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Jugend ohne Gott

Kapitel 29 + 30: »Der Fisch« oder »Er beißt nicht an«

Zusammenfassung

Das Gericht glaubt Eva nicht, die einen Unbekannten als Täter angibt, doch der Lehrer horcht auf, als er ihre Beschreibung des Jungen hört. Sie gibt an, dass er mit seinen runden, hellen Augen wie ein Fisch ausgesehen habe. Er muss an das von Julius Caesar vorausgesagte Zeitalter der Fische denken und hat sofort seinen Schüler T vor Augen.

Er erinnert sich wieder, wie er sich von ihm bereits beim Begräbnis beobachtet gefühlt hatte, später dann im Zeltlager. Und er fragt sich, ob T bereits gewusst hatte, dass er das Kästchen aufgebrochen hatte, ob er vielleicht das Tagebuch selbst gelesen und allen hinterherspioniert hatte? Trotz all dieser Verdachtsmomente macht der Lehrer im Gericht keine Aussage, da er kein Motiv für die Täterschaft von T angeben könnte.

Auf dem Rückweg vom Gericht hat der Lehrer klar vor Augen, was als nächstes passieren wird. Der Schüler Z wird freigesprochen, das Mädchen stattdessen verurteilt werden. Und er wird vom Lehramt suspendiert, eine Untersuchung wegen Irreführung der Behörde und Diebstahlsbegünstigung wird eingeleitet. Aber dennoch macht sich der Lehrer deshalb keine Sorgen. Er hat auch nicht mehr das Bedürfnis, sich abzulenken oder zu betrinken; er kann jetzt ohne Angst nach Hause gehen. Und so fragt sich der Erzähler, ob Gott jetzt wohl auch bei ihm wohne.

Bereits in der Morgenzeitung bestätigen sich seine Befürchtungen; zwar wurde Z nur zu einer kleinen Freiheitsstrafe verurteilt, doch gegen Eva wird nun Anklage wegen heimtückischen Mordes erhoben. Niemand schenkt ihren Aussagen Glauben. In drei Monaten soll der neue Prozess stattfinden. Auch Z wendete sich noch im Gericht von Eva ab und reichte ihr nicht einmal mehr die Hand.

Der Lehrer glaubt an Evas Unschuld, er nimmt sich vor, den wahren Täter zu fangen, um ihr zu helfen und um ihre Schreie in Gedanken nicht mehr hören zu müssen. Durch seine Aussage vor Gericht ist er nun von allen isoliert; keiner steht auf seiner Seite, die Zeitungen verleumden ihn als »Diebshelfer« und »geistige[n] Mörder« (103), selbst seine Vermieterin verhält sich ihm gegenüber scheu.

Da er bereits ein Schreiben von der Aufsichtsbehörde erhalten hat, das ihm das Betreten des Gymnasiums für die Dauer der Untersuchung verbietet, passt er den Schüler T, den er nun in Gedanken immer den »Fisch« nennt, vor der Schule ab. Er lädt ihn in ein Eiscafè ein, um mit ihm über den Mordprozess zu sprechen. T sagt ihm, dass er an Evas Schuld glaube und die These vom fremden Jungen als Täter nur für eine Lüge von ihr hält.

Er gibt zu, im Zeltlager spioniert und vieles beobachtet zu haben, so auch die nächtliche Szene, bei der der Lehrer Z und Eva nachts heimlich in den Wald gefolgt war. Es war sein Gesicht, in das der Lehrer bei seiner Rückkehr im Wald aus Versehen gefasst hatte, da er direkt hinter ihm gestanden hatte. T erinnert den Lehrer an einen Jäger, der dann kaltblütig schießt, wenn er weiß, dass er auch sicher trifft, allerdings ist immer noch sein Motiv nicht klar.

T bemerkt, dass der Lehrer ihn für den wahren Täter hält, entgegnet ihm jedoch, dass dieser ja Fischaugen haben soll, er selbst ja aber »Rehaugen« (105) habe. Er unterstellt dagegen dem Lehrer, selbst Fischaugen zu haben und sagt ihm auch, dass sein Spitzname in der Schule »der Fisch« (ebd.) sei, da er immer ein unbewegliches und emotionsloses Gesicht habe und nur beobachte, ohne selbst etwas dabei zu empfinden. Dabei unterbricht sich T jedoch erschrocken selbst und spricht nicht weiter.

Der Lehrer bemerkt, dass der »Fisch« schon fast angebissen hätte. Noch ist er ihm entkommen, er hat sich aber bereits verraten und er nimmt sich fest vor, ihn zu überführen, auch um sein schlechtes Gewissen Eva gegenüber zu beruhigen.

Analyse

Das weitere Verhör Evas bringt einen entscheidenden Hinweis auf den wahren Täter, der zu diesem Zeitpunkt aber nur für den Lehrer verständlich ist. Ihre Beschreibung: »Ich erinner mich nur, er hatte helle, runde Augen. Wie ein Fisch« (100), lässt beim Lehrer sofort die Assoziation zum »Zeitalter der Fische» entstehen, das Julius Caesar vorhergesagt hatte und in dem »die Seele des Menschen unbeweglich [wird], wie das Antlitz eines Fisches« (ebd.). Und vor seinen Augen verbindet sich diese Beschreibung und das vorhergesagte kalte Zeitalter mit dem Bild des Schülers T, der ihn sowohl beim Begräbnis des W wie auch im Zeltlager nach dem Aufbrechen des Kästchens mit eben diesen hellen runden Augen ohne Gefühlsausdruck angestarrt hat. Für ihn ist das der entscheidende Hinweis, nachdem sich alle Puzzlestücke des Falls in seinem Kopf verbinden. Auch das ständige Spionieren und Beobachten Ts findet hier seinen Platz, denn so könnte er viel mehr über die Hintergründe gewusst haben, beispielsweise über die Schuld des Lehrers, oder sogar selbst das Tagebuch gelesen haben. Er weiß nun, dass T der Täter ist.
An dieser entscheidenden Stelle des Romans findet wieder eine Verknüpfung wichtiger Motive statt; das Augenmotiv verbindet sich mit dem Fischmotiv, beides zusammen mit dem Motiv der Kälte, die generell kennzeichnend für die neue Generation ist und für die sie umgebende Gesellschaft. »Die assoziative Verbindung zwischen Fisch und Mensch ist ein unbeweglicher, starrer Ausdruck der Augen, der beim Menschen an eine emotionale Kälte der Seele, ja sogar an völlige Emotionslosigkeit denken lässt« (Kaul/Pahmeier, S. 58).

Nach seiner Aussage und dem Verlassen des Gerichts beginnt der Lehrer die tiefgreifende Wandlung zu spüren, die sein Entschluss, die Wahrheit zu sagen und auf die Stimme Gottes bzw. seines eigenen Gewissens zu hören, in ihm ausgelöst hat. Er ist mit sich im Reinen. Bisher war er immer von der Sorge getrieben, seine Existenz sichern zu müssen, dazu die Existenz seiner Eltern, und hatte dem Ziel, seine sichere Stellung als Beamter zu erhalten, jegliches andere Bestreben untergeordnet, auch zum Preis einer opportunistischen Selbstverleugnung. Nun, wo seine schlimmsten Befürchtungen mit dem sich abzeichnenden Verlust seines Lehramtes wegen der Anklage der »Irreführung der Behörden und Diebstahlsbegünstigung« (101) eingetreten ist, bemerkt er selbst: »Komisch, ich habe keine Sorgen« (ebd.). Auch Ablenkung durch Unterhaltung in Bars und eine Flucht in den Alkohol braucht er jetzt nicht mehr, die Angst vor der Ruhe und Einsamkeit ist verschwunden, er fühlt sich nicht mehr alleine, denn er fragt sich hoffnungsvoll, ob Gott jetzt auch bei ihm wohne, wie bei dem alten Ehepaar im Tabakladen, da er jetzt in seelischem Frieden und Wahrhaftigkeit lebt.

Im nächsten Kapitel wird die Perspektive des Ich-Erzählers erneut durch andere Stimmen aufgebrochen, die durch die Zeitungslektüre des Lehrers über den Prozess eingeblendet werden. Wie bereits erwartet und befürchtet, steht nun Eva unter Mordanklage, da ihrer Version über den wahren Täter kein Glaube geschenkt wurde. Auch die vom Erzähler bereits vorausgesehene Entzweiung mit ihrem ehemaligen Geliebten Z ist bereits eingetreten.

In den Zeitungszitaten wird ein weiteres Mal die Entlarvung der totalitären Ideologie durch die Menschenfeindlichkeit, die in ihrer Sprache aufscheint, deutlich. So wird Eva vom Gerichtssaalberichterstatter als »verkommenes Geschöpf« (102) bezeichnet. Mit dieser entwürdigenden Bezeichnung wird Eva automatisch jegliche Glaubwürdigkeit abgesprochen und sie wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Ihre Aussage wird als »Geschrei« (ebd.) beschrieben, eine weitere Entwertung ihrer Person.
Der Lehrer wendet sich Eva in einem inneren Monolog zu und verspricht ihr, den »Fisch« als wahren Täter zu fangen. Er schenkt ihr als einziges Glauben und will ihr helfen, sich von der ungerechtfertigten Anklage zu entlasten.

Dieses Versprechen und die daraufhin beginnenden Überlegungen des Lehrers, wie er den wahren Täter überführen könnte, markieren den Beginn des vierten, abschließenden Handlungsabschnitts des Romans. Sie werden bestimmt von der Ermittlungsarbeit des Lehrers und an ihrem Ende steht die Auflösung des Mordfalls.

Auch zeichnet sich in diesem Versprechen die innere Wandlung des Lehrers in Bezug auf seine Mitmenschen, vor allem auf Eva, ab. Sein rein körperliches Interesse verwandelt sich in mitfühlende Fürsorge und Hilfsbereitschaft. Statt um das Fortkommen der eigenen Person ist sein Handeln nun auf das Wohl anderer ausgerichtet und der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet (vgl. Kaul/Pahmeier). Dabei befindet sich der Lehrer zunächst in einer isolierten Position, denn die Zeitungen bezeichnen ihn als »Diebshelfer« und geistige[n] Mörder« und er scheint niemanden an seiner Seite zu haben (vgl. 103). Da er den »Fisch« vor allem auch deshalb fangen will, um Eva nicht mehr schreien zu hören, wird klar, dass auch sein eigenes schlechtes Gewissen, sein Bewusstsein der Schuld auslösend sind für seine Ermittlungsarbeiten. Sie sind Teil der Sühne, die er nach dem Willen Gottes nun auf sich nehmen muss. Die Schreie Evas werden den Lehrer seine ganze Untersuchung hindurch begleiten.

Bei seinem ersten Ermittlungsschritt, einem Gespräch mit Schüler T in der Absicht, ihn zu überführen, zeigt sich dieser vor allem von seiner hochmütigen, selbstsicheren Seite und zeigt wie gewohnt keine Emotionen. Auch bei der für den Lehrer erschreckenden Erkenntnis, dass es sein Gesicht war, in das er nachts im Wald nach der Beobachtung des Liebespaares N und Eva fasste, zeigt er keine Regung. Vielmehr scheint er seine Umwelt immer nur zu beobachten, nur manchmal wirft er dem Lehrer »einen lauernden Blick« zu, »als würde er etwas registrieren« (104).

T versucht schließlich, die Situation umzudrehen, um sich aus der für den Lehrer offensichtlichen Verdachtslinie als Täter zu bringen. So projiziert er viele Eigenschaften, die ihn in den Augen des Lehrers charakterisieren und verdächtig machen, auf den Lehrer selbst. Er bestreitet, selbst »Fischaugen« zu haben und spricht von seinen »Rehaugen«. Der Lehrer selbst sei in den Augen der Klasse der »Fisch«, dies sei sogar sein Spitzname, »weil Sie nämlich immer so ein unbewegliches Gesicht haben. Man weiß nie, was sie denken und ob Sie sich überhaupt um einen kümmern« (105). Tatsächlich erscheint der Lehrer vor allem im ersten Teil des Romans oft als unbeteiligter Beobachter, der seine Schüler in Gedanken pauschal verurteilt und sie sogar durch die Reduktion ihrer Namen auf den bloßen Anfangsbuchstaben entindividualisiert. An ihrer Person ist er dagegen nicht interessiert. Auch tritt er in mehreren Situationen als, ebenso wie T, spionierender heimlicher Beobachter auf; beispielsweise beim belauschten Gespräch der Mädchen im Wald, beim Lesen des Tagebuchs und bei der nächtlichen Beobachtung des Liebespaares Eva und Z im Wald. T wird in diesen Ausführungen und vor dem Hintergrund der Eigenschaften des Lehrers fast zu einer Spiegelfigur, einer Art »Doppelgänger« des Lehrers, eine »Projektion seiner bösen, zu bestrafenden Ich-Anteile« (Schröder, in Krischke, S. 134-136).
Dennoch ist zu bemerken, dass beim Lehrer im Gegensatz zu T immer eine emotionale Verbundenheit mit der Situation besteht. Sein Ziel ist nicht die kalte wissenschaftliche Neugier des »Fisches«. So will er mit dem Tagebuch den Diebstählen im Lager auf die Schliche kommen und Schlimmeres für Eva und Z verhindern. Bei der Beobachtung der nächtlichen Szene ist er emotional durch sein körperliches Interesse an Eva involviert. Und nicht zuletzt weist die Figur des Lehrers eine Wandlungsfähigkeit auf, die T nicht hat.

T zeigt schließlich zumindest einmal eine kurze Gefühlsregung, als er die vermeintliche Kälte und den sezierenden Blick des Lehrers so genau beschreibt, dass die Projektion eigener Gedanken und Wünsche in die Szene überdeutlich wird. Hier erschrickt er, da er sich damit fast verraten hätte.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.