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Jugend ohne Gott

Kapitel 27 + 28: »Das Kästchen« oder »Vertrieben aus dem Paradies«

Zusammenfassung

Als nächster Zeuge wird der Lehrer aufgerufen. Während seiner Aussage wird Eva in den Saal geführt. Er hat immer noch den Wunsch, ihre Augen sehen zu können, muss das aber auf später verschieben.

Er charakterisiert kurz seine beiden Schüler Z und N, die er vor Gericht beide positiv beurteilt und bemerkt, dass der Gerichtspräsident die vom Bäckermeister N vorgebrachten Vorwürfe gegen ihn nicht negativ wertet.

Als seine Vernehmung schon fast abgeschlossen ist, gesteht der Lehrer unvermittelt und unerwartet, dass er es war, der das Kästchen aufgebrochen habe, womit er große Aufregung im Saal auslöst. Dennoch fühlt er sich nun auf einmal sehr erleichtert und ruhig und erzählt dem Gericht nun die ganze Geschichte, auch seine eigene Scham und Feigheit, aus der er so lange geschwiegen habe.

Sogleich wird er auf die Konsequenzen seines Geständnisses hingewiesen, das ihm eine Anklage wegen »Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung« (96) einbringen könnte.
Der Bäckermeister N wirft dem Lehrer vor, alleine Schuld am Tod seines Sohnes zu sein und erleidet vor Aufregung einen Herzanfall, während die Mutter von N dem Lehrer droht, er solle sich vor Gott fürchten. Doch nun merkt der Lehrer, dass er sich gar nicht mehr vor Gott fürchtet. Er spürt außerdem die allgemeine Ablehnung um ihn herum, von der nur Eva eine Ausnahme macht. Nun sieht er auch endlich ihre Augen, sie erinnern ihn an eine dunkle Herbstlandschaft in seiner Heimat.
Bei ihrer Vernehmung gibt Eva an, nun nach dem Vorbild des Lehrers ebenfalls die Wahrheit sagen zu wollen. Sie bestätigt, dass sie mit dabei war, als N und Z sich in der Nähe der Höhle ihrer Räuberbande trafen und auf einem Felsen rauften. Dabei warf N Z den Felsen hinunter, Eva dachte, er sei tot. Daher, und weil sie annahm, dass er aus seiner Lektüre des Tagebuchs alles über sie wisse, wollte sie ihn mit einem Stein erschlagen, als plötzlich ein fremder Junge aus dem Gebüsch kam, ihr den Stein abnahm und damit N hinterher rannte. Sie habe beide aus einem Versteck heraus beobachtet, gesehen, wie sie miteinander redeten und dann weitergingen, bevor Z dem N auf einmal hinterrücks den Stein auf den Kopf geschlagen habe. Ihr sei aufgefallen, dass der fremde Junge sich über den zusammengebrochenen N beugte und ihn beobachtete und ihn dann in einen Graben schleifte. Er habe Eva nicht bemerkt, sie habe danach den unversehrten Z am Felsen wiedergetroffen.

Z ist von Evas Aussage völlig überrascht, bestätigt aber das von ihr Gesagte. Er hatte die Schuld auf sich nehmen wollen, um Eva zu schützen, da er dachte, sie hätte N erschlagen und glaubte ihren Angaben nicht, dass ein anderer, fremder Junge der Mörder war.

Eva wiederholt noch einmal, dass sie nur die Wahrheit gesagt habe, da auch der Lehrer die Wahrheit gestanden hat. Sonst hätte sie geschwiegen, auch wenn sie damit riskiert hätte, dass Z unschuldig als Mörder verurteilt worden wäre. Sie gibt auch zu, dass sie Z nie geliebt habe. Sein Opfer, die Schuld auf sich zu nehmen und sich unschuldig für sie verurteilen zu lassen, wäre also umsonst gewesen. Der Lehrer ahnt schon, dass Z das Mädchen bald hassen wird.

Analyse

Vor der entscheidenden Aussage des Lehrers im Prozess erblickt er Eva im Gerichtssaal, die sofort wieder seine Gedanken bestimmt. Noch immer spürt er den Wunsch »ihre Augen zu sehen« (94), also mit ihr auch in eine persönliche Beziehung zu treten.

Das völlig unvermutete, freiwillige Geständnis des Lehrers, dass er es war, der das Kästchen mit dem Tagebuch aufgebrochen hat, bildet den Höhepunkt des dritten Handlungsabschnittes und markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Struktur des Romans. Der Lehrer kommt hier der Aufforderung der Stimme Gottes nach, die Wahrheit zu erzählen, um weiteres Unrecht, also beispielsweise die Verurteilung eines Unschuldigen, zu verhindern. Er gesteht dabei alles, also auch seine Scham und Feigheit, aus der heraus er nicht gleich im Zeltlager die Wahrheit offenbarte. Und auch, dass er selbst gottgleich für Gerechtigkeit sorgen wollte, statt dies den Gerichten zu überlassen und dass er heimlich das Liebespaar beobachtete, ohne einzugreifen und mit ihnen zu sprechen.

Die Folgen dieser unerwarteten Aussage für die äußere Handlung des Gerichtsprozesses und die innere Handlung der Wandlung des Lehrers werden sogleich sichtbar und spürbar. So sorgt die Aussage für große Unruhe im Saal und heftige Reaktionen unter den Zuhörern. Der Vater des ermordeten Schülers N gibt ihm nun die alleinige Schuld am Tod seines Sohnes und erleidet gar einen Herzanfall. Und die juristischen Folgen sind mit der Androhung einer »Anklage wegen Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung« (96) sofort spürbar.
Doch der Lehrer fühlt sich mit einem Mal ganz ruhig und leicht. Er hat nun ein reines Gewissen und fürchtet sich auch nicht mehr vor Gott, wie die Gattin des Bäckermeister es ihm drohend empfiehlt (vgl. ebd.). Er ist nun in Frieden mit sich selbst, da er nicht mehr gegen die Stimme seines Gewissens lebt, sondern in innerem und äußerem Einklang mit ihr und kann daher auch Frieden mit Gott machen, dessen Stimme er gefolgt ist:

    Das Verhältnis des Lehrers hat sich gewandelt: von seinem Unglauben über den Glauben an einen schrecklichen, strafenden Gott hin zum Glauben an Gott als eine Instanz, die wahrhaftiges Handeln fordert, um zumindest von der Seite der Wahrhaftigen aus ein friedliches menschliches Zusammenleben zu ermöglichen. (Kaul/Pahmeier, S. 55)

Nun kann der Lehrer auch endlich die Augen Evas sehen, was er sich schon seit längerer Zeit gewünscht hatte und was dem Augen-Motiv des Romans eine neue Wendung gibt; dieses Motiv findet nun eine positive Darstellung. Mit der herbstlichen Seenlandschaft seiner Heimat evozieren sie zum einen Geborgenheit, Erinnerung an seine Kindheit, in ihnen schwingt aber auch die Melancholie des Abschieds im Herbst wieder, was auf seinen Abschied seiner körperlichen Faszination für Eva deuten lässt: »Eva, bist du schon der Herbst?« (96)

Das nächste Kapitel ist für den Fortgang des Prozesses und damit die Kriminalhandlung des Romans von ebenso großer Bedeutung wie die Aussage des Lehrers. Es steht ganz im Zeichen des Aussage Evas und beide Zeugenaussagen sind eng miteinander verknüpft. Eva möchte sich ein Beispiel am Lehrer nehmen und ebenfalls die Wahrheit sagen. Am Ende wird sie sogar sagen, dass sie nur aufgrund seines Mutes ebenfalls die Kraft zum Bekenntnis zur Wahrheit gefunden habe, was für ihr Leben ebenso gravierende Konsequenzen hat, da sie mit einer Anklage wegen Mordes rechnen muss. So zeigen sich noch weitere positive und für den weiteren Handlungsverlauf entscheidende Wandlungen, die durch das Zurückfinden des Lehrers zur Stimme seines Gewissens ausgelöst wurden.

Die Überschrift des Kapitels »Vertrieben aus dem Paradies« nimmt mit der erneuten Anspielung auf die Bibel Bezug auf das frühere Kapitel »Adam und Eva«. Eva vertreibt Z mit ihrem Geständnis, ihn nie geliebt zu haben, aus dem Paradies ihrer Liebe, aber sie befreit ihn auch. Zum einen von der Liebe zu ihr und zum andern von dem Gefühl, sie beschützen und für sie die Schuld für einen Mord auf sich nehmen zu müssen.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.