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Jugend ohne Gott

Kapitel 21 + 22: »Der letzte Tag« und »Die Mitarbeiter«

Zusammenfassung

Am nächsten Tag erscheinen zwei Waldarbeiter im Lager, die unweit der Höhlen die Leiche eines Jungen gefunden haben. Er hat eine Kopfverletzung und ist wohl mit einem Stein oder einem anderen stumpfen Gegenstand erschlagen worden.
Die herbeigerufene Mordkommission findet schließlich die Tatwaffe, einen blutigen Stein, außerdem einen Bleistift und einen Kompass. Sie nehmen außerdem an, dass er erst nach der Tat in den Graben geschleift worden war. Ein Arzt stellt fest, dass der Stein N »mit großer Wucht aus nächster Nähe« (76) habe und dass der Mord hinterrücks und daher heimtükisch geschehen sei. Außerdem muss dem Mord ein Kampf vorausgegangen sein, da N zerkratzte Hände und zerrissene Kleidung aufweist.

Dem Lehrer fallen diese Parallelen zum Zustand der Hände und der Kleidung von Z auf, er informiert die Ermittler der Mordkommission, die zur Befragung der Schüler ins Lager kommen, jedoch nicht darüber, da er sich selbst mitschuldig fühlt. Für ihn ist der Mord an N und das Erscheinen der Mordkommission auch mit einem Eingreifen des schrecklichen Gottes verbunden, von dem der Pfarrer sprach.

Als schließlich der Zeltkamerad von N und Z, R, aufgeregt aussagt, dass die beiden sich immer gestritten hätten und dass N das Kästchen Zs aufgebrochen und sein Tagebuch gelesen habe und Z ihm deshalb todfeind war, gesteht Z schließlich weinend die Tat.

Monate später, inzwischen ist es Herbst, steht der Prozessauftakt kurz bevor. Der Lehrer sitzt in einem Café und liest die Zeitungsberichte über die Tat und den am nächsten Tag beginnenden Mordprozess. Auch der Lehrer hat dafür einer Zeitung ein Interview gegeben, in dem er angibt, dass ihm die Tat ein Rätsel sei, da bei Schüler Z nichts auf eine solche Tat hingewiesen hätte. Der Lehrer gibt sich sehr angepasst und systemkonform, indem er auch jegliche allgemeine Verrohung der Jugend als Grund für die Tat verneint und ihr dagegen, als positive Folge der aktuellen politischen Lage, Pflichtbewusstsein und Aufopferungsfreude attestiert (vgl. 78/79). Den Mord bezeichnet er daher nur als Einzelfall, als »Rückfall in schlimmste liberalistische Zeiten« (ebd.).

Der Feldwebel gibt im Interview an, er halte mangelnde Disziplin für die Ursache des Mordes. In einem anderen Artikel äußern sich die Eltern des Mordopfers N, wobei der Bäckermeister N dem Lehrer die Schuld gibt, dessen Opfer sein Sohn geworden sei. Er fordert eine Überprüfung des Lehrpersonals, da sich hier noch viele Staatsfeinde versteckt hielten. Die Mutter von N ist mit ihrem Sohn über einen »spiritistischen Zirkel« (80) noch immer in Kontakt.
Die Mutter von Z, Witwe eines angesehenen Universitätsprofessors für Physiologie, weigerte sich, mit den Journalisten zu sprechen.

Der Verteider von Z, ein junger, engagierter Anwalt, hält seinen Mandaten für unschuldig und geht davon aus, dass er das Mädchen deckt, da sein angegebenes Motiv für die Tat vor allem Rache für das heimlich gelesene Tagebuch sei, in dem er von seiner Affäre mit dem Mädchen geschrieben habe. Außerdem mache der Angeklagte keine Angaben zur Tat und sage aus, er könne sich nicht mehr erinnern. Nur die vorhergegangene Rauferei, von der auch die zerkratzten Hände und die zerrissene Kleidung stammen, könne er in allen Einzelheiten beschreiben. Dem Mädchen, das der Anwalt für die eigentliche Täterin hält, sei der Angeklagte dagegen hörig und werde von ihr beherrscht (vgl. 82). Der Anwalt rechnet mit einem Prozess von zwei bis drei Tagen, an dessen Ende der Angeklagte maximal wegen Diebstahlsbegünstigung verurteilt wird und in dem auch Eva als Zeugin auftreten werde.

Analyse

Das nächste Kapitel ist das letzte im zweiten Handlungsabschnitt, in dem es den letzten Tag im Zeltlager schildert. Außerdem bringt es zwei Höhepunkte, einen auf der inneren und einen auf der äußeren Handlungsebene. In der äußeren Handlung endet das Kapitel mit dem Auffinden der Leiche des ermordeten Schülers N. Auch am Ende des ersten Handlungsabschnittes stand ein Tod, mit dem Sterben und dem Begräbnis des Schülers W. Auf der Ebene der inneren Handlung markiert das Erscheinen Gottes den Höhepunkt dieses zweiten Abschnittes.

Der aufgefundene Leichnam des Schülers N weist dieselben zerkratzten Hände und die zerrissene Kleidung auf, die dem Lehrer bereits beim Schüler Z nach dessen Rückkehr vom verhängnisvollen Ausflug aufgefallen war. Dennoch sagt er der im Lager ermittelnden Mordkommission nichts davon und versucht Z damit zu schützen, denn er ist sich sehr deutlich bewusst, dass er selbst auch Schuld an dem Geschehenen trägt, selbst wenn es keine äußeren Hinweise darauf bei ihm gibt. Der unvermittelte Tempuswechsel in dem ganz im Präteritum stehenden Bericht von den Untersuchungen am Tatort und im Zeltlager weist auf die Deutlichkeit dieses Eingeständnisses durch das erlebende Ich hin (vgl. 77).

Ein Hinweis auf die Thematik der Schuld und der göttlichen Strafe in diesem Kapitel ist auch die Kapitelüberschrift »Der letzte Tag«. Diese hat eine doppelte Bedeutung. So bezieht sie sich zum einen konkret auf den letzten Tag des Zeltlagers, verweist aber im übertragenen Sinne auf den Tag des biblischen Jüngsten Gerichts, an dem Gott sein Urteil fällt und richtet. So ist es hier auch der alttestamentliche, strafende Gott, der dem Lehrer im Zeltlager erscheint und den Schüler R dazu bringt, eine Aussage zu machen, die Z schwer belastet, der daraufhin ein falsches Geständnis ablegt. Gott »lächelt« daraufhin. »Erneut entlastet der Lehrer sich selbst durch die Vorstellung eines strafenden, schrecklichen, unergründlichen Gottes, der letztlich für das leidvolle Geschehen vermeintlich verantwortlich ist« (Kaul/Pahmeier, S. 49).

Zwischen dem Ende des Zeltlagers und damit dem Ende des zweiten Handlungsabschnittes und dem Beginn des dritten Abschnittes, der den Gerichtsprozess umfasst, liegt ein nicht näher definierter zeitlicher Abschnitt von einigen Monaten, denn fand das Zeltlager nach Ostern statt, so ist es nun »Herbst geworden« (78). Mit diesem Kapitel beginnt der dritte Handlungsabschnitt des Romans, der ganz vom Gerichtsprozess bestimmt ist. Das Kapitel versammelt Stimmen aus Interviews mit Zeugen und Beteiligten des am nächsten Tag beginnenden Gerichtsprozesses gegen den vermeintlichen Mörder Z, die der Lehrer in verschiedenen Zeitungen liest. Gefiltert durch den sie wiedergeben den Lehrer und kommentiert von seinen Reflexionen, kommen auf diese Weise ein weiteres Mal andere Stimmen und Perspektiven in den Roman und erweitern die eingeschränkte Sicht des Ich-Erzählers.

Darunter ist als erste Stimme die des Lehrers selbst in einem Zeitungsinterview, in dem er jedoch vorgibt, eine völlig andere Meinung zu vertreten und die ein Abbild seines angepassten Mitläufertums ist. So verneint er die von ihm im inneren Monolog immer wieder kritisierte »Verrohung der Jugend« nun auf einmal als Ursache der Tat und wiederholt sogar Phrasen der faschistischen Terminologie (die wiederum Anleihen des NS-Jargons sind). Er spricht von der »allgemeinen Gesundung« bei der Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage und von einem »Rückfall in schlimmste liberalistische Zeiten« (79), wenn er von dem Mord spricht. Dieses Interview stellt einen Höhepunkt seiner Anpassung an das totalitäre System dar, mit dem er der Stimme seines eigenen Gewissens völlig zuwiderhandelt und damit weitere Schuld auf sich lädt.

Die weiteren Artikel und Interviews sind geprägt von der ideologisch gefärbten Sprache und zeigen ein weiteres Mal die massenmediale Beeinflussung der Bevölkerung im totalitären Staat auf. So spricht der Bäckermeister von einer »Durchsiebung des Lehrpersonals« zur Aufdeckung von »getarnten Staatsfeinden« (80). Er wird auch wieder charakterisiert durch seinen aufgesetzten Bildungsjargon, indem er sein Interview mit lateinischen Zitaten und literarischen Anspielungen schmückt.

Der junge Verteidiger des Angeklagten weist schon auf den Prozess hin, indem er in seinem Interview die These von der Schuld Evas vertritt, die der Angeklagte Z nur decken wolle. Der Lehrer vermisst dagegen in all diesen Stimmen eine, die von Gott spricht, von einer moralischen Instanz, die über die Phrasen der politischen Ideologie hinausweist.

Veröffentlicht am 25. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 25. Oktober 2023.