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Jugend ohne Gott

Kapitel 3 + 4: »Die reichen Plebejer« und »Das Brot«

Zusammenfassung

In der Geographiestunde gibt der Lehrer den Schülern die Aufsätze zur Thematik der Kolonien zurück und hält sich dabei daran, vorschriftsgemäß den Inhalt nicht zu kritisieren. Nur beim Aufsatz von N kann er sich nicht zurückhalten und weist ihn zumindest mündlich zurecht, indem er sagt, dass auch die »Neger« Menschen seien und er daher nicht schreiben dürfe, dass es nicht darauf ankomme, ob sie leben könnten oder nicht. Zwar entgegnet der Schüler darauf nichts, der Lehrer fürchtet allerdings schon jetzt Konsequenzen seiner Bemerkung.

So erscheint bereits am nächsten Tag der Vater des Schülers N, Bäckermeister N, in der Sprechstunde des Lehrers. Und während der Lehrer bei manch anderem Vater das Gefühl hat, dass er seine kritische Meinung über die rassistischen und systemkonformen Aufsätze der Söhne teilt, so wirft ihm der Vater Ns aufgrund seiner Bemerkung über die Menschenwürde schwarzer Menschen »Sabotage am Vaterland« vor. Er droht mit ernsthaften Konsequenzen für diese »Humanitätsduselei« sowie einer Beschwerde beim Schuldirektor (16/17).

Der Lehrer lässt sich davon nicht beeindrucken und wirft ihn schließlich aus seinem Büro, wird jedoch zwei Tage später tatsächlich zum Direktor vorgeladen. Dieser äußert zwar Verständnis für seine Bemerkung, weist ihn jedoch darauf hin, die offiziellen Anordnungen zu befolgen, vor allem ein geheimes Rundschreiben, das die moralische Erziehung der Jugend zum Krieg vorsieht.

Zwar ist der Direktor selbst eigentlich Pazifist, er hat sich jedoch zu einer opportunistischen Haltung entschieden, um keine beruflichen Nachteile zu haben und seine vollen Pensionsansprüche nicht zu gefährden. Dies gibt er dem Lehrer gegenüber auch ganz offen zu und spricht von einer »plebejischen Welt«, in der sie lebten (18). Der Lehrer stimmt ihm zu und vergleicht das aktuelle Regime mit den »reichen Plebejern«, die im alten Rom zusammen mit den Patriziern die Macht über das Volk übernommen hatten. Auch in der aktuellen Gesellschaft herrscht seiner Meinung nach nur das Geld.

In der nächsten Unterrichtsstunde überreicht die Klasse dem Lehrer einen Brief, in dem sie sich aufgrund seiner Bemerkung geschlossen gegen ihn als Klassenlehrer ausspricht und eine andere Lehrkraft fordert. Außerdem bemerkt er, dass sie ihn bespitzeln und seine Worte mitschreiben, um sie gegen ihn zu verwenden.

In dieser Situation will der Lehrer aufgeben und bittet beim Direktor um eine andere Klasse. Dieser verweigert dies jedoch mit Verweis darauf, dass auch dort die Jugendlichen ganz ähnlich seien. Er weist die Klasse mit scharfen Worten zurecht, der Lehrer muss sie weiterhin unterrichten.

Er fühlt sich nun jedoch zunehmend dem Hass der Schüler ausgesetzt, von ihnen verfolgt und in seiner Existenz bedroht. Mit Bezug auf seine Bemerkung über die Menschenwürde schwarzer Menschen, die sie ihm nicht verzeihen, spricht er nun seinerseits den rassistischen Schülern das Menschsein ab, jedoch nur innerlich und in Gedanken. Sein Widerstand ist daher nur ein stiller, innerlicher, äußerlich beschließt er, sich anzupassen, nicht mehr aufzufallen und den Schülern auch nicht mehr zu widersprechen, um sie von ihren vorgefassten, menschenfeindlichen Meinungen abzubringen.

Analyse

In diesem Kapitel spitzt sich der innere Konflikt des Lehrers zwischen seinem Gewissen und dem äußeren Druck zur Anpassung an das totalitäre Regime zu und findet einen ersten Höhepunkt, der für den weiteren Verlauf der Geschichte prägend wird.
Bereits vor der Rückgabe der korrigierten Aufsätze wiederholt der Lehrer für sich, dass man »gegen den Inhalt der Aufsätze vorschriftsgemäß nichts einzuwenden hatte« (14). Wie auch schon das von der Aufsichtsbehörde vorgegebene Thema: »Warum müssen wir Kolonien haben?«, weist diese Bemerkung auf die Eingriffe des totalitären Regimes in die Institution Schule und damit in die ideologische Erziehung der Jugend hin.

Die Tatsache, dass der Lehrer zwar im Aufsatz keine Korrekturen vorgenommen hat, sich aber nun die kritische Anmerkung zu Schüler N, dass er nicht schreiben dürfe, es komme nicht darauf an, ob »die Neger« leben können oder nicht, da auch sie ja Menschen seien, nicht verkneifen kann, bringt ihn in die erste offene Opposition zum herrschenden Zeitgeist. Dies kann für ihn gefährliche Konsequenzen haben, was sich an der prompt folgenden Beschwerde des Vaters von N und der Vorladung zum Direktor zeigt. Auch die bereits zuvor spürbare Distanz zwischen dem Lehrer und seinen Schülern wird nun zur völligen Entfremdung und bekommt für den Lehrer einen bedrohlichen Charakter. Wie sich später zeigt, trägt der Lehrer seit diesem Vorfall selbst den Spitznamen »der Neger«. So wird das zunächst konkret gebrauchte Wort »Neger« schon hier zu einer Metapher für alle Außenseiter, die von der totalitären Staatsmacht ausgegrenzt oder sogar verfolgt werden.

Das folgende Gespräch des Lehrers mit dem Vater von N, dem Bäckermeister N, ist die erste wirkliche Konfrontation des nur vordergründig angepassten Lehrers mit einem überzeugten Vertreter der neuen faschistischen Ideologie. Das geht aus dem selbstsicheren, herrischen Auftreten des Bäckermeisters hervor, vor allem aber aus dessen Ausdrucksweise. So überhöht er die eigentlich rein humanistische Aussage des Lehrers von der Menschenwürde schwarzer Menschen zur »Sabotage am Vaterland« und »Humanitätsduselei« und droht ihm »schwerwiegende Folgen« an (16). Hier wird die Gefahr spürbar, in die sich in diesem totalitären System alle Menschen begeben, die abweichende Meinungen äußern oder nicht der geforderten Konformität entsprechen.

Die Charakterisierung des Bäckermeisters als überzeugter Regimeanhänger zeigt sich auch sprachlich. Er wiederholt nicht nur eben jene »hohlen Phrasen« und Parolen, die die Staatsideologie vorgibt, sondern benutzt auch jenen gestelzten »Bildungsjargon« mit dem Horváth häufig die Figuren der biederen Kleinbürger charakterisiert. So beginnt er den Satz mit »mein Hiersein hat den Grund…« (16), was der Lehrer später ironisierend wiederholt. Hinter der Fassade der scheinbaren Bildung, mit dem Bäckermeister N in seine Rede komplexe Satzkonstruktion, Fremdwörter, literarische oder lateinische Zitate einbaut, steht eine nur vorgespiegelte Bildung. Eigentlich lauert hinter der vorgeblichen Kultiviertheit ein rassistisches Gemüt, »voller Hass auf Andersdenkende« (Kaul/Pahmeier, S. 99), wie hier bei dem braven Bürger N. So ruft der Bäckermeister dem Lehrer noch das als Drohung gedachte Zitat: »Bei Philippi sehen wir uns wieder!« (17), hinterher, womit er in Anspielung auf Shakespeares Stück »Julius Caesar« auf die noch bevorstehende Schlacht hinweist.

Im Gespräch mit dem Direktor wird dann deutlich, das hinter dem Zusammentreffen mit dem Bäckermeister der sehr viel bedrohlichere Staatsapparat steht, der in geheimen Rundschreiben konkrete Anweisungen zur Erziehung der Jugend zum Krieg (vgl. 15) gibt. Der Direktor macht offenbar, dass auch er den Konflikt des Lehrers zwischen Anpassung und Widerstand kennt. Er ist damit eine Art Spiegelfigur des Lehrers, allerdings hat er sich bereits für den Weg des angepassten Mitläufers aus opportunistischen Motiven entschieden. Der Lehrer wird dagegen im Laufe des Romans eine Wandlung und Entwicklung durchmachen.

Der Direktor bemüht den Vergleich des Aufstiegs der Plebejer, der römischen Bürgerschaft im antiken Rom, im Kampf mit den privilegierten Patriziern, um eine Parallele zur eigenen Zeit zu ziehen. So wie damals im alten Rom steige jetzt die Schicht des Būrgertums im neuen totalitären Staat auf und komme an die Macht. Er passt sich diesem Zeitgeist an und gibt damit die moralische Verantwortung für seinen Opportunismus ab. Aus seiner Sicht ist es sinnlos, etwas gegen diesen vorgegebenen Gang der Geschichte zu unternehmen. Hinter dem Begriff der Plebejer steht bei Horváth immer ein Hinweis auf die Nationalsozialisten, wie auch am später gefeierten »Geburtstag des Oberplebejers« offenkundig wird. Diesen Begriff nutzte der Autor immer für Adolf Hitler. (Vgl. Tworek, Kommentar zu 184/193.)

Im nächsten Kapitel erreicht die Entfremdung des Lehrers mit seiner Klasse dann eine neue Stufe; nun bricht mit dem von allen Schülern unterzeichneten Brief, mit dem sie die Absetzung des Lehrers fordern, eine offene Revolte der Schüler gegen den Lehrer aus. Auch zeigt die Tatsache, dass die Schüler den Lehrer nun bespitzeln, alle seine Worte mitschreiben, um so belastendes Material gegen ihn zu sammeln, erneut die Geisteshaltung der Schüler. Sie haben die Ideologie des Regimes so sehr verinnerlicht, dass sie freiwillig zu Spitzeln und Denunzianten werden.

Der Lehrer, der sich gehasst, verfolgt und in seiner Existenz bedroht sieht, reagiert seinerseits mit pauschaler Verurteilung seiner Schüler: »Ihr seid keine Menschen, nein!« (20) Es kommt hier auch von seiner Seite zu einer »simplifizierenden Verurteilung [...] der Schüler«, die er »politisch dämonisiert« (Tworek, Kommentar zu 147). Auch der Direktor weiß sich keinen anderen Rat, als die Schüler zusammenzubrüllen. Auch daran zeigt sich, dass die Institution Schule in diesem Regime versagt, da auch eigentlich liberale und humanistisch eingestellte Menschen wie der Direktor und der Lehrer nicht mehr in der Lage sind, der Brutalität der staatlichen Indoktrinierung noch etwas anders als Gewalt entgegenzusetzen und die Schüler so keinerlei andere geistige Orientierung erhalten.

So ist auch die Konsequenz des Lehrers aus dem Vorfall ein vollkommener Rückzug ins Innere bei aufrecht erhaltener äußerer Anpassung. Bei der rassistischen Vorstellung, dass seine Schüler »von den Negern geröstet« (vgl. 20) werden, zeigt sich, dass auch der Lehrer nicht frei von aggressivem und rassistischem Gedankengut ist.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.