklang und der Chorgesang der Engel wecken in Faust Erinnerungen an seine unbeschwerte Kindheit und Jugend. »Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;/ Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind« (V. 765 f.). »Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,/ Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.« (V. 769 f.) Faust glaubt zwar nicht an den Auferstehungsgedanken des Christentums, jedoch weckt der Glockenklang Erinnerungen an glückliche Zeiten, die dazu führen, dass er den Gedanken an Selbstmord verwirft: »Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!« (V. 784). Faust erkennt, dass er alleine mit seinem irdischen Dasein nicht zu der gewünschten Erkenntnis kommen wird und beschließt, dennoch weiterzuleben. Die Glockenklänge und der Chorgesang stehen für den Einbruch des Frühlings und damit den Neuanfang (Diekhans, Völkl, S. 25 f.).

Die Szene »Vor dem Tor« ist geprägt von Liedern. Es wird der Eindruck von einer hohen Geräuschkulisse vermittelt. Dies spiegelt wider, dass der Winter nun vorbei ist und der Frühling bzw. Ostern einen Neuanfang einleitet. Magie spielt auch im Alltäglichen eine Rolle. Es gibt ein Gespräch zwischen einer Alten und einem Bürgermädchen, das die Alte als Hexe bezeichnet, da diese ihr mit Hilfe eines Kristalls ihren Traummann gezeigt hat. Hier wird Magie zur Partnerwahl verwendet, jedoch steht diese im Kontrast zu der Ernsthaftigkeit, die hinter Fausts Vorhaben steht, seine irdischen Begehren zu stillen (Diekhans, Völkl, S. 27).

Im Lied der Soldaten zeigen sich die Ziele der breiten Masse. Es handelt von Burgen, die erobert werden sollen. Schafft man dies, sind einem die Frauen gewiss. Es geht somit um das Streben nach materiellen Besitztümern und nicht wie bei Faust um das Streben nach Wissen. Das Lied der Soldaten kann auch als Vorausdeutung von Gretchens und Fausts Geschichte gesehen werden. Es geht darum, eine Burg zu erobern und sich mit den Mädchen dort zu vergnügen. Hat man das geschafft, zieht man weiter.

Faust beginnt nun, die Umgebung, besonders aber die Natur, zu beschreiben. Es ist nicht mehr kalt, denn »Vom Eise befreit sind Strom und Bäche/Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;/Im Tale grünet Hoffnungsglück [...]« (V. 903-905). Faust fühlt sich wieder lebendig. Der kalte Winter ist vorbei, die Menschen gehen wieder nach draußen und das Leben kehrt in die Stadt zurück. Mit dem Frühling kommt die Hoffnung, die Faust zuvor noch gefehlt hat. Er fühlt sich durch das Zusammenkommen der Menschen plötzlich lebendig: »Ich höre schon des Dorfs Getümmel« und »Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!« (V. 937; V. 940). Die »quetschende Enge« (V. 926) des Hauses wird durch das Licht abgelöst. Es ist wieder hell und die Sonne scheint, weshalb man sich nicht mehr ausschließlich drinnen aufhalten muss, sondern zusammen feiern und spazieren gehen kann.

Wagner steht im Kontrast dazu. Er fühlt sich von dem »Getümmel« (V. 937) vielmehr abgestoßen, da er sich als Angehöriger der gebildeten Schicht sieht. Das Lied der Bauern unter der Linde (V. 949-980) zeigt jedoch einen tieferen Sinn. Es thematisiert die Verführung eines unschuldigen, jungen Mädchens, das später belogen wird. Dies ist ebenfalls eine Vorausdeutung auf die Gretchentragödie, die durch Faust verursacht wird (Diekhans, Völkl, S. 27 f.). Es heißt in dem Lied: »Da stieß er an ein Mädchen an/Mit seinem Ellenbogen; Die frische Dirne kehrt sich um« (V. 958-960).

Danach lädt ein alter Bauer Faust ein, etwas mit ihm zu trinken. Dies macht er zu Ehren von Fausts Diensten in der Medizin während der Zeit der Pest. Faust jedoch kann das Lob nicht annehmen, da er weiß, dass sein Vater durch sein »Heilmittel« auch viele Menschen getötet hat. Wagner versteht Fausts Bedenken und Gewissensbisse nicht und sagt, dass Fausts Vater sein begrenztes Wissen bestmöglich genutzt habe. Indem er es an die nächste Generation, demnach Faust, weitergibt, könne das Wissen verbessert werden. Faust ist gegensätzlicher Meinung. Er ist nicht vom wissenschaftlichen Fortschrittsglauben überzeugt
(Diekhans, Völkl, S. 28 f.).

Als die Sonne langsam untergeht, gesteht Faust, dass er sich sehnt »ihr [der Sonne] ew’ges Licht zu trinken« (V. 1086). Damit drückt er aus, dass er sehnlichst Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und seines Daseins finden möchte. Da er aber ein Mensch ist, und damit irdisch gebunden, kann er nicht in diese Höhen aufsteigen. Wagner versteht das Streben nach mehr als dem Irdischen nicht. Er ist vollkommen zufrieden mit dem Wissen, das er aus Büchern erlangen kann. Es wird deutlich, dass der Zwiespalt, den Faust bereits in seinem Studierzimmer verspürt hat, trotz der neu gewonnenen Hoffnung noch immer da ist: »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust« (V. 1112). Damit ist zum einen das Festhalten an Materiellem, dem Sein gemeint und zum anderen das Streben nach Höherem, nach den Antworten, die Faust nicht findet. Daraus entsteht für ihn ein existenzieller Konflikt zwischen dem Wunsch nach menschlichen Bedürfnissen und dem Wunsch, sich aus der Begrenztheit seines Körpers lösen zu können (Diekhans, Völkl, S. 29 f.).

In der Dunkelheit erblicken Wagner und Faust einen Pudel. Faust bemerkt schnell, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Hund handelt: »Mir scheint es, dass er magisch leise Schlingen/Zu künft’gem Band um unsre Füße zieht.« (V. 1158 f.) Wagner nimmt dies nicht wahr: »Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel« (V. 1156). Faust deutet mit seiner Aussage schon voraus, dass er bald ein Band knüpfen wird, das sein Leben verändert. Wagner sieht die Welt lediglich mit seinem Buchwissen. Faust hingegen hinterfragt und sieht mehr, als das bloße Auge erkennt.

Diese Szene endet mit einem Ringschluss. Es war Tag und die Sonne schien, als Wagner und Faust ihren Spaziergang begonnen haben. Zum Ende der Szene ist wieder Nacht und das Licht der Sonne fehlt, als der Pudel auftaucht.

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.