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Jugend ohne Gott

Zitate und Textstellen

  • »Ich werde mich hüten, als städtischer Beamter, an diesem lieblichen Gesange auch nur die leiseste Kritik zu üben! Wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle?«
    – Lehrer, S. 11

    Diese Gedanken macht sich der Lehrer, während er zu Beginn des Romans die Aufsätze seiner Schüler zum Thema »Warum müssen wir Kolonien haben?« korrigiert. Die Aufsätze sind voller hohler Phrasen, reiner Wiederholungen der faschistischen Propaganda, bis hin zu rassistischen Ausfällen, wie im Aufsatz des Schülers N, die vor allem über das Radio verbreitet werden. Der Lehrer registriert seine innere Empörung bei der Lektüre dieses Gedankenguts, doch sieht er sich aus Angst um seine sichere Stellung als »städtischer Beamter« dazu gezwungen, sie stillschweigend zu akzeptieren und seinen Widerwillen nicht zu äußern.
    Kritik äußert er daher nur in inneren Reflexionen und vor allem auch in einer Kommentierung des äußeren Geschehens, die sprachlich durch ironische Brechung bestimmt ist und damit eine zynische Distanzierung ermöglicht. So bezeichnet er die Wiederholung der platten ideologischen Phrasen als »lieblichen Gesang[ ]« (11).

    An der Einsicht: »wenns auch weh tut, was vermag der einzelne gegen alle«, zeigt sich auch, dass der Lehrer an dieser »Spannung zwischen innerer Ablehnung und äußerer Anpassung« (Krischel, S 64) leidet. Er fühlt sich vereinzelt in seiner inneren Opposition gegen die übermächtigen Verhältnisse, und immer der Gefahr ausgesetzt, dass seine wahre Meinung doch zu Tage tritt, und dieser Zustand bringt ihn in einer Krise, die große Unzufriedenheit auslöst und die ein Gefühl von dauernder Schuld auslöst. Das Motiv des hier schon anklingenden Schuldbewusstseins durchzieht dann auch den ganzen Roman.

  • »Daß diese Burschen alles ablehnen, was mir heilig ist, wär zwar noch nicht so schlimm. [...] Alles Denken ist ihnen verhaßt. Sie pfeifen auf den Menschen! Sie wollen Maschinen sein, Schrauben, Räder, Kolben, Riemen - doch noch lieber als Maschinen wären sie Munition: Bomben, Schrapnells, Granaten. Wie gerne würden sie krepieren auf irgendeinem Feld! Der Name auf einem Kriegerdenkmal ist der Traum ihrer Pubertät.«
    – Lehrer, S. 21

    In dieser Reflexion wird dem Lehrer seine Distanz und Entfremdung von der jungen Generation seiner Schüler bewusst. Er hält in dieser Szene, die sich nach der Auflehnung der gesamten Klasse mit einem von allen unterschriebenen Brief gegen ihn abspielt, die Kluft zur Generation der jungen Menschen sogar für unüberbrückbar.

    Die Jugend, wie er sie bei seinen Schülern erlebt, steht in größtmöglichem Gegensatz zu den christlich-humanistischen Werten, die seine und die älteren Generationen vertreten. Sie haben nicht nur ihren Glauben an Gott verloren bzw. hatten nie eine Möglichkeit, zu diesem Glauben zu finden und lehnen daher alles ab, was dem Lehrer »heilig« ist; sie haben außerdem keine verbindliche Moral, die sie teilten, und auch kein Gewissen, nach dem sie sich richteten. Vielmehr kennzeichnet diese dem Lehrer immer unverständlichere, fremde neue Generation ein »Verzicht auf jegliche moralische Begründung eigenen Tuns« (Schlemmer, S. 59). Nicht einmal das Denken, der Geist ist ihnen zugänglich oder erscheint erstrebenswert, vielmehr sind »Antiintellektualismus und Antihumanismus« (ebd., S. 58) das erklärte Ziel.

    Auf dieser Grundlage kann diese Generation dann leicht manipuliert und ein gut funktionierender Teil der kommenden Kriegsmaschinerie werden, für die sie sich bewusst und mit Begeisterung einsetzt. Jede Individualität soll so ausgelöscht werden und diese Jugend geht ganz auf in dem Ziel, ein winziger Teil einer größeren Ideologie zu sein. »Die Opferbereitschaft wird verknüpft mit einer Überbewertung der eigenen Gruppe und der Verdammung jeder Form von Individualismus« (Schlemmer, S. 56).

  • »Sie vergessen das geheime Rundschreiben 5679 u/33! Wir müssen von der Jugend alles fernhalten, was nur in irgendeiner Weise ihre zukünftigen militärischen Fähigkeiten beeinträchtigen könnte – das heißt: wir müssen sie moralisch zum Krieg erziehen.«
    – Direktor, S. 17

    Diese Ermahnung des Direktors an den Lehrer, nicht die geheimen Anordnungen zum eigentlichen Zweck der Schulausbildung zu vergessen, weist starke Parallelen mit dem historischen Hintergrund des nationalsozialistischen Deutschlands auf. Hier gab es bereits 1933 Erlasse und Reden, in denen die Schulausbildung in den Dienst der »Wehrhaftigkeit des Deutschen Volkes« gestellt wurde (vgl. Tworek, Kommentar 184).

    Hauptziel der Jugend ist also nicht mehr Bildung und eine Erziehung, die an einem humanistisch-christlichen Menschenbild ausgerichtet ist, sondern die Ausbildung neuer Soldaten, die in einem neuen Krieg eingesetzt werden können. Im Gegenteil; jegliche intellektuelle Bildung oder Vermittlung humanistischer Werte und Ideale wird als Schwächung der »militärischen Fähigkeiten« gewertet, weil es zum Hinterfragen, zu Kritik oder Selbstreflexion führen könnte.

    Die einzige Moral, die die Schule noch vermitteln soll, ist die Moral des Krieges, Ziel ist »eine Erziehung der Jugend zum Kriege [...], die besonderen Wert auf Abhärtung, Gehorsam und Opferbereitschaft legt« (Schlemmer, S. 56).

  • »Es kommen kalte Zeiten, das Zeitalter der Fische.«
    – Julius Caesar, S. 27

    Nachdem der Lehrer Julius Caesar von den Vorfällen in der Schule und seiner zunehmenden Entfremdung von seinen Schülern berichtet hat, analysiert Julius Caesar die aktuelle gesellschaftspolitische Situation und auch den Wandel der Generationen. Im Gegensatz zur christlichen Tradition, in der der Fisch ein geheimes Symbol der verfolgten Christen für ihren Erlöser war, prophezeit der Altphilologe mit dem Bild des Fisches ein von Gefühllosigkeit, Kälte und emotionaler Erstarrung geprägtes Zeitalter. »Er sieht eine emotional kalte, entindividualisierte Generation heranwachsen, ohne geistige Ideale und menschliche Werte« (Tworek, Kommentar 185). Und diese Kälte macht auch vor der Seele des Menschen nicht halt, die »unbeweglich wie das Antlitz eines Fisches« (27) wird.

    Im Roman wird der »Fisch« dann aufgrund seiner runden hellen Augen ohne Glanz und der starren, emotionslos beobachtenden Haltung vor allem mit dem Schüler T in Verbindung gebracht.
    Ursprünglich beruht das von Julius Caesar zitierte »Zeitalter der Fische« jedoch auf der babylonischen Astrologie, nach der das Zeitalter der Fische von ca. 150 v.Chr. bis um 1950 andauert, sich also zum Zeitpunkt der Erzählung eher dem Ende zuneigt. Horváth nutzt dieses Zeitalter jedoch als Entsprechung zum beginnenden Nationalsozialismus.

  • »Warum raufst du immer mit dem N?« »Weil er ein Plebejer ist.« Ich stutze und muß an die reichen Plebejer denken. »Ja«, sagt der Z, »er kann es nämlich nicht vertragen, daß man über sich nachdenkt. Da wird er wild.«
    – Lehrer und Schüler Z, S. 57/58

    Die Unterhaltung zwischen dem Lehrer und dem Schüler Z findet während des Zeltlagers statt. Nachdem Schüler R sich beschwert hatte, dass N und Z immer raufen würden, spricht der Lehrer mit beiden Schülern, um den Grund dafür zu erfahren. Schüler N hatte zuvor schon als Grund angegeben, dass Tagebuchschreiben aus seiner Sicht eine »typische Überschätzung des eigenen Ichs« (57) sei. Damit wiederholt N auch hier eine Phrase, wie sie die Ideologie des totalitären Staates verbreitet.

    Z charakterisiert ihn in seiner Antwort als überzeugten Anhänger dieser geistfeindlichen Ideologie, in der es schon auffällt und verurteilt wird, wenn man nur »über sich nachdenkt«. Dieser offensichtliche Individualismus, der sich dem Zwang zur Gemeinschaft entzieht, sich nicht einordnen lässt, provoziert einen Anhänger des Regimes wie N und dieser kann darauf nur mit Gewalt reagieren. Zudem ist in diesem totalitären Staat, dessen Instrument die Schule und Erziehung der Jugend ist, jegliche Äußerung des Geistes und Intellekts verpönt, Selbstreflexion darf nur im Geheimen stattfinden und auch viele kritische Bücher werden verboten.

      Jeglicher Individualismus muss unterdrückt werden, um [der Jugend] Gemeinschaftssinn, absoluten Gehorsam, totale Unterordnung und Selbstaufgabe einimpfen zu können. (Tworek, Kommentar 146)

    Auffällig ist, dass auch Z den Schüler N als Vertreter des herrschenden autoritären Regimes als »Plebejer« bezeichnet. Dies haben bisher nur der Schuldirektor und der Lehrer getan, um die die alte Ordnung ablösende, neu aufgestiegene und zu politischer Macht gekommene soziale Schicht der Kleinbürger zu kennzeichnen, die das faschistische Regime trägt. Er zeigt auch dadurch eine innere Distanz zum herrschenden Zeitgeist, eine Individualität und Kritikfähigkeit, die den meisten anderen Schülern abzugehen scheint.

  • »Denk Dir nur, Mandi ist gestern gestorben. Vorgestern hüpfte er noch so froh und munter in seinem Käfiglein herum und tirilierte uns zur Freud. Und heut war er hin. [...] Die Beinchen hat der Ärmste von sich gestreckt, ich hab ihn im Herdfeuer verbrannt. Gestern hatten wir einen herrlichen Rehrücken mit Preiselbeeren. [...] Vater läßt dich herzlich grüßen, Du sollst ihm nur immer weiter Bericht erstatten, ob der Lehrer nicht wieder solche Äußerungen fallen läßt wie über die Neger. [...] Vater bricht ihm das Genick!«
    – Brief der Mutter N, S. 59

    Dieser Brief der Mutter des Schülers N, den der Lehrer heimlich liest, als er im Zelt von N und Z auf der Suche nach Zs Tagebuch ist, ist ein typisches Beispiel für die Demaskierung des kleinbürgerlichen, dem Faschismus zugeneigten Bewusstseins, das Horváth vor allem durch die Sprache unternimmt, die er seinen Figuren in den Mund legt (vgl. Lüke, S. 9).
    Das enge Nebeneinander von alltäglichen Nebensächlichkeiten und existenziellen Themen wie Tod und Verlust zeigt bei der Mutter einen Mangel an Sensibilität und große emotionale Kälte; offensichtlich kann sie sich überhaupt nicht in den Gemütszustand ihres Sohnes einfühlen, wenn sie ihm vom Tod seines Haustieres schreibt. Bei Formulierungen wie »heut war er hin« kippt diese erschreckende Herzlosigkeit dann fast in gewalttätige Direktheit. Dies ist auch bei der Engführung des Verbrennens des toten Kanarienvogels im Herdfeuer und des dann folgenden »herrlichen Rehrückens« aus dem Ofen der Fall. Ganz offen wird die selbstverständliche, jederzeit in offene Gewalt umkippende, faschistische Mentalität der Kleinbürger in diesem Brief dann bei der Drohung gegen den Lehrer: »Vater bricht ihm das Genick«. Auf diese offene Todesdrohung folgen dann übergangslos floskelhafte Abschiedsgrüße.

    Auch zeigt dieser Brief der Mutter, dass die Eltern ihren Sohn offen zur Bespitzelung und Denunziation des Lehrers auffordern. Auch dies ist ein Kennzeichen der totalitär ausgerichteten Gesellschaft. Die Familie des Schülers N erweist sich damit als eine Familie überzeugter Anhänger des politischen Regimes.

  • »Ja«, sagte er, »denn in diesem Fall scheinen alle Beteiligten schuld zu sein. Auch die Zeugen, der Feldwebel, der Lehrer – und auch die Eltern.« »Die Eltern? [...]« »Ja. Denn nicht nur die Jugend, auch die Eltern kümmern sich nicht mehr um Gott. Sie tun, als wäre er gar nicht da.« [...] »Wenn man nur wüßte, wo Gott wohnt.« »Er wohnt überall, wo er nicht vergessen wurde», höre ich die Stimme des Alten.«
    – Lehrer und alter Tabakhändler, S. 90

    Das Gespräch des Ich-Erzählers mit dem alten Tabakhändler, nachdem er die Stimme Gottes zu hören meint, ist eine Schlüsselstelle des Romans. Sie bereitet die Wandlung des Lehrers von einem angepassten, wenn auch innerlich kritischen Mitläufer zu einem aufrechten Menschen vor, der auf die Stimme seines Gewissens hört, der Gerechtigkeit anstrebt und dessen Handeln von Mitmenschlichkeit geprägt ist.

    Damit ist auch eine Veränderung seines Gottesbildes verbunden. Nach der Vorstellung des strafenden, schrecklichen Gottes, von dem er sich abgewandt hatte, klingt hier in den Worten des alten Mannes schon ein wichtiger Aspekt seines neuen Gottesbildes an, an den er auch wieder glauben kann und will; dieser Gott wohnt bei dem alten Ehepaar, da es in Harmonie und Frieden zusammenlebt, in Verständnis und Mitmenschlichkeit. Dieser Zug Gottes bedingt dann auch die innere Wandlung des Lehrers, der sich, nachdem er die Wahrheit gesagt und zu Gott zurückgefunden hat, nun auch seiner Umgebung gegenüber anders verhält. Statt die Verhältnisse und seine Mitmenschen nur unbeteiligt und distanziert zu beobachten und innerlich zynisch zu kommentieren, greift er aktiv ein, setzt sich gegen Unrecht ein, will anderen Menschen helfen.

    Zudem wird in dieser Textstelle eines der wichtigsten Themen des Romans, die persönliche und die allgemeine Schuld angesprochen. Wie der alte Tabakhändler sagt, sind alle Beteiligten schuldig, nicht nur der Mörder, nicht nur Eva, nicht nur der Lehrer. Auch die Eltern der Schüler machen sich schuldig, da sie in den meisten Fällen ihre Rolle als Eltern vernachlässigen, sich nicht um ihre Kinder kümmern oder aber sie im Sinne des totalitären Regimes als Spitzel einsetzen oder zu gehorsamen Soldaten erziehen (vgl. Patzer, S. 67). Auch die Schüler machen sich fast alle schuldig, »weil sie sich zu willigen Vollstreckern und Helfern der Diktatur erziehen und als Spitzel missbrauchen lassen, weil sie gewalttätig sind und ohne Rücksicht auf andere« (ebd.). Sie alle haben sich, wie auch der Lehrer, von Gott abgewandt, haben ihn vergessen, hören nicht mehr auf die Stimme ihres Gewissens und handeln nicht mehr nach den Prinzipien der Wahrheit und Gerechtigkeit, für die der Gott, zu dem der Lehrer nach diesem Gespräch findet, steht.

  • »Vergiß es nicht, daß du mit einem höheren Herrn gesprochen hast! Du lebst noch im selben Haus, aber in einem höheren Stock. [...] Doch sieh mal zum Fenster hinaus! Wie entfernt ist alles geworden! Wie winzig sind plötzlich die großen Gebieter und wie arm die reichen Plebejer! Wie lächerlich!«
    – Lehrer S. 107

    Diese Szene spielt sich wenige Tage nach der Aussage des Lehrers im Prozess ab, bei der er die Wahrheit gesagt und seine Schuld bekannt hat. Damit hat er gleichzeitig seine Existenz aufs Spiel gesetzt und seine Stelle als Lehrer riskiert. Dennoch fühlt er sich erleichtert und befreit, macht sich keine Sorgen mehr und fürchtet auch keinen strafenden Gott mehr.

    An diesem Feiertag, dem »Geburtstag des Oberplebejers«, der mit Aufmärschen und Beflaggung gefeiert wird, bemerkt er selbst sehr deutlich die Veränderungen, die seine Entscheidung, wieder auf sein Gewissen, auf »die Stimme Gottes« zu hören, in ihm ausgelöst hat. Zwar hat er selbst noch seine Fahne aus dem Fenster gehängt, doch fühlt er sich sehr weit entfernt von all den Selbstinszenierungen des Regimes unter seinem Fenster; er schaut darauf nun aus einer anderen Perspektive, aus einem »höheren Stock[werk]«. Die großen, reichen Anführer sind mit einem Mal klein und arm, sie machen keinen Eindruck mehr auf den Lehrer und er fühlt auch keine Angst mehr und keinen Druck, sich anpassen zu müssen, denn seine Existenz in diesem Staat hat er ohnehin schon verloren. Die vorher angsteinflößenden Machthaber wirken nun »lächerlich«. Statt sich den Vertretern des autoritären Regimes weiter unterzuordnen, hat der Lehrer mit einem »höheren Herrn« gesprochen, dessen Stimme er als eigenes Gewissen nun wieder folgen kann, ohne sich dabei selbst verstellen zu müssen.

  • »So schaut Gott zu uns herein, muß ich plötzlich denken. Einst dachte ich, er hätte tückische, stechende Augen – Nein, nein! Denn Gott ist die Wahrheit.«
    – Lehrer, S. 141

    Die Reflexion des Lehrers beim Anblick der Augen von Ts Mutter, nachdem sich das Geständnis ihres Sohnes auf dem zweiten Teil des abgerissenen Zettels enthüllt hat, zeigt die wiederholte Verbindung des Motivs der Augen mit dem der Gottessuche. Auch die Augen Evas verwandeln sich in »andere Augen«, wie hier die der Mutter (vgl. 135). Der Lehrer kann auch hier auf Gottes Hilfe vertrauen.

    Als abschließende Reflexion seiner den Roman durchgehend bestimmenden Gottessuche, fasst sie auch noch einmal seinen Weg der Wandlung zusammen, die sich immer im Gottesbegriff spiegelt.
    Am Anfang steht hier die Erinnerung an den strafenden, alttestamentlichen Gott, den der Pfarrer als »das Schrecklichste auf der Welt« (48) bezeichnet und von dem er sich bereits in der Jugend abgewendet hatte.
    Nach dem Mord glaubte er dann zwar wieder an diesen Gott, lehnte ihn aber eigentlich ab und wollte ihm seinen eigenen freien Willen entgegensetzten. Dieser Gott hatte die »tückischen, stechenden Augen«. Schließlich ändert sich sein Gottesbild und auch sein Verhältnis zu Gott, indem er selbst die Wahrheit im Prozess aussagt und er verliert auch seine Angst vor Gott. Am Beispiel des miteinander in Frieden und Harmonie lebenden, gläubigen Ehepaars aus dem Tabakgeschäft kommt er schließlich nach Lösung des Mordfalls zu einem neuen, humanistisch geprägten Gottesbild, er hat Gott in dem Gott der Gerechtigkeit, Wahrheit und der Mitmenschlichkeit gefunden. Diese Gotteserkenntnis unterscheidet sich von dem früheren Gottesbild seiner Jugend, auch von der »naiven Frömmigkeit der Eltern des Lehrers« (Tworek, Kommentar 149) und von der des strafenden, alttestamentlichen Gottesvorstellung des Pfarrers. Der Gott, der die Wahrheit ist, ruft vielmehr zu »individual-ethischer Verantwortlichkeit auf [...]« (ebd.).

  • »Der Neger fährt zu den Negern.»
    – Lehrer, 142

    Mit dieser abschließende Bemerkung des Lehrers schließt sich auch der Rahmen der Erzählung, die mit dem ersten Kapitel »Die Neger« beginnt. Auch ist der rassistische Satz im Aufsatz von Schüler N über schwarze Menschen und der Kommentar des Lehrers dazu im Unterricht der Auslöser des offenen Konfliktes zwischen Schüler und Lehrer. An diesem Konflikt über die Menschenwürde anderer Menschen entzünden sich auch die Reflexionen des Lehrers über die Generation der Jugend, von der er sich aufgrund ihrer ideologischen Indoktrinierung und ihrer Gefühlskälte immer stärker entfremdet fühlt.

    Zu Beginn wird der Begriff »Neger« noch konkret verwendet, im Laufe des Romans wird er zur Metapher für alle Menschen, die nicht in das stromlinienförmige Konzept des totalitären Regimes passen, die sich nicht angepasst verhalten, die Ideologie und die Militarisierung nicht mittragen, durch Individualität, Kritik oder anderen Merkmale auffallen, die sie zu Außenseitern in der faschistischen Diktatur machen. Auf diese Menschen kommt es in der Diktatur nicht an, wie N in seinem Aufsatz schrieb, es ist egal, ob sie leben können oder nicht (vgl. 15).

      Die Metapher verdeutlicht in kritischer Absicht bestimmte Aspekte der Ideologie, z.B. einen sozialdarwinistisch begründeten Rassismus, aber auch den Umgang mit Außenseitern jeder Art. (Schlemmer, S. 89)

    So erfährt der Lehrer, dass auch er von seinen Schülern aufgrund seiner kritischen Einwände gegen die ideologischen Phrasen im Aufsatz von N den Spitznsamen »Der Neger« hat. Nun fährt er als Außenseiter der Gesellschaft zu Menschen, die aus rassistischen und ideologischen Gründen ebenfalls zu Außenseitern erklärt wurden, um als Lehrer an einer Missionsschule in Afrika zu unterrichten.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.