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Jugend ohne Gott

Interpretation

Aufgrund der Vielschichtigkeit des Romans, seiner Erzählebenen, Motive und Handlungsstrukturen, lässt sich der Roman auch in mehrere Richtungen interpretieren. Dies wird auch an der großen Bandbreite an Kritiken und Rezensionen in der Wirkungsgeschichte seit der Erstveröffentlichung deutlich, die teilweise sehr unterschiedliche Ansätze verfolgen. Dies reicht von der Deutung als rein politisch ausgerichteter Faschismuskritik, bis zur metaphysisch-religiösen Erweckungsgeschichte und zum spannenden Detektivroman.

Ein Detektivroman

Die auffälligste Handlungsstruktur, die sich am deutlichsten belegen lässt, ist die von »Jugend ohne Gott« als Detektivroman. Vor allem der dritte und vierte Abschnitt des Romans, beginnend mit dem Mord an N, weist alle Charakterisiken eines Detektivromans auf. Es weist das »›herkömmliche Strukturmuster Mordrätsel - Fahndung - Aufklärung‹ auf, verfährt also nach dem Modell des Detektivromans« (Spies, Bernhard: Der Faschisus als Mordfall, in Kastberger/Polt-Heinzl, S. 125).

Allerdings lässt sich auch der gesamte Roman als Detektivgeschichte verstehen, wenn man als Ursache des Verbrechens die Verrohung der Jugend aufgrund ihres Aufwachsens mit einer unmenschlichen, faschistischen Ideologie annimmt.

Folgende Kennzeichen der klassischen Detektivgeschichte finden sich in »Jugend ohne Gott«:

Der Mord an N stellt das Verbrechen dar. Im zweiten Schritt finden die ersten Untersuchungen der Mordkommission statt mit Verhören und der Aufnahme von Beweisen und Indizien am Tatort.

Es folgt der Mordprozess mit Aussagen des Angeklagten sowie aller Zeugen und einer Rekonstruktion der Tat. In diesem erhält der Lehrer auch den Anstoß, eigene Nachforschungen anzustellen, um den wahren Täter T zu überführen und Eva vor einer Verurteilung zu bewahren. 

Es folgen Recherchen des Lehrers in der Rolle des Detektivs, ein Gespräch mit T mit dem Ziel, ihn zu überführen, außerdem die Nachforschungen seiner Helfer, Julius Caesar und Schüler B mit seinem Klub. Der Täter fühlt sich schließlich in die Enge getrieben und nimmt sich das Leben. Die Überführung des Täters geschieht während der Vernehmung des Lehrers durch das Auftauchen eines Zettels mit dessen Geständnis.

Höhepunkte der Detektivstruktur sind der Mord und die Überführung des Mörders. Der Spannungsbogen, der die Detektivgeschichte umfasst, wird jedoch schon vor dem Verbrechen beispielsweise durch die gefühlskalte und aggressive Stimmung an der Schule, das Leitmotiv der starren, glanzlosen Fischaugen, durch den Raubüberfall auf die alte Frau, die Diebstähle im Lager und die Morddrohungen im Tagebuch von Z vorbereitet. Auch kommt es zu einigen »falschen Fährten« mit Hilfe bestimmter Indizien und durch »überraschende Wendungen« (Schlemmer, S. 36). So scheinen erst einige Hinweise auf Z als Täter hinzuweisen (die Morddrohungen im Tagebuch, die zerkratzten Hände und zerrissene Kleidung nach seiner Rückkehr vom Ausflug). Auch auf Eva wird durch ihre Brutalität bei dem vom Lehrer beobachteten Überfall auf die alte Frau und den Stein, den sie Z an den Kopf geworfen hat, verdächtig. Auch sind einige »überraschende Wendungen« in der Detektivgeschichte enthalten: »die Aussagen des Lehrers und Evas vor Gericht, das Auftreten des Klubs, das Eingreifen Caesars und die Umstände, unter denen der unterschlagene Teil des Abschiedsbriefes entdeckt wird« (Schlemmer, S. 36).

Allerdings ist die Zielrichtung des verwendeten Musters des Kriminalromans für Horváth nicht nur die, individuelle Verfehlungen der Menschen zu zeigen, die an einem Verbrechen mehr oder weniger schuldig werden, vielmehr möchte er damit die »moralische Verfasstheit der faschistischen Gesellschaf aufdecken (vgl. ebd., S. 122).

Gerade die detektivische Grundstruktur des Romans ist es, die ihn heute noch für Schüler so spannend und vordergründig einfach lesbar macht. Laut einem Interpretationsansatz von Adolf Hasslinger ist die Funktion der Detektiv-Struktur, alle anderen Handlungsstrukturen zu integrieren und zu einem spannenden Höhepunkt zu führen. Dabei wird dann der Mord zum »intensivsten Vorwurf an den Menschen in diesem Zeitalter der Fische und im religiösen Sinne zur Heimsuchung Gottes« (Hasslinger, Adolf: Ödön von Horváths »Jugend ohne Gott« als Detektivroman, in: Schlemmer, S. 14).

Sozialkritisch-politische Faschismuskritik

Die Interpretation als sozialkritischer, antifaschistischer Roman bezieht sich vor allem auf einige Themenbereiche, die »Jugend ohne Gott« entweder insgesamt durchziehen oder aber in einigen Abschnitten des Romans vorherrschend sind. Die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen wurde zur Zeit der Entstehung vor allem in den Zeitungen der deutschen Exilanten auf das nationalsozialistische Deutschland bezogen, in dem der Autor ja bis 1935 immer wieder und für längere Zeit gelebt hatte. Die Aktualität der sozialkritisch-politischen Deutungsebene des Romans, die ihn auch für heutige Leser weiterhin interessant macht, rührt aber eher daher, dass sich die gesellschaftspolitischen Aspekte auch ganz allgemein als Konflikt des einzelnen Individuums mit dem Leben in einem totalitären Staat verstehen lassen, in dem Moral, Wahrheit und die Stimme des Gewissens keinen Platz mehr haben.

Sozialkritische Elemente und Themen im Roman sind vor allem 

  • der Einfluss der faschistischen Ideologie eines autoritären Regimes auf das gesamte Leben der Menschen, vor allem jedoch sein Eingreifen in die Erziehung der Jugend. Das zeigt sich im Roman in der Schule, wo die Lehrer durch geheime Verordnungen angehalten werden, die Jugend moralisch zum Krieg zu erziehen (vgl. 17) und keine abweichende Meinung mehr geduldet wird. Verbreitet wird diese Ideologie vor allem durch die Massenmedien, Radio und Zeitungen. Ganz besonders auch im vormilitärischen Zeltlager, wo jede Abweichung, jeder Individualismus bereits als gefährlich wahrgenommen und mit Gewalt vergolten wird. All jene, die der menschenverachtenden Ideologie etwas entgegenzusetzen hätten, wie beispielsweise der Direktor und der Lehrer, tun dies nicht, aus einer Haltung, in der Angst und Opportunismus zusammenkommen. »So leistet auch die Schule bei Horváth ihren Beitrag zur geistigen und sittlichen Verwahrlosung der Jugend« (Tworek, Kommentar zu 146).
  • Die Familien werden allesamt (bis auf die Familie des früh verstorbenen W) als von Kälte, Desinteresse und Vernachlässigung geprägt dargestellt. In den Familien der überzeugten Regime-Anhänger, wie der Familie des Bäckermeisters N, herrscht zudem noch eine schon an der Sprache ablesbare Gewalt und die Tendenz, die Kinder zu Spitzeln für eigene politische Zwecke einzusetzen. »Die Familie als wichtigste Sozialisierungsinstanz hat nach Horváth versagt« (Schlemmer, S. 63). Dies macht die Jugend besonders anfällig für die Orientierung, die ihnen die totalitären Strukturen des faschistischen Systems bieten.
  • Im Gespräch mit dem Pfarrer wird die Rolle der Kirche im Staat angesprochen und die Frage ihrer Verpflichtung, sich um die Armen in der Gesellschaft zu kümmern.
  • Soziale Randgruppen wie die armen Heimarbeiterkinder und die Außenseiterin Eva und ihre Räuberbande.
  • Die Rolle der Frau in der totalitären Gesellschaft und die Konfrontation des alten mit dem neuen Frauenbild.
  • Die ganze Gesellschaft, vor allem aber die Welt der Jugendlichen ist von Gewalt geprägt; das erstreckt sich von der Menschenverachtung und Brutalität in der Sprache bis zum Umgang untereinander bis zum Mord, der in dieser Deutungslinie die Folge der inneren Kälte, Verohung und Vernachlässigung einer jungen Generation ist.

Auch die Heranziehung der römischen Geschichte als Vergleich zu den eigenen Zeitumständen dient der Bewusstmachung von Tendenzen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Dienste einer Kritik am aufkommenden Faschismus und eines totalitären Regimes. So geschieht es in »Jugend ohne Gott« im Gespräch zwischen dem Lehrer und dem Direktor, der immer wieder Exkurse in Epochen der römischen Geschichte anstellt und damit die Zeitumstände, in denen er lebt, besser verstehen und durchdringen will. »Wir leben in einer plebejischen Welt« (18), ist sein Fazit, mit dem er sich dem Zeitgeist beugt und sich diesem anpasst. Hinter dem immer wieder im Roman auftauchenden Motiv der Plebejer steht konkret die Kritik an den Anhängern des neuen Zeitgeistes, dem Aufstieg der Nationalsozialisten, der vom Mittelstand getragen und vom Großkapital unterstützt wird.

Während es immer wieder den Vorwurf gab, Horváth hätte mit seinen beiden letzten Romanen, darunter auch »Jugend ohne Gott« »sein sozialkritisches Engagement aufgegeben und sich resignativ in die eigene Innerlichkeit zurückgezogen oder sei in moralisch-religiöse Fragen ausgewichen« (Schlemmer S. 12), lässt sich der Roman in seiner sozialkritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft auch als dezidierte Faschismuskritik interpretieren. Gerade in der eindrücklichen Beschreibung, wie die totalitäre staatliche Propaganda mit den Familien und der Schule die komplette Erziehung der Jugend prägt und durchdringt, jeglichen Freiraum für eigenes, unabhängiges Denken oder individuelles Handeln verbietet oder sogar gewaltsam bekämpft und bestraft, werden die Wirkmechanismen des Lebens in einer faschistischen Gesellschaft sehr genau dargestellt. Zwei wichtige Themen, die für Horváth mit seinem Roman im Vordergrund standen, kennzeichnen ihn als antifaschistischen Roman mit deutlich sozialkritisch-politischer Ausrichtung: »Die ideologische und moralische Deformierung der Jugend im Faschismus [...] und die Überwindung opportunistischer Anpassung an den Faschismus« (Kaiser, in Krischke, S. 62).

Dabei steht für Horváth allerdings nicht eine reine Ausrichtung seiner Kritik am NS-Staat in Deutschland im Vordergrund, vielmehr skizziert er diese Zusammenhänge allgemeingültig für das Leben des Einzelnen in totalitären Systemen.

Und der Mord an N, wenn er auch nicht konkret in Zusammenhang mit der Ideologie des Regimes steht, kann als sozialkritscher Aspekt des Romans gelesen werden: 

    Ts kaltblūtiger Mord allein aus Interesse, einen Menschen sterben zu sehen, legt nahe, dass die totalitäre Ideologie des Regimes und der Verlust humaner Werte eine so große emotionale Kälte und Menschenverachtung zur Folge haben, dass manche Menschen letzlich ohne besonderen Grund töten. (Kaul/Pahmeier, S. 97/98)

Religiös-metaphysischer Roman

Im Mittelpunkt der Interpretation des Buches als religiös-metaphysischer Roman steht die Suche des Ich-Erzählers nach Gott und seine Rückkehr zum Glauben.

Die religiöse Thematik klingt schon im Titel an. Die junge Generation ist zunächst genauso gottesfern wie der Lehrer, der seinen Glauben in seiner Jugend während des Ersten Weltkriegs verloren hat. Später entstehen daraus jedoch zwei Kontrapunkte, da der Lehrer zum Glauben und damit auch zur Stimme seines Gewissens zurückfindet, die Jugend aber keine Werte wie Wahrheit oder Moral mehr kennt und ihre Orientierung nur noch an der Überhöhung der eigenen Nation und Stärke ausgerichtet ist.

    In »Jugend ohne Gott« ist die Suche der Hauptfigur nach Wahrheit eng mit der Suche nach Gott verbunden, daher wird auch die zeitkritische Perspektive des Buchs zunehmend von theologisch-metaphysischen Gedankengängen überlagert. (Tworek, Kommentar zu 148).

Die religiös-metaphysische Ebene des Romans vollzieht sich in vier Schritten:

  1. Zunächst befindet sich der Lehrer in einer Phase der Gottesferne, er hat seinen Glauben an einen guten Gott angesichts des Grauens des Ersten Weltkriegs verloren und seine Bedeutung geht nicht über die Floskeln in den Briefen seiner Eltern hinaus. Auch als der Pfarrer im gemeinsamen Gespräch über das Thema der Erbsünde Gott als »das Schrecklichste auf der Welt« bezeichnet, verstärkt sich beim Lehrer die Ablehnung und Leugnung Gottes.
  2. Bei dem sich andeutenden gewalttätigen Ende des Konfliktes zwischen den Schülern N und Z aufgrund des vom Lehrer aufgebrochenen Kästchens und der Reflexion seiner Mitschuld an dem, was kommen könnte, stellt der Lehrer dann das erste Mal fest: »Ja, Gott ist schrecklich« (67). Noch will er sich aber mit seinem freien Willen gegen ihn auflehnen. Erst als ihm nach dem Mord zusammen mit den Ermittlern der Mordkommission Gott im Zeltlager erscheint, erkennt er, dass dies nicht mögich ist.
  3. Diese Phase der Akzeptanz eines schrecklichen, strafenden Gottes dauert bis zum Gespräch des Erzählers im Tabakladen im Kapitel »In der Wohnung« an. Der Erzähler glaubt nun an Gott, er mag ihn aber nicht und vermutet, er habe »stechende, tückische Augen [...] – kalt, sehr kalt« (89).
    Im Tabakladen nach dem Gespräch mit dem alten Ehepaar hört er, als zweites Gotteserlebniss, die Stimme Gottes, der ihm befiehlt, im Prozess die Wahrheit über das Kästchen zu sagen, seine Schuld einzugestehen und die gerechte Strafe dafür auf sich zu nehmen.
  4. Die vierte Phase des Erzählers auf dem Weg zu Gott wird mit seinem Geständnis im Prozess eingeleitet, nach dem er sich leicht und befreit fühlt und sich nicht mehr vor Gott fürchtet (vgl. 96) Er fragt sich jetzt sogar, ob Gott nun auch bei ihm wohne, da er auf die Stimme seines Gewissens gehört hat und zu einem Leben in Wahrheit und dem Einsatz für Gerechtigkeit zurückgekehrt ist. Seine bisherige Passivität, auf die er nur durch einen inneren Zynismus und Unzufriedenheit reagieren konnte, verwandelt sich in Engagement für seine Mitmenschen und inneren Aufbruch.
    Der Höhepunkt seiner Rückkehr zu Gott ist dann in seinem dritten Gotteserlebnis erreicht, als er bei der Enthüllung des ganzen Geständnisses des Schülers T in den Augen seiner Mutter »andere Augen«, die Augen Gottes erkennt, die zu ihm hereinblicken und die jetzt keine »tückischen, stechenden Augen« mehr sind. Nun weiß er: »Gott ist die Wahrheit« (141).

»Verbunden mit der religiösen Struktur ist eine zweifache Veränderung des Lehrers und Erzählers: einmal ein Wandel in seiner Einstellung zu Gott und daraus folgend eine Veränderung im Verhältnis zu seiner Umgebung« (Schlemmer, S. 37).
Zum Verständnis der Interpretation des Romans als einer metaphysischen Auseinandersetzung mit Gott ist ein Verweis auf den autobiografischen Hintergrund des Autors hilfreich. Auch dieser setzte sich mit einem Gefühl von Schuld, von mangelnder Aufrichtigkeit, mit zu langer Anpassung und Mitläufertum an unmoralische und verabscheuungswürdige Umstände auseinander. Er war 1934 noch einmal nach Deutschland zurückgekehrt und hatte bis 1935 versucht, sich aus finanziellen Gründen, um seine Existenz zu sichern, mit dem NS-Regime soweit zu arrangieren, dass er dort zumindest als Autor in der Filmbranche tätig sein konnte, wenn auch Aufführungen seiner Theaterstücke, auf die er gehofft hatte, weiterhin verboten blieben. Erst 1937 distanzierte er sich in deutlichen Worten von dieser Zeit und auch den Werken, die in ihr entstanden waren. In der lange zwischen Anpassung und Widerstand schwankenden Figur des Lehrers in »Jugend ohne Gott« ist auch seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Opportunismus und der Rückkehr zur Stimme des eigenen Gewissens und zu einem Leben in Wahrheit und Moral zu sehen.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.