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Jugend ohne Gott

Aufbau des Werkes

Der Roman wird in chronologischer Reihenfolge und zum größten Teil aus der Perspektive eines personalen Ich-Erzählers, des Lehrers der Klasse, erzählt. Er setzt ein mit der Angabe »25. März« und erweckt daher den Eindruck einer schriftlichen Tagebuchaufzeichnung des Erzählers. Diese genauen Datumsangaben setzen sich im weiteren Verlauf des Romans jedoch nicht fort. Die Zeitangaben werden nur vereinzelt und unpräzise gegeben, beispielsweise für den Beginn des zehntägigen Zeltlagers die Zeitangabe »anschließend an das Osterfest« (31) oder für den Beginn des Prozesses »es ist Herbst geworden« (78). Für die erzählte Zeit des Romangeschehens lässt sich also ungefähr der Zeitraum vom 25. März (ohne Jahresangabe) bis zum Herbst annehmen.

Die Eingangs- und die Schlussszene des Romans bilden einen Rahmen der Erzählung. Im ersten wie im letzten Kapitel sitzt der Ich-Erzähler in seinem Untermietzimmer, hat einen Blumenstrauß von seiner Vermieterin erhalten (zunächst zum Geburtstag, dann zum Abschied) und einen Brief von seinen Eltern. Allerdings haben sich die Situation und die Stimmung des Ich-Erzählers inzwischen sehr verändert.

Die Erzählperspektive ist größtenteils auf den Blickwinkel des Lehrers beschränkt, seine Stimme erzählt den Fortgang der Geschichte. Allerdings wird sie immer wieder um andere Stimmen erweitert und die rein personale Perspektive damit aufgebrochen.

So besteht ein großer Teil der Handlung aus Dialogen, die der Lehrer mit anderen Personen führt oder deren Zeuge er wird. Hierzu zählen vor allem die Gespräche mit Julius Caesar und dem Pfarrer, aber auch mit dem Direktor, dem Feldwebel, mit Schüler T und Schüler B oder das belauschte Gespräch der Mädchen im Wald. Zudem finden Zeitungsinterviews Eingang in den Text, so vor Beginn des Mordprozesses, in denen beispielsweise das Interview mit dem Lehrer eine ganz andere Stimme und Ansicht zeigt als jene, die dem Leser aus der Innenperspektive des Lehrers sonst vertraut ist. Auch Briefe, wie den der Mutter von N an ihren Sohn und den Evas an Z sowie die Briefe der Eltern des Lehrers an den Lehrer zeigen andere Blickwinkel, Ansichten und berichten von Umständen, die der Lehrer sonst nicht erfahren hätte (beispielsweise das heimliche Treffen von Z und Eva nachts im Wald). Oder die Berichte des Klubs, der den Schüler T überwacht, um ihn als möglichen Täter zu überführen. Auch das Tagebuch von Z nimmt eine wichtige Bedeutung in der Betrachtung der Erzählperspektiven des Romans ein. Nicht nur erfährt der Lehrer erst hier die Geschichte Evas und ihre Bedeutung für Z, es erschließt sich hier für den Leser auch das erste Mal ungefiltert die Innenperspektive einer der Schüler in seinen Ansichten über das Zeltlager und den Alltag im totalitären Staat. Dieser Blickwinkel war bisher von den oft recht pauschalen Urteilen des Lehrers über die junge Generation überdeckt worden.

Der Roman besteht aus 44 unnummerierten Kapiteln, oft sind die einzelnen Kapitel nur sehr kurz. Ausnahmen davon bilden wenige Schlüsselkapitel, beispielsweise »Auf der Suche nach den Idealen der Menschheit« (das Gespräch zwischen Lehrer und Pfarrer) und »Adam und Eva«. Die Kapitelüberschriften tragen oft programmatische Titel, die auf ein wichtiges Detail, einen Gegenstand, ein Bild oder ein Leitmotiv des Kapitels hinweisen. Oft wird der Begriff aus der Überschrift dann noch einmal am Ende des Kapitels wiederholt, was den Eindruck von Dichte und Geschlossenheit in einer kurzen, konzentrierten Form verstärkt. Auch sind die Überschriften der Kapitel untereinander verbunden und lassen sich zu thematischen Gruppen ordnen. Sie greifen wichtige Leitmotive oder Zitate aus dem Inhalt der Kapitel wieder auf, oft werden auch Begriffe oder Sätze von einem Kapitelende am Beginn des nächsten Kapitels wiederholt, so dass der Eindruck einer Verbindung einzelner Kapitel zu größeren Einheiten entsteht (vgl. Schlemmer, S. 39).

Die Struktur des Romans lässt sich in vier große Handlungsabschnitte aufteilen, die jeweils eng mit einem Ort und einem Hauptgeschehen verbunden sind. »Alle vier großen Handlungsabschnitte sind in sich dramatisch gestaltet und treiben jeweils auf einen eigenen Höhepunkt zu« (Schlemmer, S. 19).

Erster Abschnitt, Kapitel 1-7 (S. 9-31): Umfasst  die Ereignisse in der Schule rund um den Konflikt des Lehrers mit N und seinen rassistischen Bemerkungen in seinem Aufsatz. Er endet mit der Beerdigung des kleinen W.

Zweiter Abschnitt, Kapitel 8-21 (S. 31-77): Hier ist der Handlungsort das Zeltlager nach Ostern. Der Höhepunkt ist der Mord an Schüler N. Der Abschnitt endet mit den Untersuchungen und Verhören zum Mord, bei denen dem Lehrer das erste Mal Gott erscheint.

Dritter Abschnitt, Kapitel 22-29 (S. 78-102): Dieser Abschnitt wird vom Gerichtsprozess einige Monate später im Herbst bestimmt. Den Höhepunkt dieses Abschnitts aber auch des gesamten Romans bildet die Aussage des Lehrers, bei der er ohne Rücksichten auf persönliche Nachteile die Wahrheit aussagt und damit den Beginn seiner persönlichen Wandlung wie auch die weitere Entwicklung des Prozesses anstößt.

Vierter Abschnitt, Kapitel 30-44 (S. 103-142): Er wird bestimmt von der Suche nach dem eigentlichen Täter und den Versuchen des Lehrers, diesen zu überführen und dauert, nach den Berichten des Klubs zu urteilen, ungefähr acht bis zehn Tage. Er endet nach dem Selbstmord des Schülers T mit den Reisevorbereitungen des Lehrers vor seiner Abreise nach Afrika.

Trotz seiner Kürze und der scheinbaren sprachlichen Schlichtheit, weist die Form des Romans eine große Komplexität auf.

So ist zwischen zwei Erzählebenen, einer Reflexionsebene und einer Handlungsebene, zu unterscheiden, die beide hauptsächlich aus Perspektive des Ich-Erzählers dargestellt werden. Oft lösen Ereignisse auf der Handlungsebene, die vom Erzähler berichtet werden, seine inneren Überlegungen auf der Reflexionsebene aus. Im Laufe des Romans wird die Verknüpfung zwischen beiden Ebenen immer enger und auch der Wechsel zwischen ihnen geschieht immer schneller.

Auf der inneren Reflexionsebene denkt der Erzähler beispielsweise kritisch über das Verhalten und die Werte der Jugend nach und übt oft auch recht vernichtende Kritik an seinen Schülern. Oder er kommentiert, ausgelöst von Erlebnissen wie dem Gespräch mit dem Bäckermeister N oder der Beobachtung des Fahnenumzugs zum »Geburtstag des Oberplebejers«, die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage. 

Auf der Handlungsebene lässt sich neben den äußeren Geschehnissen noch eine »Ebene der inneren Handlung« (Schlemmer, S. 34) unterscheiden. Auf dieser wird vom Erzähler von »inneren Erlebnissen« berichtet, die über Gedanken und Reflexionen hinausgehen, aber dennoch nur dem Erzähler und keiner der anderen Figuren bekannt sind. Hierzu zählen die dreimaligen Gotteserscheinungen, in denen der Erzähler Gott selbst zu sehen meint oder seine Stimme hört oder seine Augen sieht (im Zeltlager bei den Verhören durch die Mordkommission, im Tabakladen, beim Verhör der Mutter Ts nach dessen Selbstmord). Aber auch seine »Träume« wie der nächtliche »Ball der Werte« während der Nachtwache (S. 54) oder das Auftreten von N als »Gespenst« fallen in dieses innere Handlungsgeschehen.

Auch sprachlich wird zwischen diesen beiden Erzählebenen unterschieden. So findet häufig ein Wechsel der Tempusform statt, wenn der Erzähler zwischen den beiden Ebenen hin und her springt. Die äußere Handlungsebene wird meist im Präteritum wiedergegeben, bei der inneren Handlungsebene und vor allem auf der Reflexionsebene dominiert das Präsens. Zwischen beiden Erzählebenen springt der Erzähler in raschem Wechsel hin und her, so dass oft innerhalb eines Absatzes mehrere Tempusformen auftreten. Der Wechsel vom Präteritum ins Präsens dient dabei oft einer »Vergegenwärtigung des Geschehens« (Schlemmer, S. 43). Dies nimmt im Laufe des Romans noch zu, wobei vor allem in der zweiten Romanhälfte das Präsens dominiert (vgl. Schlemmer S. 43).

So kann man von einem »erinnernd-berichtendem Ich« sprechen, das auf der Handlungsebene berichtet und einem »erlebenden Ich«, das ausgehend von den Ereignissen im Außen dann im Inneren Reflexionen anstellt und die beide im personalen Ich-Erzähler vereinigt sind: »Das erlebende Ich sieht und erlebt die Welt aus seiner ganz persönlichen Sicht, das beobachtende Ich berichtet im Rückblick das Erlebte« (Schlemmer, S. 41). Zwischen beiden besteht eine Distanz, die vor allem in der gespaltenen Haltung des Ich-Erzählers im ersten Teil des Romans begründet liegt. Äußerlich noch ein angepasster Mitläufer, übt er im Inneren schon starke Kritik an Gesellschaft und Staat und fühlt sich entfremdet, findet jedoch nicht den Mut, gemäß dieser Haltung zu leben oder Konsequenzen daraus zu ziehen.

Dieses »Wechselspiel von Bericht und Darstellung«, das eine »verlebendigende Wirkung« hat, wenn das berichtende Ich vom Präteritum zum erlebenden Ich ins Präsens springt, ist auch an der Schlussszene des Romans erkennbar:

    1. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren gegen mich niedergeschlagen, und der Z ist schon frei. Ich packe meine Koffer. [...]
    1. Pack alles ein, vergiß nichts!
    1. Laß nur nichts da! (106)

Das Ich distanziert sich hier gewissermaßen von sich selbst (vgl. Steets in Krischke, S. 113-115).

Neben den beiden Erzählebenen lassen sich im Roman drei Handlungsstrukturen unterscheiden, auf denen diese Erzählebenen verlaufen und die zum Teil den gesamten Roman durchziehen oder auch nur einzelne Teile stärker prägen. Sie sind alle miteinander verbunden und im Mittelpunkt steht die Figur des Lehrers, bei dem alles zusammenläuft.

Hier ist zum einen die Struktur des Detektivromans zu nennen, der vor allem die Handlungsabschnitte ab dem Mord an Schüler N bestimmt. Wie für diese Textgattung typisch, sind die Höhepunkte dieser Struktur neben dem Mord die Überführung des Mörders.

Daneben gibt es eine religiöse Handlungsstruktur, die den Weg des Erzählers zurück zu Gott und seine persönlichen Wandlungen auf diesem Weg und ihre Konsequenzen für sein Denken und Handeln in den Mittelpunkt stellt. Beginn dieser Struktur ist das Gespräch mit dem Pfarrer, bei dem der Lehrer zum ersten Mal den Verlust seines Glaubens thematisiert. Sie zieht sich von da an durch den gesamten Roman. Ein Wendepunkt ist das Kapitel »In der Wohnung«, in der die Stimme Gottes dem Lehrer befiehlt, im Prozess die Wahrheit zu sagen, der Höhepunkt im vorletzten Kapitel, »Die anderen Augen«, der mit der Entlarvung des Mörders zusammenfällt und bei dem der Lehrer Gott als »die Wahrheit« erkennt (vgl. 141). Beide Strukturen, die religiöse Struktur und die Kriminalstruktur sind eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig.

Als drittes kommt noch eine sozialkritisch-politische Handlungsstruktur hinzu, die den gesamten Roman durchzieht, jedoch eher als Kritik am neuen, gesellschaftlich-politischen Zeitgeist durch den Gegensatz des Lehrers zum totalitär-faschistischen Staat. Daneben auch punktuell bei der Beleuchtung einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder Themen, wie beispielsweise der Familien der Schüler, der armen Heimkinder im Dorf, den Lebensverhältnissen von Eva. Außerdem spielen hier auch die Darstellung der Rolle der Frau in der Gesellschaft und der Gegensatz von altem und neuem Frauenbild eine Rolle.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.