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Jugend ohne Gott

Kapitel 41 + 42: »Das Gespenst« oder »Das Reh«

Zusammenfassung

Nachdem er das Lokal verlassen hat, will der Lehrer eigentlich nur noch nach Hause und schlafen, doch er wird den Gedanken an N nicht mehr los. Immer wieder hört er dessen Stimme, die ihn an seine Mitschuld an dem Mord an ihm erinnert. Er hatte ihn damals auch um Hilfe gebeten, da er ja unschuldig am Aufbrechen des Kästchens war, doch der Lehrer hatte eine andere Rechnung mit Gott zu begleichen, statt ihm zu helfen.

Als er das nächste Mal die Stimme Ns hört, erinnert ihn dieser an eine Geschichtsstunde über das Mittelalter, in der der Lehrer davon erzählte, dass der Henker den Verbrecher vor der Hinrichtung immer um Verzeihung bitten musste dafür, dass er ihm nun Leid antun müsse, »denn eine Schuld kann nur durch Schuld getilgt werden«. (133). Er fragt sich, ob er selbst wohl der Henker Ts sei und ihn nun um Verzeihung bitten müsse?

Schließlich will der Lehrer fliehen vor der Stimme Ns und vor seinen eigenen Gedanken und Vorwürfen, doch er steht vor ihm, er kommt nicht durch ihn hindurch und, obwohl er keine Augen hat, lässt er ihn nicht aus den Augen. Die Stimme Ns fragt ihn, warum er eigentlich immer nur an sich selbst denke. Denn auch wenn er jetzt in Gedanken immer nur mit dem Fisch beschäftigt sei, so seien er und der Fisch ja doch ein und dasselbe. Der Henker und der Mörder würden, so N in jenem Moment, wenn die Schuld des einen durch die Schuld des anderen getilgt wird, eins werden und ineinander aufgehen.

Außerdem wirft N dem Lehrer vor, dass er langsam Mitleid mit T bekomme und ihn daher vielleicht noch im letzten Moment entkommen lasse. Vielmehr solle er an ihn, N, denken und auch an seine Mutter. Eigentlich wolle er den Fisch ja auch gar nicht für ihn, das Mordopfer, fangen, sondern nur wegen des Mädchens Eva, die er aber auch schon vergessen habe.

Tatsächlich wird dem Lehrer nun klar, dass er schon länger nicht mehr an Eva gedacht hatte und auch kaum mehr weiß, wie sie aussieht, welche Haarfarbe sie hat. Auch kennt er sie ja kaum. Er erinnert sich nur noch an Eva im Gerichtssaal, die ihm zunickte, bevor sie mit ihrem Geständnis der Wahrheit begann. Seit diesem Moment fühlt er, dass er sich um sie kümmern müsse. Doch N wendet an dieser Stelle ein, dass Eva doch gar nicht solche Augen habe, wie der Lehrer sie an ihr gesehen haben will und sich an sie erinnert. Vielmehr habe sie »kleine, verschmitzte, unruhige [Augen] [...], richtige Diebsaugen!« (135) N schließt daraus, dass die Augen, die der Lehrer bei dem Mädchen gesehen haben will, eigentlich nicht ihre waren, sondern »andere Augen« (ebd.).
Mitten in der Nacht erscheint die Kriminalpolizei im Haus des Lehrers und nimmt ihn mit, ohne ihm den Grund oder das Ziel ihrer Fahrt zu nennen. Nachdem sie das vornehme Villenviertel der Stadt erreicht haben und über die Endstation hinausfahren, weiß der Lehrer, dass sie zur Villa der Familie von T unterwegs sind. Hier sind schon viele Menschen versammelt, die alle auf den Lehrer zu warten scheinen und ihn feindselig ansehen.

Im Verhör wird der Lehrer zunächst gefragt, warum er am Tag zuvor in der Villa war und die Mutter von T sprechen wollte. Die daneben sitzende, elegant gekleidete Mutter Ts sieht ihn dabei hasserfüllt an und beginnt, nachdem er seinen Verdacht gegen T als Grund seines Besuchs angegeben hat, ihn sofort laut schreiend zu beschuldigen, ihren Sohn in den Tod getrieben zu haben.

Erst jetzt erfährt der Lehrer, dass der Schüler T sich das Leben genommen hat. Er hat sich im Park des Anwesens in der Nähe eines Grabens erhängt und zuvor einen abgerissenen Zettel auf dem Toilettentisch hinterlassen, auf dem er dem Lehrer die Schuld gab, ihn in den Tod getrieben zu haben. Der abgerissene Zettel wirkt auf den Lehrer so, als habe T eigentlich noch mehr geschrieben.

Beim Anblick der schönen, teuer und elegant gekleideten Mutter Ts kommt dem Lehrer der Gedanke, dass sie sicher noch nie Armut und Hunger kennengelernt hat. Und dass sie auch in dieser Situation nicht weinen kann. Ihre Augen jedoch sind die gleichen hellen, runden Fischaugen wie die ihres Sohnes, dabei hatte ihm dieser gesagt, dass sie beide Rehaugen hätten. In Gedanken droht er der Mutter, dem Reh, dass er es auch erwischen und im Winter zurück in den verschneiten Wald treiben werde.

Analyse

In der Nacht wird der Erzähler vom Gespenst Ns, das heißt von seinen immer um den ermordeten N kreisenden Gedanken, heimgesucht. Sein schlechtes Gewissen erinnert ihn an seine Mitschuld an der Ermordung des Schülers. Der sprachliche Parallelismus: »Die Stunden gehen, die Wunden stehen«, der durch die gegensätzlichen Verben »gehen«/ »stehen« (130) noch eine zusätzliche Intensivierung erhält, weist auf seine bleibenden Schuldgefühle hin.
Inmitten der ganzen Beschäftigung mit dem Täter hat er das Opfer des Mordes ganz vergessen und seine eigene Rolle dabei verdrängt. Sein Geständnis vor Gericht hat ihn nicht von seinen Schuldgefühlen befreit, zumal N ihn vor seinem Tod noch um Hilfe gebeten hatte. Diese hatte er ihm damals auch zugesagt, dann aber entschieden, sich selbst durch seinen freien Willen zu einer Art Gott zu machen, die Dinge und das Schicksal der Menschen selbst zu beeinflussen und Gott damit einen Strich durch die Rechnung zu machen (vgl. 67).

Das »Gespenst« Ns bringt nun auch die Frage auf, inwiefern sich der Lehrer, indem er den wahren Täter überführt, diesem damit Leid zufügt und damit auch wieder Schuld auf sich lädt. Er wird damit in den Worten Ns zum »Henker« des überführten Mörders. Dessen »Schuld kann nur durch Schuld getilgt werden« (133). Dies deutet auch schon auf das Ende des Romans hin, wo das Geständnis des Mörders T nach seinem Selbstmord genau diesen Vorwurf enthält: »Der Lehrer trieb mich in den Tod« (138). Der Selbstmord Ts findet genau an diesem Abend statt, an dem der Lehrer mit dem Gespenst des ermordeten N die Schuldfragen erörtert. So fragt sich der Lehrer dann auch, ob er etwa der Henker Ts sei und ihn um Verzeihung bitten müsse.
»Durch diesen Gedankengang wird die Frage aufgeworfen, inwiefern Gerechtigkeit Gewalt ausübt und inwiefern diese Gewalt nötig ist. Auf diese Frage deutet auch die wiederholte Metapher des Fischfangens hin« (Kaul/Pahmeier, S. 72).

Auch N wiederholt, dass der »Fisch« und der Lehrer in ihrer unauflöslichen Verbundenheit als Mörder und Henker eigentlich »ein und dasselbe« seien (134). Dies weist wieder auf T und den Lehrer als Spiegelfiguren hin, was schon beim Gespräch der beiden im Eiscafé anklang, als T seine Eigenschaften als »Fisch« auf den Lehrer projizierte (vgl. 105).

Den weiteren Vorwürfen Ns, er denke nur an den Fisch, den er eigentlich für Eva fangen wolle, obwohl er sie gar nicht kenne und auch schon vergessen habe, muss der Lehrer zustimmen. Dies lässt auch darauf schließen, dass die neue Bereitschaft des Lehrers, anderen Menschen zu helfen, und seine Fähigkeit, Mitgefühl mit ihnen zu empfinden, langsam von Eva entkoppelt wird, sich nicht mehr nur auf sie bezieht und vor allem nicht mehr in Zusammenhang mit ihren körperlichen Reizen steht. So erinnert er sich in einem inneren Monolog, der sein Gespräch mit N unterbricht, nicht einmal mehr genau an ihr Äußeres, weiß auch nicht mehr, welche Haarfarbe sie hat (vgl. 135). »Ich weiß nur noch: wie sie mir zunickte, bevor sie die Wahrheit sagte, aber da fühlte ich, ich muß für sie da sein« (135).

Zum Schluss wird auch hier noch einmal das Augenmotiv aufgeführt, in dem N sagt, dass Eva doch gar nicht solche Augen hätte (die der herbstlichen Seenlandschaft, die den Lehrer an seine Kindheit erinnern), wie er sie an ihr im Gericht zu sehen gemeint hatte, vielmehr habe sie »richtige Diebsaugen« (ebd.). Die Augen, die er also an ihr gesehen hatte, seien »andere Augen« (ebd.) gewesen. Dieses Motiv der »anderen« Augen taucht noch einmal auf, als der Lehrer im Blick der Mutter von T nach deren Geständnis wieder die Augen der herbstlichen Seenlandschaft wahrnimmt, die er auch bei Eva gesehen hat, und bemerkt, dass es nicht die Augen der Mutter sind, die ihn so ansehen. Hier sind es die Augen Gottes, die so »zu uns« reinschauen (141). So lassen sich also auch in Evas »anderen Augen« die Augen Gottes vermuten, das Augenmotiv und das Gottesmotiv, das ihn zur Erkenntnis, »Gott ist die Wahrheit« (141) bringt, verbinden sich also hier.

Nach dem Selbstmord Ts, der den Lehrer in seinen Abschiedsworten bezichtigt, ihn in den Tod getrieben zu haben, erfährt der Lehrer von der Mutter Ts denselben Hass und dieselben Vorwürfe der alleinigen Schuld am Tod des Sohnes wie vom Bäckermeister N im Prozeß um den Tod seines Sohnes.

Auffällig ist die Ähnlichkeit in der äußeren Beschreibung von Augen und Blick der Mutter Ts und ihres Sohnes; auch die Mutter hat die auffälligen »hellen, runden Augen« und den »fast höhnischen Blick«, die den »Fisch« auszeichneten (139). Und auch die Mutter ist durch emotionale Kälte geprägt; auch beim Tod ihres einzigen Sohnes kann sie nicht weinen. Schon zuvor war ja ihre mangelnde Wärme und Fürsorge für ihren Sohn offenbar geworden.

Das Augenmotiv wird nun noch ergänzt; zum Motiv der Fischaugen treten die »Rehaugen«, die T in seinem Gespräch mit dem Lehrer schon erwähnte. »Die Fisch- und Rehaugen stehen für Schuld und Unschuld: die kalten Fischaugen für Kaltblütigkeit und Schuld, die Rehaugen für Scheu und Unschuld« (Kaul/Pahmeier, S. 73).

Das Motiv des Rehs aus der Kapitelüberschrift wird am Ende des Kapitels noch einmal wiederholt; im inneren Monolog des Erzählers droht er dem »Reh«, das für Ts Mutter steht, die ihm bisher immer ausgewichen ist, es im Winter zurückzudrängen in den Wald, wo es im Schnee und Eis verhungern und erfrieren werde. Diese Drohung zeigt: »Die Suche des Lehrers nach Gerechtigkeit ist nicht frei von Gewalt« (ebd., S. 74). Dies wird auch schon zuvor bei der Metaphorik des Fischfangens und dem Netz, in das der Fisch geraten soll, offenbar. Hier zeigen sich auch in der sprachlich mitschwingenden Gewalt die Auswirkungen der totalitären Gesellschaft.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.