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Jugend ohne Gott

Kapitel 5 + 6: »Die Pest« und »Das Zeitalter der Fische«

Zusammenfassung

Der Gedanke daran, von seinen Schülern bespitzelt zu werden und ihrem Hass und Vernichtungswillen ausgesetzt zu sein, verfolgt den Lehrer auch nach Schulende noch und bestimmt seine Gedanken. Das Kapitel ist daher von den Reflexionen des Lehrers über die Generation seiner Schüler geprägt, zu der er eine große Distanz und Entfremdung fühlt. Er erkennt eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Generationen.

Die junge Generation beschreibt er dabei als grausam, patriotisch und unmenschlich, ohne Bildung, ja sogar das »Denken ist ihnen verhaßt« (21). Sie lehnen nicht nur alles ab, was für den Lehrer eine große Bedeutung hat, ja sie kennen es gar nicht und wollen es auch nicht kennenlernen. Sie haben keine anderen Werte oder Träume, als jene, in einen neuen Krieg zu ziehen und dort für das Vaterland zu sterben. Diese Opferbereitschaft der Jugend lehnt der Lehrer vor allem deshalb ab, weil es bei der Unterstützung des aktuellen totalitären Regimes nicht um eine »gerechte Sache« (ebd.) geht, sondern um Unrecht und Verbrechen, die nur deshalb nicht mehr so genannt werden, weil sie dem eigenen Volk dienen und daher Recht statt Unrecht seien. Daher werden diese Verbrechen, aus Sicht des Lehrers, auch gar nicht mehr versteckt, sondern stolz verkündet.

Erneut vergleicht der Lehrer auch die aktuelle politische Situation mit dem Kampf zwischen Plebejern und Patriziern im alten Rom und zeigt am Beispiel des als Hochverräter zum Tode verurteilten Manlius Capitolinus, wie damals und im aktuellen Regime mit Abweichlern verfahren wird.

Der Lehrer bezeichnet die gesellschaftliche Situation im aktuellen totalitären Staat als »Pest« (22) und beschreibt auch sich selbst und seine Seele bereits als schwach und von der Krankheit infiziert. Er übernimmt das unmenschliche Weltbild und die gewalttätige Terminologie des Regimes, wenn er seinen Vertretern in Gedanken den Tod wünscht und ist sich dessen auch bewusst.

Um sich von diesen Gedanken abzulenken, geht der Ich-Erzähler in ein Café, trifft dort aber niemanden, den er kennt. Er zieht weiter ins Kino, ist aber dort in der »Wochenschau« wieder mit der aktuellen politischen Realität konfrontiert, so dass er schließlich noch in eine Bar geht, wo ihm ein »Fräulein« Gesellschaft anbietet, die er aber ablehnt.

Der Lehrer betrinkt sich weiter alleine und führt zunehmend wirrer werdende innere Monologe über den Sinn und Unsinn seiner Existenz und die Schlechtigkeit des Menschen. Schließlich trifft er einen ehemaligen Kollegen und alten Bekannten, den aufgrund einer Affäre mit einer minderjährigen Schülerin vom Dienst suspendierten ehemaligen Lateinlehrer mit dem Spitznamen Julius Caesar. Er war aufgrund seines Vergehens im Gefängnis und hält sich seit seiner Entlassung als Hausierer über Wasser. Er ist schon rein äußerlich eine skurrile Figur, die einen kleinen Totenkopf als Krawattennadel trägt, der mit einer Glühbirne erleuchtet werden kann. Aus Sicht des Lehrers ist er eine »gestrandete Existenz« (24). Julius Caesar selbst sieht sich jedoch als befreit von gesellschaftlichen Konventionen, da er nichts mehr zu erhoffen und daher einen freieren Blick auf die Veränderungen der Generationen hat.

Julius Caesar ist mit 60 Jahren fast doppelt so alt wie der Lehrer, daher sind es drei Generationen, über die er und der Lehrer an diesem Abend diskutieren. Aus Sicht des Altphilologen wird die Grundprägung eines Menschen in der Pubertät gelegt und hier vor allem bei den Männern in ihrem Verhältnis zu den Frauen. Er stellt die These auf, dass die Unterschiede zwischen den Generationen vor allem darin begründet liegen. Für seine Generation, die den Ersten Weltkrieg aktiv mitgemacht hat, waren die Frauen noch ein unerreichbares Ideal, während für die Generation des Lehrers, der während des Krieges noch ein Jugendlicher war, die Frauen sehr viel nahbarer waren, da nicht mehr viele Männer im zivilen Leben waren. Sie haben die Frauen daher nicht mehr als unerreichbares Ideal wahrgenommen. Und, so die These Julius Caesars, »das Unglück der heutigen Jugend« (26), der Grund für ihre befremdliche Andersartigkeit im Gegensatz zu den vorhergehenden Generationen, liege in ihrer unterschiedlichen oder gar nicht mehr erlebten Pubertät begründet. Denn heute gebe es gar keine richtigen Frauen mehr, die die heute Vierzehnjährigen anhimmeln oder erobern könnten, stattdessen nur noch »lernende, rudernde, gymnastiktreibende, marschierende Ungeheuer« (ebd.).

Zudem sieht auch er die junge Generation unter dem ständigen Einfluß der Propaganda des Staates, beispielsweise durch das Radio und in ihren Gefühlen für die ideologischen Zwecke des Staates missbraucht. Um gute Noten in der Schule zu erhalten, müssten sie nur die Propaganda aus dem Radio wiedergeben.
Der Lehrer stimmt diesem einseitigen Blick auf die Generationen nicht zu, bezeichnet Julius Caesar sogar als »Erotomane[n]« (25).

Der Altphilologe berichtet zwar auch von einzelnen Jugendlichen, die aus der Reihe fallen und zumindest heimlich verbotene Bücher lesen (beispielsweise das nihilistische Werk »Über die Würde des menschlichen Lebens«), doch nimmt er an, dass sie dies nur tun, um dann das Gelesene verspotten zu können, also weiterhin in Unwissenheit und Dummheit verharren. Julius Caesar prophezeit abschließend den Anbruch von »kalte[n] Zeiten« eines »Zeitalter[s] der Fische« (26), in dem auch die menschliche Seele so kalt und emotionslos wie das Antlitz eines Fisches wird. (vgl. ebd.)

Schließlich erwacht der Ich-Erzähler am nächsten Morgen, ohne sich an den Vorabend zu erinnern, in einem fremden Zimmer neben einer ihm unbekannten Frau, mit der er wohl die Nacht verbracht hat.

Analyse

Das folgende Kapitel ist bestimmt von den Reflexionen des Lehrers, der sich mit der Gedankenwelt seiner Schüler auseinandersetzt, die er nun in ihrem Hass und ihrer Ablehnung in größtmöglicher Distanz wahrnimmt. In seiner Analyse betrachtet er es vor allem als ein Problem der Generationen, als eine ihm unüberbrückbar scheinende Kluft zwischen seiner älteren Generation, die noch den alten, christlich-humanistischen Werten anhängt, und der jungen Generation, die keinerlei moralische Werte mehr hat und den Traum des Aufgehens der eigenen Individualität im Ideal einer überhöhten Nation träumt, für die sie sich in einem Krieg opfern will: »Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät« (21). Vor allem ihre absolute Geistfeindlichkeit, in der ihnen alles Denken verhasst ist, scheint ihm den größten Gegensatz zur eigenen Generation zu bilden. Auch die eigentliche Tugend, die sich in der Opferbereitschaft der Jugend im Dienst einer höheren Sache zeigt, wertet er keineswegs als positiv, da es ja hier nur um eigene nationale Interessen auf Kosten anderer geht, nur das, »was der eigenen Sippschaft frommt«, steht im Vordergrund, auch wenn sich dahinter nur Verbrechen verbergen. Auch in diesem Vokabular zeigt sich ein klarer Anklang an den NS-Jargon.
»Der Lehrer betrachtet seine Schüler als Mitglieder einer ignoranten, verbrecherischen, patriotischen Generation, der Denken und Mitmenschlichkeit verhasst sind« (Kaul/Pahmeier, S. 19). Wie sich später beispielsweise am Klub des Schülers B zeigt, sind dies aber zu einseitige Verurteilungen des Lehrers.

Die Metapher der titelgebenden »Pest«, die an dieser Stelle im Kapitel wieder aufgegriffen wird, nutzt der Lehrer, um damit die wie eine Krankheit um sich greifende faschistische Ideologie zu beschreiben, die die ganze Gesellschaft befallen habe. Im bewussten Eingeständnis seines Mitläufertums sieht er auch sich selbst schon verseucht: »Auch meine Seele ist schon schwach« (22).
Diese Bildsprache zeigt auch den problematischen, ambivalenten Charakter des Lehrers auf. Zwar hat er die Gefahren der totalitären Ideologie erkannt und lehnt sich innerlich gegen sie auf, indem er ihr seine eigenen humanistischen Ideale entgegensetzt. Jedoch ist er selbst bereits so sehr Teil des Systems und unter dem Einfluss der Terminologie und Denkweise der faschistischen Diktatur, dass er beispielsweise die für den NS-Jargon charakteristischen Vergleiche von gesellschaftlichen Zuständen oder Menschen mit Krankheiten übernimmt (vgl. Kaul/Pahmeier, S. 20). So entlastet der Lehrer sich auch von der eigenen Verantwortung, da eine Krankheit wie die Pest den Menschen meist ohne eigenes Verschulden, und ohne Möglichkeit der Gegenwehr, befällt.
Auch in seinem eigenen Denken, mit dem er hofft, dass möglichst viele oder gar alle »von denen draufgehen mögen« (22), zeigt sich eine Beeinflussung durch die menschenverachtende Terminologie und Denkweise des Nationalsozialismus: »Die Pest-Metapher verunklart politische Geschehnisse und Verantwortlichkeiten, pauschalisiert und trägt selbst zur Entmenschlichung bei« (Kaul/Pahmeier, S. 20).
Die Wochenschau im Kino, in das der Erzähler schließlich flüchtet und in der die »reichen Plebejer« auftreten, ist auch ein klarer Hinweis auf den NS-Staat, der seine Propaganda neben Radio und Zeitungen auch über die Wochenschau verbreitete.

Mit Julius Caesar trifft der Erzähler in der Bar eine der Außenseiterfiguren des Romans, die eine der wenigen Vertrauten des Lehrers sind und die schließlich zum Kreis seiner Helfer bei der Aufklärung des Mordes werden. Julius Caesar wird schon durch den Gegensatz seines Spitznamens nach einem römischen Kaiser und seiner heruntergekommen »gestrandeten Existenz« als skurrile Figur eingeführt. Der illuminierte Totenkopf, den er als Krawattennadel trägt, passt in dieses Bild, kann aber auch als Mahnung vor dem Tod und als Hinweis auf das Totenkopfabzeichen der SS verstanden werden.

Das Kapitel wird bestimmt von den Überlegungen Julius Caesars zum Zustand der Jugend und den Gründen, warum sie so anders sind als seine oder die Generation des Lehrers. Seiner Ansicht nach ist die prägendste Phase im Leben eines Menschen (bzw. eines Mannes) die Pubertät. Ein Grund für die Unverständlichkeit der jungen Generation für die älteren Generationen ist aus seiner Sicht das sich verwandelnde Frauenbild. Es gebe heute keine »wahrhaften Frauen« mehr, die die Jungen verehren oder erobern könnten sondern nur noch »lernende, rudernde, gymnastiktreibende, marschierende Ungeheuer« (26). Aus Sicht des Lehrers ist dies eine einseitige Weltdeutung, die »die ganze Schöpfung aus einem geschlechtlichen Winkel heraus betrachte[t]« (26). Dennoch ist auch der Lehrer vor diesem verunglimpfenden Frauenbild nicht gefeit, wie sich an seinen Wertungen der Frauenfiguren im Zeltlager später zeigt.

Julius Caesar erkennt aber auch, dass die Jugend stark unter dem Einfluss der ideologischen Propaganda steht, die vor allem durch das Radio verbreitet wird. An seiner abwertenden Sprache für die massenwirksamen Aufzüge des Regimes als »Popanz« und das »zusammenblödelnde« Radio wird seine ablehnende Haltung gegenüber dem Regime deutlich. Als Außenseiter der Gesellschaft, »der nichts mehr zu erhoffen hat«, nimmt er daher auch für sich in Anspruch, »mit freiem Blick den Wandel der Generationen unbestechlich [zu begreifen]« (ebd., S. 25).
Seine »pessimistische Analyse der gegenwärtigen psychischen und moralischen Verfassung der Jugend«, fasst er schließlich in der Metapher vom heraufziehenden »Zeitalter der Fische zusammen [...]« (Schlemmer, S. 1): »Da wird die Seele des Menschen unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches« (27). Julius Caesar deutet damit das ursprünglich christliche Symbol des Fisches um; es wird im Laufe des Romans zu einer Metapher für die emotionale Abgestumpftheit und Kälte der jungen Generation, die einer unmenschlichen Ideologie ausgesetzt ist.
Julius Caesar sieht hier eine

    emotional kalte, entindividualisierte Generation heranwachsen, ohne geistige Ideale und menschliche Werte. Das Zeitalter der Fische wird dadurch auch zum Symbol für die nationalsozialistische Ära. (Tworek, Kommentar zu 185)

Dies weist auf den Schüler und späteren Mörder T hin, der alle diese Eigenschaften in sich vereinigt und auf die Welt nur noch mit einem kalten, beobachtenden und sezierenden Blick schaut, ohne dass sie Emotionen in ihm auslöst.

Das Aufwachen des Lehrers am nächsten Morgen nach diesem Gespräch neben einer fremden Frau, in einer fremden Wohnung, zeigt seine eigene Vereinsamung und Vereinzelung.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.