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Jugend ohne Gott

Kapitel 37 + 38: »Die Endstation« und »Der Köder«

Zusammenfassung

Der Lehrer fährt mit der Straßenbahn bis zur Endstation, wo die Familie von T im vornehmen Villenviertel lebt. Ihm fallen sofort die gute Luft dort auf und die gepflegten Gärten hinter hohen Toren ohne Gartenzwerge, wie noch im Pfarrhaus. Ein Diener lässt den Lehrer ein, sagt ihm jedoch gleich, dass ein Termin bei der Mutter Ts wohl nicht möglich sei, da sie gerade Besuch habe. Auf seinen Einwand hin, dass es sich aber um eine dringende Angelegenheit handele, die ihren Sohn betreffe, antwortet der Diener nur, dass auch ihr Sohn sich meist bei seiner Mutter anmelden müsse, da sie häufig keine Zeit für ihn habe.

Schließlich gelingt es dem Lehrer, den Diener zu überzeugen, ihn bei der Mutter von T anzumelden. Auf der Treppe des Hauses begegnet er dabei einer berühmten Filmschauspielerin, der »Freundin des Oberplebejers« (122), wie der Lehrer sich erinnert. Er wartet in einem Salon mit kostbaren antiken Möbeln und alten Stichen. Seine Gedanken wandern zu Eva, er fragt sich, wo sie jetzt wohl ist und hofft, dass sie noch im Krankenhaus sei, da sie dort wenigstens ein Bett habe.

Als sich endlich die Tür öffnet, ist es jedoch nicht die Mutter von T, die ihn empfängt, sondern T selbst. Die Mutter habe keine Zeit, lässt er höflich ausrichten. Eigentlich habe sie ohnehin nie Zeit. Auf die Nachfrage des Lehrers erzählt er ihm, dass auch sein Vater eigentlich nie zu Hause sei, da er einen großen Konzern leite und daher immer unterwegs sei.

Der Lehrer muss bei diesen Worten an das geschlossene Sägewerk denken, an die Kinder, die in Heimarbeit Puppen bemalen und an Gott, der zwar durch alle Gassen geht, der aber wahrscheinlich an der Villa der Familie des T auch nicht eingelassen werden würde.

Auf die Frage von T, warum er denn eigentlich mit seinen Eltern sprechen wolle, antwortet der Lehrer, dass er mit ihnen über ihn, T, sprechen wolle. Da sieht er einen »Schimmer des Entsetzens« (124) in den eigentlich glanzlosen Augen des Fisches.

Zuhause erwartet den Lehrer ein weiterer Brief des Klubs, in dem dieser ihm mitteilt, dass T am Abend zuvor im Kino war und danach mit einer eleganten »Dame« nach Hause gegangen sei. Nach einer halben Stunde seien beide wieder aus dem Haus gekommen und nach der Verabschiedung habe die Dame nach ihm ausgespuckt und eine Grimasse geschnitten.

Der Lehrer erkennt, dass die Dame eine Prostituierte war. Er geht zur angegebenen Adresse und spricht mit Fräulein Nelly über ihr Treffen mit T, da er auch der allerkleinsten Spur folgen will, damit ihm der Fisch endlich ins Netz geht.

Damit sie mit ihm spricht, muss der Lehrer Nelly zunächst ihr Honorar geben, dann erzählt sie ihm, dass sie hinter T ausgespuckt habe, da dieser ekelhaft gewesen sei und sogar beim Geschlechtsverkehr gelacht habe. Nachdem sie ihm deshalb eine Ohrfeige gegeben habe, sei er sofort zum Spiegel gelaufen, um sein Gesicht zu sehen. Auch Nelly ist aufgefallen, dass T immer nur beobachtet. Sie berichtet dem Lehrer auch, dass sie noch eine weitere Verabredung mit T habe, obwohl sie das ganz und gar nicht wolle. Damit erweise sie einem fremden Herrn einen Gefallen, der einen Fisch fangen wolle.

Der Lehrer reagiert auf diese Aussage sehr erschrocken und fragt sich, wer denn dahinter stecken könnte und auch, wie er einen Fisch fangen wolle.

Analyse

Schon der Titel des nächsten Kapitels, »Endstation«, weist darauf hin, dass der zu lösende Fall in eine entscheidende Phase und bald an sein Ende kommen wird. Das Villenviertel, in dem die Familie von T wohnt, steht im Gegensatz zu den anderen Schauplätzen des Romans, gerade auch der Gegensatz zum warmen gemütlichen Pfarrhaus wird deutlich gemacht durch die Wiederholung der dortigen Gartengestaltung: »Hier gibts keine Gartenzwerge. Kein ruhendes Reh und keinen Pilz« (121). Der das Haus umgebende Park ist so groß, das Tor so hoch, dass die Villa gar nicht zu sehen ist, was den Eindruck des Abgeschotteten noch verstärkt. Die Erwähnung von Pförtner und Diener, die Anrede »gnädige Frau« für die Hausherrin und »junger Herr« für den Schüler T lässt an die Bemerkung des Lehrers im Gespräch mit dem Direktor denken, dass im gegenwärtigen Regime einzig und allein das Geld regiert (vgl. 18). Der Eindruck der Verbindung von Geld und Macht im Hause Ts wird noch verstärkt durch die Begegnung des Lehrers mit der Filmschauspielerin X auf der Treppe des Hauses, der »Freundin des Oberplebejers« (122).

Angesichts des großen zur Schau gestellten Reichtums im Hause T wandern die Gedanken des Lehrers zu Eva, die als Außenseiterin am entgegengesetzten Ende der Gesellschaft steht und auch zu den armen Kindern der Heimarbeiter, für die er Mitleid empfindet.

    Für ihn ist mangelndes Mitleid mit armen und sozial benachteiligten Menschen gottlos, was sich in seiner Vorstellung ausdrückt, dass Gott bei Ts Eltern um Einlass bittet, aber nicht erwartet worden ist und abgewiesen wird. (Kaul/Pahmeier, S. 69)

Bei der Begegnung mit T in seinem Elternhaus wird dem Lehrer klar, dass es sich bei ihm um einen vernachlässigten Jungen ohne elterliche Fürsorge handelt. »Die Familie als wichtigste Sozialisationsinstanz hat augenscheinlich [auch hier] versagt« (Tworek, Kommentar zu 147).
Das plötzliche Auftauchen des Lehrers löst eine Veränderung in dem immer gleich starr lächelnden, ausdruckslos blickenden T aus: »seine Augen haben plötzlich Glanz«. »Die Schimmer des Entsetzens« (124). Der Lehrer weiß nun, dass T tatsächlich der Täter ist und dass dieser zunehmend in die Enge getrieben wird, eine Situation, in der sich die »Endstation« aus der Kapitelüberschrift spiegelt.

Das Verhalten des Schülers T bei seinem Besuch bei der Prostituierten Nelly, von dem der Lehrer durch einen Hinweis des Klubs erfährt, stellt ein weiteres Mal seine reine Wissbegier dar, die sein einziger Zugang zur Welt um ihn herum ist. Auch kommen hier wieder die ihn auszeichnende Charakteristik des kalten Beobachtens und der Gefühllosigkeit zur Sprache hinzu: »Immer hat er nur beobachtet, beobachtet!« (127)

Die Identität des »fremden Herrn«, der Nelly um den Gefallen gebeten hat, sich mit T zu treffen, enthüllt sich erst im nächsten Kapitel, noch erschrickt der Lehrer bei der Formulierung: »Er will einen Fisch fangen« (127), aus dem Mund von Nelly.
Die Tatsache, dass es sich bei dem in der Überschrift des Kapitels genannten »Köder« um die Prostituierte Nelly handelt, verweist zum einen auf das Bild des »Fischfangens«. Es trägt jedoch zum anderen zu einer Entmenschlichung von Nelly bei, die wie Eva als eine der wenigen Figuren im Roman einen Eigennamen trägt und wie sie eine Außenseiterin der Gesellschaft ist. »Dadurch wird sie freilich kaum als Mensch wahrgenommen, sondern lediglich in ihrer degradierenden Funktion als Köder« (Kaul/Pahmeier, S. 70). Wie schon bei anderen in entmenschlichenderweise verwendeten Begriffen im Roman wie »Pest« und »Unkraut« ist hier ein Anklang an die Unmenschlichkeit der NS-Terminologie zu sehen.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.