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Jugend ohne Gott

Kapitel 17 + 18: »Adam und Eva« und »Verurteilt«

Zusammenfassung

Nachdem die Schüler das Lager wieder zu einer weiteren Wehrübung verlassen haben, bei der sie lernen, wie man Schützengräben und Unterstände anlegt, geht der Lehrer zum Zelt von Z und N. Er liest dort zunächst einen Brief von Ns Mutter, in dem sie neben Alltäglichkeiten auch vom Tod des Kanarienvogels berichtet. Sie äußert sich positiv über die Schießübungen, die die Jungen im Lager absolvieren und wiederholt die Drohungen ihres Mannes gegen den Lehrer aufgrund seiner Bemerkungen zur Menschenwürde schwarzer Menschen.

Schließlich bricht der Lehrer mit einem Draht das Kästchen des Schülers Z auf und findet darin den heimlich nachts erhaltenen Brief sowie das Tagebuch. Im Brief wird ein Treffen mit einer gewissen Eva bestätigt. Im Tagebuch hat Z alle Erlebnisse des Lagerlebens aufgezeichnet. So erfährt der Lehrer, dass Z sich, als er sich bei einem der Geländespiele in einer Höhle verirrt hatte, auf ein Mädchen sowie zwei barfüßige und zerrissen wirkende Jungen gestoßen ist. Da diese die Beute aus dem Raubüberfall am Vortag bei sich haben, weiß der Lehrer nun, dass es sich um die jugendliche Räuberbande handelt.

Das Mädchen hilft Z den Weg zurückzufinden, gibt allerdings noch vor, in der Nähe zu wohnen und offenbart Z noch nicht, dass sie Anführerin einer Räuberbande ist. Sie nimmt Z das Versprechen ab, nichts von ihrer Begegnung zu verraten und bedankt sich bei ihm mit einem Kuss. Als er jedoch einen Kuss auf den Mund verlangt, gibt sie ihm gleich einen Zungenkuss, was Z zurückweist. Im anschließenden Handgemenge wirft das Mädchen zunächst einen Stein nach Z. Als dieser sich darüber empört und zu dem Mädchen sagt, dass ihn dieser tödlich hätte treffen können und sie dafür gehenkt worden wäre, zeigt sie sich davon ungerührt und antwortet ihm, dass sie das sowieso erwarten würde.
In einem anschließenden Handgemenge schlägt Z mit einem Ast auf das Mâdchen ein. Sie bleibt wie tot liegen und erschreckt Z damit sehr. Allerdings merkt er bald, dass sie ihm etwas vorspielt und zieht ihr den Rock hoch. Statt allerdings wie von ihm erwartet empört hochzuspringen, reißt ihn das Mädchen zu sich herab und es kommt zum ersten Liebesakt zwischen den beiden.

Nach dieser ersten Begegnung denkt Z ständig an das ihm eigentlich fremde Mädchen, von dem er bisher nicht einmal den Namen kennt und will sie wiedersehen. Das ganze Lagerleben um ihn herum und auch die ewigen Streitereien mit N scheinen für Z nun ganz fern. Er äußert allerdings zu diesem Zeitpunkt schon Morddrohungen gegen N.
In der nächsten Nacht kommt das Mädchen wieder zu Z, während er Wache hält. Nachdem sie sich im Wald geliebt haben, beginnt das Mädchen zu weinen und erzählt ihm ihre traurige Geschichte.

Sie ist eine Waise, die bereits mit 12 Jahren als Hauswirtschaftshilfe bei einer Familie arbeiten musste. Nachdem der Vater der Familie sie dort belästigte und die Mutter sie ohrfeigte, stahl sie Geld, um weglaufen zu können, wurde jedoch erwischt und kam in eine Besserungsanstalt. Auch von dort ist sie geflohen und lebt nun in einer Höhle als Anführerin einer Räuberbande, bestehend aus vier armen Jungen aus dem Dorf, die gemeinsam zum Stehlen gehen, um überleben zu können.

Das Mädchen, von dem Z nun erfährt, dass es Eva heißt, bittet ihn, sie nicht zu verraten und Z hat großes Mitleid mit ihr und fühlt auf einmal auch, dass er eine Seele hat (vgl. 64).

Am nächsten Tag erfährt Z, dass in der Nacht, während Eva bei ihm war, ein weiterer Diebstahl eines Fotoapparates im Lager stattfand. Dies ist ihm jedoch egal; er versteht es als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, da der Vater des bestohlenen G drei Fabriken habe, Eva jedoch in einer Höhle leben müsse.

Z kann es kaum erwarten, Eva wiederzusehen und schwört sich im Tagebuch, immer für sie da zu sein, sie zu beschützen und vor der Besserungsanstalt zu bewahren.
Da sein Klassenkamerad ihm androht, das Kästchen mit seinem Tagebuch demnächst zu zertrümmern, schreibt Z als letzten Satz die Drohung in sein Tagebuch: »Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!« (65)

Nach seiner Lektüre des Tagebuchs schafft der Lehrer es nicht, das Kästchen, in dem es aufbewahrt wird, wieder zu verschließen, bevor die Klasse zurück ins Lager kommt.
Der Lehrer hält diese Morddrohungen im Tagebuch für Kindereien. Es wird ihm jedoch bald klar, dass er durch seine Mitwisserschaft an den Diebstählen im Lager und Zs Rolle dabei, der das Mädchen wider besseren Wissens decken und beschützen möchte, eigentlich zum Handeln verpflichtet ist. Er müsste es dem Feldwebel und der Polizei melden und beide müssten verhaftet werden.

Bevor der Lehrer zu einer Entscheidung kommen kann, kommt es zu einer wilden Prügelei zwischen Z und N, da der Schüler Z nun davon ausgeht, dass sein Zeltnachbar, wie bereits angedroht, sein Kästchen aufbrechen würde. N spürt die Gefahr, durch die er durch diesen Verdacht geraten ist, und wendet sich hilfesuchend an den Lehrer, der ihm Hilfe verspricht. Zugleich spürt auch der Lehrer, dass Z N tatsächlich etwas antun könnte und dass er ihn damit verurteilt hat, dass er im Zuge der tätlichen Auseinandersetzung nicht gleich eingestanden hat, dass er es war, der das Kästchen mit dem Tagebuch aufgebrochen hat.

Zwar fühlt sich der Lehrer bereits schuldig, bringt es aber aus Scham nicht über sich, seine Tat gleich und vor allen zu gestehen. Er nimmt sich daher vor, alleine mit Z zu sprechen und auch mit Eva bei ihrem nächsten Treffen. Der Lehrer möchte damit selbst ins Geschehen eingreifen, N freisprechen, Z und Eva begnadigen, dem »schrecklichen« Gott, von dem der Pfarrer sprach, damit einen »Strich durch die Rechnung machen« (67) und damit alle Beteiligten retten.

Während seiner Überlegungen fühlt sich der Lehrer beobachtet und entdeckt, dass der Schüler T ihn wieder, wie schon beim Begräbnis, mit seinen runden, glanzlosen Augen wie ein Fisch anstarrt und überlegen lächelt. Der Lehrer fragt sich, ob T bereits weiß, dass er es war, der das Kästchen aufgebrochen hat.

Analyse

Bevor der Lehrer in Abwesenheit der ganzen Klasse tatsächlich heimlich das Tagebuch Zs liest, findet er im selben Zelt einen Brief der Mutter von N an ihren Sohn, den er ebenfalls liest. Dieser Brief ist ein Beispiel für die von Horváth häufig betriebene »Demaskierung des Bewusstseins« (Kaul/Pahmeier, S. 96) durch die Sprache seiner oft kleinbürgerlichen Figuren. So zeigt sich in dem übergangslosen Nebeneinander von belanglosen Alltäglichkeiten und schonungsloser Schilderung vom Tod des Kanarienvogels oder Morddrohungen gegen den Lehrer die eigentlich hinter der bürgerlichen Fassade lauernde Kaltblütigkeit, Emotionslosigkeit und latente Gewaltbereitschaft. So berichtet sie dem Sohn, dass sein Kanarienvogel gerade noch munter und froh in seinem Käfig herum gehüpft sei und am nächsten Tag sei er »hin« gewesen. Nach der Aussage: »Ich hab ihn im Herdfeuer verbrannt«, folgt dann der Satz: »Gestern hatten wir einen herrlichen Rehrücken mit Preiselbeeren«, der vermutlich aus demselben Herd kam (59). Nach der Aufforderung an ihren Sohn, den Lehrer weiter zu bespitzeln, um ihn noch weiterer staatsfeindlicher Äußerungen überführen zu können, folgt die explizite Morddrohung: »Vater bricht ihm das Genick!« (ebd.), worauf Grüße und Küsse von der lieben Mutti folgen.

Nach der Lektüre des kurzen Briefes von »Eva«, den ein unbekannter Junge Z nachts heimlich überbracht hatte, nennt der Lehrer Z und das Mädchen in Gedanken schon »Adam und Eva«, was auch die Kapitelüberschrift wiederholt und bereits auf das Leitmotiv der Schuld und Erbsünde hinweist sowie Evas Rolle als Verführerin vorbereitet.

Die Wiedergabe des Inhaltes des Tagebuchs von Z nimmt den größten Teil des Kapitels ein und ist von großer Bedeutung für den Roman. Dies zeigt sich schon am Umfang des Kapitels, das das längste im ganzen Roman ist. Zum einen erfährt der Lehrer so viele Details, die für den Fortgang der Handlung sehr wichtig sind und die nur aus dieser Quelle erfahren werden können. Zum anderen aber kommen durch das Tagebuch andere Perspektiven und Stimmen in den Roman, was die Eindimensionalität der beschränkten Ich-Perspektive des Erzählers aufbricht.
So wird die ungefilterte Sicht eines Schülers auf das Lagerleben mit all seinen Details nachvollziehbar. Das trägt auch dazu bei, die sonst sehr einseitig verurteilende Sicht des Lehrers auf die »verrohte« junge Generation mit einer Innenperspektive zu bereichern, in dem der Leser so ungefiltert das Denken und die Gefühle eines Vertreters dieser Generation kennenlernt. Als weitere Perspektive kommt Evas Geschichte hinzu, die der Lehrer so durch Zs Bericht erfährt. Außerdem wird durch den Bericht der Konflikte zwischen N und Z bereits Spannung aufgebaut, die dann nach dem Mord an N erst einmal eine falsche Fährte zu Z als möglichem Mörder legt. Dazu trägt auch maßgeblich die zweifache Morddrohung von Z im Tagebuch bei, zunächst gegen N (»Ich bring ihn noch um!«) und dann als allgemeine Drohung (»Jeder, der mein Kästchen anrührt, stirbt!«, S. 63/65)

Der Tagebucheintrag erzählt vor allem den Beginn des Verhältnisses von Z und Eva. Als weiteres Beispiel der von Brutalität und Gefühlskälte beherrschten jungen Generation ist auch dieses am Anfang keineswegs liebevoll, sondern von gegenseitiger Aggression und Gewalt geprägt. Diese Tatsache, sowie die Episode mit dem von Eva nach Z geworfenen Stein (»Wenn er meinen Kopf getroffen hätte, wär ich jetzt hin«, 61) und ihre Rolle als Kopf der Räuberbande, die der Lehrer durch den Tagebucheintrag durchschaut, bauen auch Eva als mögliche Verdächtige im sich anbahnenden Mordfall auf.

Im Umgang mit Eva und in seiner Reaktion auf ihr Schicksal zeigt Z ganz andere Seiten, als es der Lehrer bei der von ihm oft pauschal verurteilten gefühlskalten Jugend ohne Mitgefühl erwartet hätte. Auch dies zeigt seine herausgehobene Individualität. So reagiert er mit den Worten: »Und sie tat mir furchtbar leid und ich fühlte plötzlich, daß ich eine Seele habe« (64). Auch will er sie von nun an immer beschützen und für sie da sein. Auch Eva, die eigentlich durch Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Berechnung charakterisiert wird, spürt nach diesem Beweis der Anteilnahme und Liebe, dass sie eine Seele hat und zeigt Gefühle.

Die durch den Lehrer vorgenommene Assoziation des Liebespaares mit »Adam und Eva« zeigt seine einseitige Sicht auf Eva als Verführerin und deutet auch sein eigenes sexuell motiviertes Interesse an Eva an, dass nach der Lektüre des Tagebuches noch einmal stärker wird. »Grundsätzlich gehört die Sexualität im Roman zum Themenkomplex Sünde – Erbsünde – Schuld und zum Charakterwandel des Lehrers dazu. Der Lehrer begehrt Eva zuerst auch sexuell. Seine Gefühle wandeln sich aber nach und nach in fürsorgliche« (Kaul/Pahmeier, S. 43).

Auch das nächste Kapitel beginnt mit einer Wiederholung des Satzes, der das letzte Kapitel beendet hat (die rhetorische Wiederholungsfigur heißt Anadiplose). Noch hält der Lehrer die Morddrohungen Zs gegen jeden, der sein Kästchen anrührt, für »Kindereien«, doch schon kurz nachdem das von ihm selbst aufgebrochene Kästchen, das er nicht mehr wieder verschließen konnte, entdeckt wurde, kommt es zur ersten Tätlichkeit von Z gegen N. Dem Lehrer wird sehr schnell der Ernst der Lage bewusst: »Ich fühle, der Z könnte den N umbringen« (66) und obwohl er N noch Hilfe zusagt gegen die falsche Verdächtigung, die ihn in Lebensgefahr bringt, weiß er schon jetzt: »Ich weiß, ich habe den N verurteilt« (ebd.).

Hier tritt wieder das Motiv der Schuld auf: »Wie ein Raubvogel zieht die Schuld ihre Kreise. Sie packt uns rasch« (ebd.). Der Lehrer reflektiert die Gründe, warum er nicht zugibt, dass er es war, der das Kästchen aufgebrochen hat und so die Situation aufklärt und den Schüler N entlastet. Und er muss sich seine eigene Scham und Feigheit eingestehen. Mit seinem Schweigen setzt er eine »Handlungskette bis zum Mord in Gang« (Patzer, S. 67) und lässt zu, dass ein Unschuldiger, in diesem Fall N, verurteilt wird. Später im Prozess, unter dem Eindruck seiner Begegnung mit Gott, trifft er dann in einer ähnlichen Situation eine andere Entscheidung. Jetzt aber denkt er an den »schrecklichen Gott« und will diesem »einen Strich durch die Rechnung machen» (67). Er will sich also mit seinem freien Willen selbst zu einer Art Gott machen und das Schicksal der Menschen lenken. So will er dafür sorgen, dass Z und Eva nicht verhaftet, sondern nur von ihm im persönlichen Gespräch verwarnt werden. So will er alle retten. »Erst später merkt er, dass er das nicht kann, er braucht Gottes Hilfe.« Erst als Gott ihm erscheint, zuerst im Ferienlager [...], vor allem aber als Stimme im Tabakladen, ordnet sich der Lehrer Gott unter. Erst jetzt erkennt er nicht nur seine Schuld an, sondern nimmt auch die Sühne auf sich« (Patzer, S. 69).

Am Ende des Kapitels wird noch einmal das Motiv der Fischaugen aufgegriffen. Wie schon beim Begräbnis des W, wird der Lehrer von T aus hellen runden Augen angestarrt und er scheint mehr zu wissen über das Geheimnis des Lehrers.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.