Episches Theater
Episches Theater ist eine moderne Theaterform. Begründet wurde sie von Bertolt Brecht (1898–1956). Im epischen Theater wird der Zuschauer zu kritischem Mitdenken aufgefordert. Er soll sich nicht in das Stück einfühlen. Dafür werden unterschiedliche Verfremdungseffekte genutzt.
Übersicht:
Was ist episches Theater?
Das epische Theater wird fast ausschließlich mit Bertolt Brecht (1898–1956) in Verbindung gebracht. Brecht stellte ab Mitte der 1920er-Jahre eine eigene Dramentheorie auf. Sie hebt die strikte Trennung der Gattungen Epik und Dramatik auf. In Abgrenzung zu Aristoteles nimmt Brecht eine Verwischung der Gattungsgrenzen wahr. Das epische Theater wird deshalb auch als erzählendes Theater bezeichnet.
Zum Begriff Episches Theater
Der Begriff episches Theater verbindet zwei Hauptgattungen der Literatur, die Epik und die Dramatik. Der Begriff geht zurück auf eine programmatische Schrift von Bertolt Brecht (1898–1956) aus dem Jahr 1926.
Mit dem epischen Theater beginnt die Zeit des modernen Dramas. Episches Theater stellt die Welt als veränderbar dar. Es macht den Zuschauer zum kritischen Beobachter und zeigt ihm Handlungsmöglichkeiten auf. Damit wendet es sich von den Grundsätzen des klassischen (aristotelischen) Drama ab. Wesentlicher Bestandteil des epischen Theater ist die künstlerische Technik der Verfremdung.
In einer Gegenüberstellung mit dem Theater nach Aristoteles werden die Abweichungen und Besonderheiten des epischen Theaters deutlich:
Aristotelisches Theater | Episches Theater |
---|---|
Geschlossene Dramenform | Offene Dramenform |
Linearer und zwangsläufiger Handlungsverlauf | Sprünge und Wendungen im Handlungsverlauf |
Szenen bauen aufeinander auf | Szenen stehen als Episoden für sich allein |
Handelnd | Erzählend |
Zuschauer wird in die Handlung hineingezogen; Einfühlung des Zuschauers wird angestrebt | Zuschauer ist Beobachter, steht dem Geschehen distanziert gegenüber |
Erzeugung von Illusionen auf der Bühne | Durch Verfremdungseffekte wird eine Distanz des Zuschauers zum Bühnengeschehen erreicht |
Vom Zuschauer wird keine eigene Leistung erwartet | Zuschauer soll zum Nachdenken und Handeln gebracht werden |
Identifikation des Zuschauers mit den Figuren; er fiebert dem Ausgang des Stücks entgegen | Verfremdungseffekt verhindert die Identifizierung des Zuschauers mit den Figuren; Spannung ergibt sich aus dem Gang des Geschehens |
Mensch als Fixum: Er wird als unveränderlich betrachtet | Mensch als Prozess: Er kann verändert werden und kann die Welt verändern |
Appell an Gefühle | Appell an Gefühl und Verstand |
Zielgruppe ist die gebildete Oberschicht, die unterhalten werden soll | Zielgruppe ist das Proletariat, das zu politischem Denken und Handeln animiert werden soll |
Soll nur unterhalten | Soll unterhalten und gesellschaftliche und politische Veränderungen in Gang setzen |
Idealismus | Schicksalsglaube soll erschüttert werden, materialistisches Weltbild soll vermittelt werden |
Schauspieler sollen sich in ihre Rolle einfühlen | Schauspieler sollen sich nicht in ihre Rolle »einfühlen«; sie sollen die Figur und ihre Handlungen »zeigen« und dabei bewerten |
Kein Bezug zur Lebenswirklichkeit der Zuschauer | Bezug zum Alltag der Zuschauer |
Merkmale des epischen Theaters
Brecht nannte das epische Theater ein »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters«. Es appelliert an die Vernunft des Zuschauers und will die Gesellschaft verändern. Die Merkmale des epischen Theaters lassen sich nach Inhalt, Form und Sprache sowie beabsichtigter Wirkung ordnen.
Allgemeine Merkmale des epischen Theaters
- Zuschauer ist Beobachter und steht dem Geschehen distanziert gegenüber
- Zielgruppe ist das Proletariat, das zu politischem Denken und Handeln gebracht werden soll
- Theaterform setzt voraus, dass der Mensch verändert werden kann und die Welt verändern kann
Inhaltliche Merkmale des epischen Theaters
- Weltanschauungstheater mit Modellcharakter
- Keine Darstellung von tragischen Einzelschicksalen
- Behandlung großer gesellschaftlicher Themen wie Krieg, wirtschaftliche Probleme oder soziale Missstände
- Bezüge zum Alltag und zur Lebenswirklichkeit der Zuschauer
- Angestrebt wird die Verbesserung der Welt, nicht die eines einzelnen Menschen
Formale und sprachliche Merkmale des epischen Theaters
- Offene Dramenform, also Verzicht auf die fünf Akte des klassischen Dramas
- Sprünge und Wendungen im Handlungsverlauf
- Szenen stehen für sich allein und werden montiert
- Zahlreiche epische Elemente im Drama, beispielsweise ein Erzähler
- Schauspieler sollen sich nicht in ihre Rolle »einfühlen«; sie sollen die Figur und ihre Handlungen »zeigen« und dabei bewerten
- Spannung ergibt sich aus dem Gang des Geschehens
- Verfremdungseffekt verhindert die Identifizierung des Zuschauers mit den Figuren
Verfremdungseffekt oder V-Effekt
Episches Theater ist offen für verschiedenste Techniken und Kunstmittel. Verfremdung nennt man eine künstlerische Technik, bei der Gewohntes oder Bekanntes aus einer neuen und ungewohnten Perspektive gezeigt wird. Verfremdung basiert auf Gefühlen wie zum Beispiel Überraschung, Ablehnung oder Staunen.
Bertolt Brecht selbst äußerte sich in seinen Schriften zum Theater I, Frankfurt/M. 1963 zum Prinzip der Verfremdung:
»Verfremdung« sei, »dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen«.
Techniken der Verfremdung
- Erzählerkommentare zum Publikum
- Chorgesang (Nähe zur Oper)
- Prolog, Vorspiel, Epilog
- Montage verschiedener Arten und Formen von Text und Sprache:
- Wechsel zwischen Prosa und Vers
- Einschub von Songs und Liedern
- Verwendung bekannter Zitate in abgeänderter Form
- Schriftliche Texte auf Plakaten, Spruchbändern oder Transparenten
- Unterschiedliche Sprachebenen (Dialekte …
- Projektion von Bildern und Schriften
- Filmeinblendungen
Geschichtliche Entwicklung
Eine strikte Trennung zwischen Epik und Dramatik war schon vor Brecht infrage gestellt worden. Epische Elemente hatte es bereits im griechischen und ostasiatischen Drama gegeben. Auch im geistlichen Drama des Mittelalters sowie in Dramen zur Zeit Shakespeares wurden die Grenzen zwischen den Gattungen verwischt.
Als eigentliche Vorgänger von Brechts epischem Theater gelten unter anderem die Stücke von Georg Büchner (1813–1837), insbesondere der »Woyzeck«, sowie Dramen von Frank Wedekind (1864–1918), August Strindberg (1849–1912) und Henrik Ibsen (1828–1906). Der Einfluss des Naturalismus auf Bertolt Brechts Werk ist unverkennbar. Doch Brecht wollte mehr als die Wirklichkeit abbilden – er wollte die Welt verändern.
Der Erste Weltkrieg hatte zu großen sozialen und kulturellen Umbrüchen in der Gesellschaft geführt. In den 1920er Jahren entwickelten Erwin Piscator (1893–1966) und Bertolt Brecht das experimentelle Theater. Sie wandten sich ab von der illusionistischen Scheinwelt des klassischen Theaters.
Ab Mitte der 1920er Jahre verfasste Bertolt Brecht eine eigene Dramentheorie. Er führte unterschiedliche Elemente seiner Vorgänger (Erzähltexte, Songs, Kabaretteinlagen sowie Komik) zusammen. So entstand sein »marxitistisches Weltanschauungstheater«. Seit dem grandiosen Erfolg von »Mutter Courage und ihre Kinder« 1941 wird der Begriff des epischen Theaters fast ausschließlich für die Theaterstücke von Brecht verwendet.
Bekannte epische Theaterstücke von Bertolt Brecht
- »Die Dreigroschenoper« (1928)
- »Mutter Courage und ihre Kinder« (1941)
- »Der gute Mensch von Sezuan« (1943)
- »Der kaukasische Kreidekreis« (1948)
- »Herr Puntila und sein Knecht Matti« (1948)
- »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« (1959; verfasst 1933)