Skip to main content

Jugend ohne Gott

Kapitel 9 + 10: »Die marschierende Venus« und »Unkraut«

Zusammenfassung

Am nächsten Morgen beginnt der vormilitärische Drill der Jungen. Als er sie in Reih und Glied antreten lässt, fällt dem Lehrer auf, wie schwer sich der Schüler Z einreihen lässt. N bezeichnet ihn deshalb als Idioten, wird aber vom Feldwebel dafür gerügt. Erneut bemerkt der Lehrer den hasserfüllten Blick des Schülers N ihm gegenüber.

Während das Schülerregiment in den Wald marschiert, bleibt der Lehrer mit zwei Schülern zum Küchendienst im Lager zurück.

Sie sehen eine Gruppe Mädchen, ebenfalls in militärischer Ordnung und Soldatenlieder singend, am Lager vorbeiziehen, die im nahen Schloß stationiert sind. Der Lehrer nimmt die Mädchen aufgrund ihres schmutzigen und ungepflegten Äußeren als unweiblichen und unerfreulichen Anblick wahr und bezeichnet sie in Gedanken als »Tiere« (37). Ihre Lehrerin erklärt ihm jedoch, dass sie »Amazonen« (ebd.) seien, die mehr Wert auf Leistung als auf Äußerlichkeiten legten.

Auch bei den Aktivitäten der Mädchen ist die Kriegsvorbereitung überall präsent, da sie das neue »wehrsportliche Spiel« »Verschollenen-Flieger-suchen« (vgl. ebd.) spielen. Die Lehrerin bedauert ausdrücklich, dass Frauen nicht an die Front kommen.
Dem Lehrer fallen vor allem die vom vielen Marschieren kurzen und dicken Beine auf und er kann sich für »keine rucksacktragende Venus« (ebd.) begeistern.

Während eines Spaziergangs außerhalb des Lagers durch idyllische Natur wird der Lehrer Zeuge eines brutalen Raubüberfalls. Drei Jugendliche, darunter zwei etwa dreizehnjährige Jungen und ein etwa zwei Jahre älteres Mädchen, locken eine alte blinde Bäuerin aus ihrem Haus und stehlen ihr eine Vase und einen Laib Brot. Als die alte Frau die Diebe bemerkt und um Hilfe schreit, hält das Mädchen ihr den Mund zu und schlägt ihr den Stock aus der Hand, so dass sie stürzt.

Der Lehrer kommt der alten Bäuerin zur Hilfe, ein vorbeikommender Bauer erzählt ihm von einer Räuberbande, die seit einiger Zeit in der Gegend ihr Unwesen treibe und auch im Mädchenlager im Schloss bereits gestohlen habe. Und er warnt ihn, in seinem eigenen Lager besser aufzupassen. Dabei bezeichnet er die jugendlichen Räuber als »Unkraut«, das vernichtet werden müsse (vgl. 39).

Analyse

Bereits zu Beginn des ersten Tages im Zeltlagers zeichnet sich eine Konfrontation zwischen Z und N ab. Da der Schüler beim Exerzieren zu weit außerhalb der Reihe steht, wird er von Schüler N als Idiot beschimpft. Auch dem Lehrer fällt auf, »wie schwer sich der einreihen lässt« (36). Schon hier steht also der Hinweis auf den Individualismus, der den Schüler Z auszeichnet und ihn aus dem Verband der angepasst und begeistert mitlaufenden Schüler herauslöst. Und als Gegenpol wird ein weiteres Mal N als überzeugter und auch aggressiv auftretender Anhänger des Regimes charakterisiert.

Mit dem Auftreten der marschierenden Mädchengruppe zeigt sich eine weitere Seite der durchmilitarisierten Gesellschaft; die vormilitärische Ausbildung mit »wehrsportliche[n] Spiele[n]« wie »Verschollenen-Flieger-suchen« erstreckt sich nun auch auf die Mädchen, auch wenn, wie die Lehrerin betont, Frauen ja leider nicht an die Front kommen (vgl. ebd., 37). Auch hier ist ein Hinweis auf den historischen Hintergrund des nationalsozialistischen Deutschlands zu sehen und die Jugendorganisationenen »Bund Deutscher Mädel« und »Jungmädchenbund«, in denen auch die Mädchen ähnlich wie in der Hitlerjugend im Sinne der ideologischen Propaganda erzogen werden sollten.

Zwar kritisiert der Lehrer in Gedanken auch das militärische »Leistungsprinzip«, das ihm die Lehrerin der Gruppe erklärt und von dem sie sagt, dass es über dem »Darbietungsprinzip« stehe (vgl. ebd., 37). Auch sprachlich zeigt sich diese Kritik an den zahlreichen literarischen Mitteln, die hier in ironischer Absicht eingesetzt werden und den heroischen Auftritt der »Amazonen« ins Lächerliche ziehen. So erklärt die Lehrerin den Sinn und Zweck des Spieles mit dem verschollenen Flieger, mit dem sie im Kriegsfall gleich eingesetzt werden könnten. Die Alliteration und Wiederholung »die Mädchen schwärmen in Schwarmlinie durch das Unterholz und suchen und suchen den Karton« (ebd.) verweist auf die Absurdität der Situation. Das ist auch im letzten Absatz des Kapitels zu sehen, wo die elliptische Satzstruktur auf die offensichtlichen Gegensätze hinweist. Die Mädchen marschieren »in militärischer Ordnung«, doch werden vom vielen Marschieren die Beine immer kürzer und dicker. Die parallele Satzstruktur und die doppelte Alliteration im Schlusssatz: »Marschiert nur zu, Mütter der Zukunft!« (ebd.), unterstreicht die ironische Brechung.

Viel deutlicher jedoch wird sein abwertendes, diskriminierendes Frauenbild bei seinen innerlichen Kommentaren, die sich direkt an die verurteilende Kritik von Julius Caesar über die neue Frau als »rucksacktragende Venus« anschließen. Er geht sogar noch weiter und vergleicht die Mädchen, die »verschwitzt, verschmutzt und ungepflegt« aussehen, mit »armen Tieren«, neben denen sogar der ihm ganz unmenschlich erscheinende Schüler N »noch ein Mensch« sei (vgl. 37). Er würdigt die sich im Freien bewegenden Mädchen als »animalisch« herab. Zwar wird er sich später, als er zwei der Mädchen im Wald belauscht, seiner Vorurteile und leichtfertigen Verurteilungen bewusst, doch zeigt diese Szene deutlich den ambivalenten Charakter des Lehrers, der ebenfalls von zum Teil diskriminierenden Vorurteilen geprägt ist. Er ist hier auch noch sehr auf die Wahrnehmung und Bewertung von Frauen auf einer rein äußerlichen Ebene konzentriert. Das wird sich zumindest in Bezug auf Eva im Laufe des Romans noch wandeln.

Das folgende Kapitel weist schon im Titel eine doppeldeutige Metapher auf, die am Kapitelende wie so oft noch einmal wiederholt wird und so den Eindruck einer formalen Geschlossenheit erweckt. Der Bauer bezeichnet die in der Gegend ihr Unwesen treibende Räuberbande aus verwahrlosten Kindern als »Unkraut«, das »vertilgt« gehöre (31). In diesem Bild zeigt sich aufs Neue das vom Faschismus geprägte Menschenbild, das sich durch die Gesellschaft zieht und das nicht nur rassistisch und diskriminierend, sondern auch ausgrenzend und gewalttätig allen gegenüber ist, die von der Norm abweichen und die nicht der herrschenden Ideologie entsprechen. Die Jugendlichen, die hier als »Unkraut« bezeichnet werden, werden damit »entmenschlicht« (Kaul/Pahmeier, S. 31), der Gedanke an ihre Auslöschung fällt damit dann umso leichter. Hier ist ein klarer Anklang an Sprache und Ideologie der NS-Zeit zu sehen.
Der Raubüberfall der drei Jugendlichen, dessen Zeuge der Lehrer wird, steht in der Brutalität, mit der die Bande die Hilflosigkeit der blinden alten Frau ausnutzt, auch wieder als Beweis der Verrohrung und emotionalen Kälte der Jugend. Darauf hatte schon die Prügelei in der Schule hingewiesen, die Steigerung davon ist dann der Mord an N. Hier beginnt außerdem auch »ein Handlungsstrang, der sich als äußere Handlung bis zum Romanende hindurchzieht, die sogenannte Kriminalhandlung« (Schlemmer, S. 22/23).

Es ist überdies die erste Begegnung mit dem Mädchen Eva, was der personale Ich-Erzähler zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht weiß und erst später, bei der Lektüre des Tagebuchs von Z, vestehen wird. Deutlich ist auch schon sein körperliches Interesse an Eva: »Sie ist groß und schlank, geht es mir durch den Sinn« (38).

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.